Angst macht große Augen. L.U. Ulder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: L.U. Ulder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738016017
Скачать книгу
hatte. Sie drehte sich und bewegte sich unsicher auf wackligen Beinen zum Fenster. Die Straße unter ihr lag verlassen da, nur ihr eigener Wagen parkte noch auf der gegenüberliegenden Seite. Die Unbekannten waren längst verschwunden. Sicher auf der Suche nach dem Mann, den sie durch ihre Hilfe erst gefunden und dem anscheinend, so deutete sie die Reaktionen, gerade noch die Flucht gelungen war. Obwohl ihr Körper rebellierte und sie sich vor Schmerzen kaum auf den Beinen halten konnte, trieb es sie nach oben. Valerie musste sich nach dem Auftritt der Unbekannten unbedingt vergewissern, dass niemand mehr in der Wohnung war, der Hilfe benötigte. Erst als sie sich am Geländer treppauf zog, fielen ihr die Blutflecken auf dem Boden auf, ihr Blut. Sie schaute sich um und sah, dass sie auch die Wand am Fenster verschmiert hatte. Wie zur Vergewisserung tastete sie über ihr Gesicht, fühlte schmerzerfüllt die Schwellungen und stellte erschrocken fest, dass anschließend die gesamte Handinnenfläche blutbeschmiert war.

      „Hallo?“

      Keine Antwort.

      Vorsichtig und mit einem mulmigen Gefühl, sich dabei mit dem Ellenbogen an der Wand abstützend, betrat sie die fremde Wohnung. Alle Türen, die von dem kleinen Flur abgingen, standen offen, die Räume waren menschenleer. Zuletzt schob sie sich durch den Türspalt in das Wohnzimmer, der Schreibtisch stand immer noch im Weg. Sie schaute sich um, die klassische Einrichtung, Sitzgruppe, Tisch, Schrankwand. Die ganze Wohnung war leer. Die von einem Luftzug aufwehende Gardine ließ sie erschrocken zusammenzucken. Die Tür zum Balkon stand offen, damit war klar, wie es diesem angeblichen Azamat gelungen war zu flüchten.

      Die Detektivin ging unsicher durch den Raum und trat hinaus auf den Balkon. Sie beugte sich über die Brüstung. Obwohl die Wohnung nur im ersten Stock war, schauderte es ihr bei einem Blick nach unten.

       Was waren das für Männer? Waren es wirklich die Brüder ihrer Auftraggeberin gewesen?

      Sie ließ die Unterhaltung mit der Frau Revue passieren. Beim ersten Treffen hatte sie sehr gebrochen deutsch gesprochen, eben, unten an der Straße, konnte sie es beinahe fließend, nahezu ohne erkennbaren Dialekt.

      Sie schüttelte verärgert den Kopf, das heißt, sie wollte es tun. Die Schmerzen veranlassten sie ganz schnell, hastige Bewegungen zu unterlassen. Eines war klar, die Frau hatte sie vorgeführt, eindeutig. Benutzt, um diese andere unbekannte Person zu finden. Die Auftraggeberin hatte unbedingt verhindern wollen, dass sie mit zur Wohnung des Gesuchten kam, so als sollte die Anwesenheit einer Zeugin verhindert werden.

      Azamat hieß der Mann, den sie suchte. Solch einen Namen hatte sie noch nie gehört.

       Aber war es überhaupt der richtige Name, den sie durch das Treppenhaus gebrüllt hatte? Was wurde hier gespielt? Warum springt jemand auf der Flucht von einem Balkon, doch wohl nur in Todesangst?

      Valerie fasste sich wieder an den Kopf, in dem sich immer heftigere Schmerzen bemerkbar machten. Im Moment war sie nicht in der Lage, das Geschehen zu analysieren, musste sie sich eingestehen.

      Sie ging in den Flur zurück, wenigstens die Funktionsfähigkeit der Beine kehrte zurück, die Schritte wurden sicherer. Zielstrebig suchte sie nach dem Badezimmer, weil ihr klar war, dass sie in diesem Zustand nicht hinunter auf die Straße konnte.

      Obwohl sie auf Schlimmes gefasst war, war der Blick in den Spiegel ein Schock für sie.

      Das rechte Auge war fast völlig zugeschwollen, die Haut drumherum dunkel gerötet, es sah aus, als säße ein riesiger Ball anstelle eines Auges unter Haut. Die Nase war ebenso rot, am rechten Nasenflügel war ein Riss in der Haut, immerhin hatte die Blutung aufgehört. Ein Riss im rechten Mundwinkel, der bei der ersten Berührung wieder zu bluten anfing. Die gesamte Wangenpartie war angeschwollen und wirkte dadurch eigenartig schief, als hätte sie einen Schlaganfall erlitten. Durch die verschmierten Blutspuren kam ihr das eigene Gesicht wie das eines Zombies vor. Sie zog vorsichtig die Lippen hoch und fuhr mit den Fingerspitzen die Zähne entlang, wenigstens schienen noch alle festzusitzen, obwohl ihr vorhin das Gefühl etwas anderes suggeriert hatte. Valerie rückte dichter an den Spiegel vor und schob sich ihre Bluse hoch, um den Oberkörper zu überprüfen. Der Fußtritt hatte eine Abschürfung am linken Rippenbogen hinterlassen, ein leichter Druck auf diese Stelle und sie verzog sofort das Gesicht, weil sich der Schmerz wie Nadelstiche durch die Haut bohrte.

