Sichelland. Christine Boy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Boy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844242553
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zu besuchen. Sie war nicht verärgert, auch nicht enttäuscht. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass Racyl sich richtig entschieden hatte. Aber ihr war langsam auch in den Sinn gekommen, was diese Veränderung für sie bedeutete. Viele Tage gemeinsam mit dem alten Menrir und mit Akosh, dem sie immer noch nicht so recht traute. Tage, in denen sie denselben Weg gehen musste, den sie vor einigen Wochen mit Lennys bestritten hatte. Durch den Shanguin-Gürtel, durch Valahir, durchs Mittelland. Nur, dass diesmal nicht der Norden, sondern der Süden das Ziel war. Sie scheute die Anstrengungen nicht, die vor ihr lagen. Seit den schicksalsweisenden Tagen im Spätsommer, in denen sie Lennys zum ersten Mal begegnet war, hatte sich ihre Ausdauer merklich verbessert, sie war zäher geworden und inzwischen hatte sie sich sogar an das raue Klima in Cycalas gewöhnt. Weit mehr als ihre eigenen Kräfte machten ihr da Menrirs mögliche Schwächen Sorgen. Selbst wenn sie einen Großteil der Strecke auf Händlerwagen oder Eseln zurücklegen würden, bedeutete dies nicht, dass es eine erholsame Reise wurde. Im schlimmsten Fall konnten diese vermeintlichen Erleichterungen sie sogar viel Zeit kosten, wenn sie so Umwege in Kauf nehmen mussten und die Tiere Wasser und Ruhepausen benötigten. Wie viel einfacher wäre es doch, wenn... ja, wenn. Zuerst schob sie den Gedanken beiseite. Er war lächerlich und naiv, zugleich aber auch verwegen und leichtsinnig. Noch zudem undurchführbar. Unmöglich.

      Unmöglich war ein Wort, das sie sich eigentlich selbst verboten hatte. Noch vor einem halben Jahre hätte sie auch die Tatsache, dass sie die höchste Dienerin einer Shaj des Sichellandes werden könnte, als unmöglich bezeichnet. Oder auch nur die Vorstellung, mit einem Säbel mehreren Hantua den Kopf abzuschlagen.

      Lennys hatte ihr bewiesen, dass nichts unmöglich war, das manches aber einfach Opfer verlangte. Und meistens opferte man für die großen Ziele einen Teil seiner selbst.

      Noch einmal kehrte der aberwitzige Gedanke zurück. Sie ließ ihn für einen Moment zu und hinterfragte ihn. Was genau war denn so unmöglich?

      Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie genau dieselbe Situation schon einmal erlebt hatte. Natürlich war jetzt alles viel schwieriger, aber inzwischen hatte sie genug Erfahrung mit solchen Prüfungen. Und auch wenn die Hindernisse vor ihr höher waren als damals, so war sie heute doch auch weitaus besser dafür gerüstet. In diesem Falle sogar wörtlich.

      Nicht unmöglich.

      Sie traute Akosh nicht. Vielleicht zu Unrecht, aber noch gab es niemanden, der ihr das sicher beantworten konnte. Noch nicht einmal Menrir oder Oras. Und was, wenn auch sie... Was, wenn man auch ihnen nicht trauen konnte? Natürlich, sie waren keine Verräter, aber das, was sie planten, war doch nichts anderes. Sie hintergingen Lennys und die Cas. Weil sie eine andere Meinung vertraten und weil sie glaubten, im Recht zu sein.

      Sie dachte an das, was Akosh ihr vor zwei Tagen in der Bibliothek gesagt hatte. Wenn er nicht log, dann zweifelte auch er. Das, was er erzählte, klang beängstigend. Und vieles sprach dafür, dass er recht hatte. Aber eben nicht alles. Zuerst hatte sie ihm geglaubt, dann wieder nicht. Und letzten Endes war sie zu ihm gegangen, weil sie selbst keine andere Möglichkeit sah, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

      Das Bild wurde klarer. Ihr Gedanke... nein, ihr Wunsch, der sich plötzlich offenbart hatte, war weder unmöglich, noch lächerlich. Vorausgesetzt, dass sie ein paar Fragen beantworten konnte, bevor sie ihm nachgab. Es gab nicht viele, die ihr dabei helfen konnten. Einer war weit weg, ritt mit Lennys gen Süden. Die anderen beiden saßen in Vas-Zarac und sprachen gerade jetzt mit Mo. Wie sollte sie zu ihnen gelangen, ohne erkannt zu werden?

      Ein Geräusch ließ sie aufblicken. Es kam vom Fenster. Etwas Dunkles bewegte sich davor. Hastig, raschelnd. Kein Mensch. Sie schob den Vorhang weiter zur Seite. Als sie erkannte, was dort um ihre Aufmerksamkeit bettelte, dankte sie unwillkürlich dem großen Dämon. Wer sonst konnte dieses Wunder bewirkt haben?

