Angst macht große Augen. L.U. Ulder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: L.U. Ulder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738016017
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verformender Knochen und nahm den Geschmack von Blut in ihrem Mund wahr. Unmengen von Blut, so kam es ihr vor, schienen sich im Mund zu sammeln. Reflexartig schluckte sie es hinunter. Langsam rutschte sie an der Wand nach unten. Das Geräusch splitternden Holzes und Gebrülle drang noch gedämpft an ihre Ohren, bevor ihre Wahrnehmung völlig eintrübte.

       *****

      Der Mann, der Valerie im Vorbeigehen den ersten Faustschlag versetzt hatte, hielt sich nicht lange auf. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Beim dritten Mal gab die Zarge nach und die Tür flog auf. Krachend schlug sie in der Wohnung gegen die Wand. Hinter einer Tür mit Milchglaseinsatz sah er Bewegungen und lief durch den schmalen Flur. Auch diese Tür war verschlossen. Er schaffte es, die Tür aufzutreten, bis sie einen spaltbreit offenstand. Sie ließ sich aber nicht weiter aufdrücken, weil ein schwerer Gegenstand davor geschoben worden war. Wieder brüllte der Mann etwas auf russisch. Ein zweiter Mann kam ihm zu Hilfe. Während sie gemeinsam die Tür Stück für Stück gegen den Widerstand aufbekamen, hörten sie in dem Raum hektisches Gepolter. Endlich war der Spalt breit genug, um sich in das Zimmer zu zwängen. Am Ende des kleinen Raums stand die Tür zum Balkon offen, die lange Gardine bewegte sich in einem Luftzug. Mit riesigen Schritten war der Mann auf dem Balkon und schaute über das Geländer. Er konnte gerade noch sehen, wie eine Gestalt mit dunklem Haarschopf über die Grünfläche lief und hinter Büschen und Bäumen verschwand.

      *****

      Azamat hatte sich allein in der Wohnung seiner Bekannten aufgehalten und war auf der Toilette. Auf dem Weg zurück in das Wohnzimmer machte er einen Abstecher in die winzige Küche der schlichten Dreizimmerwohnung, um sich ein Glas Wasser zu holen. Die Eheleute hielten sich schon länger in Deutschland auf und waren als Asylbewerber eingereist. Sie waren mit Dehlis Eltern befreundet gewesen und weil sie nicht wie Azamat die illegale Einreise über die Schlepperbande gewählt hatten, gab es keine bekannten Berührungspunkte zwischen ihnen und den Verbrechern, deshalb fühlte er sich bei ihnen sicher. Eher beiläufig ging sein Blick hinaus aus dem Fenster. Dabei fiel ihm der große Geländewagen auf, der auf der anderen Seite der Straße entgegen der Fahrtrichtung stand. Er sah die beiden Frauen, eine von ihnen war klein und offenbar schwanger, sie wirkte osteuropäisch, die andere war groß mit langem, brünetten Haar, elegant gekleidet. Optisch passten die beiden Personen nicht zusammen, vielleicht war deshalb seine Neugier geweckt und sein Blick verweilte länger auf ihnen. Die Schwangere gestikulierte temperamentvoll mit den Händen. Er beobachtete, wie sie schließlich auf den Hauseingang zugingen. Azamat wollte schon den Kopf wegdrehen, um gewohnheitsmäßig noch einmal zum Türspion im Flur zu gehen, als er die Männer sah, die einer dunklen Limousine auf dem großen Parkplatz entstiegen. Eine Szene wie aus einem schlechten Film, lange schwarze Lederjacken und schwarze Hosen, dazu bullige Figuren und Gesichter mit brutalen Zügen. Elektrisiert beobachtete er, wie sich die Typen ebenfalls dem Haus näherten und verschenkte so wertvolle Zeit, wie er sich gleich darauf einstehen musste. Als er sich endlich losreißen konnte und zur Wohnungstür lief, hatte er keine Chance mehr, die Wohnung zu verlassen und in dem Hausflur nach oben zu fliehen. Panisch ging er seine Möglichkeiten durch, es blieb nur die Flucht über den Balkon. Gegen die mit Sicherheit bewaffneten Männer würde er keine Chance haben.

      Im Treppenhaus wurde es plötzlich lauter, er hörte eine ihm fremde Frauenstimme, die etwas rief, das er nicht verstand. Schnell verschloss er die Wohnzimmertür. Das in seinen Adern einströmende Adrenalin gab ihm die Kraft, einen schweren Schreibtisch vor die Tür zu wuchten. Sein Bein stieß bei seinen Anstrengungen heftig gegen den Couchtisch. Eines der beiden Handys auf dem Tisch rutschte von dem Anstoß über die glatte Oberfläche und fiel nach unten auf den Teppichläufer. Das kaum hörbare Poltern ging unter in dem wütenden Bollern des Mannes, der sich zur gleichen Zeit an der Eingangstür zu schaffen machte. Es würde nur Sekunden dauern, bis sie an dieser Zimmertür standen, das war Azamat klar, und die würde genauso schnell ihren Widerstand aufgeben. Er griff, ohne genau hinzusehen, nach dem Handy auf dem Tisch und rannte zum Balkon. Hinter sich konnte er bereits seine Verfolger an der Sperre wüten hören. Die Wohnung befand sich im ersten Stock, der Blick nach unten offenbarte eine beeindruckende Höhe, die jedoch mit jedem Geräusch in seinem Rücken ihre Gefährlichkeit verlor. Mit einem Blick in die Runde vergewisserte er sich, dass in direkter Nähe kein Wachposten zu sehen war, der genau diesen Fluchtweg überwachte. Also kletterte er über die Brüstung, hangelte sich an der Eckstange der Balkonverkleidung nach unten, um die Sprunghöhe zu verringern, bis er mit seinen Händen am unteren Ende des Balkons hing. Weil er jeden Moment mit seinen schweißnassen Fingern abzurutschen drohte, stieß er sich ab. Der Aufprall auf dem Rasen war weicher, als er befürchtet hatte. Er ließ sich abrollen und sprang sofort auf. Da er in der Gegend fremd war, musste er sich zunächst orientieren und entschied sich, nach rechts zu laufen, in der Hoffnung, so schnell wie möglich aus der Sicht zu geraten.