      Mit befeuchtetem Toilettenpapier säuberte sie sich so gut es ging und stöberte ein letztes Mal durch die Wohnung. Sie wirkte aufgeräumt und seltsam steril, fast geschlechtslos. Kein Hinweis darauf, ob hier ein Ehepaar oder gar Kinder wohnten. Keinerlei Dekoration oder persönliche Accessoires, die eine persönliche Note verraten könnten.

      Im Schlafzimmer ein gemachtes Doppelbett, akkurat waren Kopfkissen und Bettdecken glattgestrichen. Eine zusätzliche Matratze lehnte wie versteckt an der Wand hinter der Tür. Schlief auf ihr dieser Azamat, vielleicht im Wohnzimmer? In einem weiteren, schmucklosen Raum standen zwei Einzelbetten, groß genug für Erwachsene, rechts und links an die Wand geschoben, damit ein schmaler Weg zum Fenster verblieb. Valerie realisierte, dass sie so, ohne weitere Ermittlungen, keinerlei Hinweise auf die hier lebenden Personen erlangen konnte. Sie griff nach ihrem Handy und wählte Azamats Nummer, vielleicht hatte er es eingeschaltet. Der Ruf ging raus. Verblüfft stellte sie fest, dass es im Wohnzimmer klingelte. Die Detektivin runzelte die Stirn. Sie ließ die Verbindung bestehen und ging hinüber in den Raum, konnte das Gerät aber auf keinem der Möbel entdecken. Suchend wanderte ihr Blick durch das Zimmer, das gedämpfte Geräusch kam aus dem Bereich des Polstersessels am Ende des Tisches. Sie ging in die Hocke und tastete mit der Hand am Spalt der Sitzpolsterung entlang, außer Mengen von Krümeln konnte sie nichts erfühlen. Sie bückte sich tiefer und fuhr mit der Hand unter den Sessel, bis sie mit den Fingerspitzen das Gerät zu fassen bekam. Jetzt beendete sie den Anruf. Sie hockte sich auf den Sesselrand und betrachtete das Telefon erstaunt. Warum ließ jemand sein Handy zurück, noch dazu in einem fremden Land? Wollte er die Verbindung kappen, um seine Spuren zu verwischen oder gab es eine simplere Erklärung? War es einfach nur hinuntergefallen und er hatte es in der Hektik nicht mehr mitnehmen können?

      Einem ersten Impuls folgend steckte Valerie das Handy in ihre Jackentasche.

      Anschließend horchte sie in den Hausflur hinein. Weil alles ruhig war, verließ sie die Wohnung. Auf dem Klingelschild war kein Name verzeichnet, auch unten nicht, weder am Klingelbrett noch an den Briefkästen. Die Ruhe im Haus war beängstigend. Obwohl vorhin ein Höllenlärm entstanden war, ließ sich keiner der Hausbewohner blicken. War das ein Zufall oder hatten die Mieter bereits Erfahrungen mit dem Schlägertrupp von vorhin gemacht? Bevor sie verschwand, fotografierte Valerie mit ihrem Handy die Namensschilder der Mietparteien. Weil nur ein einziges Schild fehlte, sollte es ein Leichtes sein, die Namen der Wohnungseigentümer herauszufinden.

      11.

      Stefan umkurvte einen Poller und ließ den Kombi langsam auf dem Parkplatz ausrollen. Anna-Lena drehte sich unterdessen nach hinten um und zog unternehmungslustig die beiden Krücken nach vorn, die sie griffbereit auf der Rücksitzbank deponiert hatte.

      „Warte doch. Das ist noch ein ziemliches Stück, habe ich auf der Karte gesehen. Wir sollten den Rollstuhl nehmen, zumindest für den ersten Teil des Weges. Du überanstrengst dich.“

      „Ich bin hier schon zigmal gewesen, ich weiß, wie weit es ist. Ich will auf eigenen Beinen dorthin gehen.“

      Sie ließ sich nicht bremsen. Bevor Stefan es um den Wagen herum schaffte, stand sie bereits, zwar etwas wackelig, aber auf eigenen Beinen abgestützt auf ihren Gehhilfen, neben der offenen Tür und bemühte sich, den Reißverschluss ihrer Jacke zu schließen.

      Er breitete lächelnd die Arme aus.

      „Wirklich, du Verrückte?“

      „Na klar, los gehts.“

      Mühsam bewegte sich Anna-Lena vorwärts, leicht bergan die Düne hoch.

      „Ist hier immer so wenig los?“, wollte Stefan wissen und drehte den Kopf zurück.

      Der Parkplatz war nahezu leer, nur eine Handvoll Pkw verloren sich auf der großen Fläche. Menschen waren weit und breit nicht zu