      „Lass ihn noch schlafen.“ murmelte Mondor. „Er hat einiges vor sich. Muss zurück zum Haus seines Herrn und dann das Mädchen zurück ins Generalsviertel bringen. Ein langer Weg und das gleich zweimal.“

      Wandan nickte. „Er hat sich viel vorgenommen. Eine Stunde noch, dann muss er aufstehen. Sonst wird es zu spät. Sie müssen noch in der nächsten Nacht dort ankommen, sonst verlieren wir einen ganzen Tag.“

      Beide saßen in einer Ecke des Turmzimmers. Sie hatten, anders als Mo, kein Auge zugetan und die ganze Nacht über über ihr Vorhaben gesprochen. Balmans alter Diener hatte sich auf den Sitzpolstern zusammengerollt und schnarchte leise.

      „Es wird ein schöner Tag.“ meinte Mondor und ging zum Fenster. „Der Winter meint es in diesem Jahr gut mit uns, wer hätte das gedacht? In ein paar Wochen wird der Frühling Einzug halten.“

      „Du bist reichlich optimistisch. Mag sein, dass das für das Südreich zutrifft, aber wir werden uns noch länger gedulden müssen. Und wenn wir erst einmal wieder in Yto te Vel sind, wirst du gar nicht mehr merken, dass die Jahreszeiten wechseln.“

      „Ich schätze die Beständigkeit des Nordens durchaus.“ entgegnete der Batí-Priester. „Das weißt du ganz genau. Aber hier ist alles doch noch ein wenig... sagen wir einmal, lebendiger.“

      Er öffnete das Fenster, um die frische Morgenluft zu genießen, doch kaum hatte er den ersten tiefen Atemzug getan, schoss etwas Schwarzes an ihm vorbei und ließ ihn erstarren. Das große dunkle Etwas sank unerwartet sanft hinab, direkt auf Wandans Knie.

      „Sehr lebendig.“ bemerkte der alte Cas trocken. Er hatte sich schnell von seinem Schreck erholt. „Ein Silberrabe. Merkwürdig. Seit wann fliegen die durch offene Fenster?“

      Auch Mondor fasste sich schnell wieder. „Weitaus merkwürdiger ist, dass das kein Zufall zu sein scheint.“ Er deutete auf eine winzige Papierrolle, die am Bein des Raben befestigt war. Stirnrunzelnd zog Wandan den Knoten des Bindfadens auf.

      „Wer um alles in der Welt schickt uns eine Nachricht durch einen Silberraben? Hier, wo es doch genug Boten gibt?“

      Er überflog die Notiz.

      Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

      Es tat Sara leid, dass sie sich nicht von Oras, Haya, Menrir und vor allen Dingen Racyl verabschiedet hatte. Die kurze Nachricht, die sie auf ihrem Bett hinterlassen hatte, würde die anderen mit Sorge erfüllen, aber das war nicht zu ändern. Niemand hätte sie verstanden, wenn sie versucht hätte, es zu erklären. Auch Racyl nicht. Und vielleicht war die ganze Aufregung ja auch unnötig. Möglicherweise war sie schon morgen wieder zurück.

      Sara war nicht übertrieben abergläubisch, ganz im Gegenteil. Doch es wäre dumm, dieses klare Zeichen des Schicksals nicht zu erkennen, das ihr einige Stunden zuvor geschickt worden war. Sie hätte Zaryc aus hunderten von Silberraben heraus erkannt. Doch sie hatte nie geglaubt, ihn jemals wieder zu sehen. Den Raben, der im Hause Oras' mit ihr Freundschaft geschlossen hatte.

      Er war ihre Rettung. Ihre Antwort. Er würde Wandan und Mondor die Nachricht überbringen und ihr so erlauben, zu beiden Kontakt aufzunehmen, ohne dass sie selbst die Festung noch einmal betreten musste. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass sie sich auf den Vogel verlassen konnte. Vor langer Zeit hatte Oras ihr einmal erklärt, dass Silberraben ganz besondere Tiere waren. Sie verstanden die Menschen, wenn sie wollten, aber meist hielten sie sich von ihnen fern. Besonders von Fremdländern. Umso ungewöhnlicher war es gewesen, dass dieser Rabe hier sich ausgerechnet Sara als eine Art Vertraute auserwählt hatte.

      'Eines Tages wirst du dankbar für diese Freundschaft sein.' hatte Oras gesagt. Damals hatte Sara gelacht.

      Jetzt lachte sie nicht mehr.

      Immer wieder sah sie sich um. Sie war keine Cycala, es wäre für jeden ein Leichtes gewesen, ihr unbemerkt zu folgen. Aber selbst wenn – was tat sie denn schon? Sie wanderte durchs Land südlich Semon-Seys. Entlang des Flusses, der irgendwo ins Meer mündete. Bald würde sie an die Stelle kommen, an der das Volk Abschied von Makk-Ura genommen hatte. Sie konnte sich noch an den schmalen Steg erinnern, von dem aus die Barken mit dem Leichnam abgelegt hatten, um ihn zur Stadt der Toten im Westen zu bringen. Jetzt gab es dort keine Barken, sondern nur ein einfaches Ruderboot, mit dem ein Fährmann jene übersetzte, die es besonders eilig