       *****

      Valerie nahm das Geschehen um sich herum nur noch gedämpft war, so als befände sie sich unter einer dicken Watteschicht, die ihr die Orientierung nahm. Sie versuchte fieberhaft, ihre Gedanken zu sortieren, versuchte zu ergründen, warum sie wie in einem schlimmen Alptraum nahezu bewegungsunfähig war. Es gelang ihr nur bruchstückhaft. Schmerzen verspürte sie keine, obwohl etwas mit ihrem rechten Auge nicht in Ordnung schien und sie immer weniger damit sehen konnte. Im Mund schmeckte sie ihr Blut. Sie lehnte halb liegend und verdreht an der Wand im Treppenhaus und versuchte, ihre Position zu verändern. Wie in Zeitlupe drehte sie den Oberkörper, bis sie kniete und sich dabei auf den Händen abstützte. Ihr Sichtfeld beschränkte sich auf den verschwommen wirkenden Fußboden unter den Händen, die langen Haare hingen wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht. Die Männer im Hausflur, es mussten mehr sein als die, die sie zuvor gesehen hatte, waren aufgeregt. Sie brüllten in einer fremden, hart klingenden Sprache durcheinander. Jemand lief nach unten, ihr war, als hörte sie kurze, schnelle Schritte, die sich entfernten. Valerie kroch von der Wand weg zum Treppengeländer, um etwas zu haben, an dem sie sich festhalten und hochziehen konnte. Mitten in dieser Anstrengung, eine Hand befand sich noch auf dem Boden, erhielt sie einen wuchtigen Tritt in ihren Unterleib. Sie hörte ihren eigenen Schmerzensschrei und spürte, wie ihr Körper angehoben wurde und wie in Zeitlupe zur Seite auf den Rücken fiel. Es kam ihr für einen Moment vor, als hätte sie ihren eigenen Körper verlassen und beobachtete die Szene von oben. Völlig kraftlos und nach Luft schnappend blieb sie vor der nach unten führenden Treppe liegen. Über ihrem Kopf verdunkelte sich ihr verschwommenes Sichtfeld. Jemand bückte sich so dicht über sie, dass sie den fremden Atem wahrnahm.

      „Du Dreckschlampe hast ihn gewarnt. Dafür nehmen wir dich mit und machen dich kaputt.“

      Eine Faust griff in ihre Haare und riss brutal an. Schlagartig meldeten sich die Schmerzen zurück. Die Detektivin schrie laut auf, während sie an den Haaren die Treppe nach unten gezogen wurde. Steißbein, Gesäß und Knöchel knallten schmerzhaft über jede einzelne Stufenkante. Ihre Arme ruderten, ohne Halt zu finden in der Luft, bis endlich der Mittelabsatz der Treppe erreicht war.

      Ein lautes Gebrüll in der fremden Sprache war in unmittelbarer Nähe zu hören. Der Typ, der immer noch ihre Haare wie in einem Schraubstock festhielt und sie so in eine unnatürliche Position zwang und ein anderer Kerl, der oben in der Wohnung gewesen sein musste, brüllten sich an.

      Valerie war durch die Schmerzen völlig benommen.

      Unvermittelt wurde sie an den Haaren hochgerissen, bis ihr Gesicht in der Höhe des Oberschenkels des Mannes pendelte. Sein Kopf kam nach unten und er schleuderte ihr von Spucketropfen begleitete Worte entgegen, die sie nicht verstand. Er stieß sie von sich weg und sie kam seitlich an der Wand zu liegen. Von oben kam der Mann die Treppe herunter, der mit ihrem Drangsalierer die heftige Diskussion geführt hatte, reflexartig zog sie den Kopf ein und schützte ihn mit den Armen, um ihn vor möglichen Tritten zu schützen.

      Aber nichts dergleichen geschah. Der Mann hastete vorbei, brüllte seinem Begleiter etwas zu, dann verschwanden die Trittgeräusche nach unten. Nachdem die schwere Eingangstür ins Schloss fiel, herrschte gespenstische Stille im Treppenhaus. Ungewöhnliche Stille, eigentlich hätten längst Anwohner auf den Lärm aufmerksam werden müssen.

      Das Auto, schoss es Valerie durch den Kopf. Ich muss sehen, welches Auto sie fahren.

      Es