Sichelland. Christine Boy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Boy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844242553
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selbst bei eisigen Temperaturen gefror der Boden nicht, denn die Wärme, die das verrottende Unterholz und die fauligen Pflanzen absonderten, reichte aus, um weiterhin unvorsichtige Wanderer versinken zu lassen. Es roch nach Dung und Moder, allerlei Getier bevölkerte Luft und Erde, krabbelte in die Kleidung und plagte einen jeden, der dumm genug war, sich dort hindurchzuwagen. Zugegeben, zu dieser kalten Jahreszeit war es weniger unangenehm, die Sümpfe zu besuchen als in der Sommerhitze, ein Vergnügen blieb es aber dennoch nicht. Er hoffte, dass sie dort nicht länger als unbedingt nötig bleiben würden. Die Aussicht, ausgerechnet dort der ersten Hantua-Abordnung zu begegnen war alles andere als angenehm, denn dadurch würde sich ihre Reise durch die unbeliebte Gegend nur noch weiter verzögern.

      Die meisten Cas hingen wie Sham-Yu ihren eigenen, gar nicht so unterschiedlichen Gedanken nach. Sie sprachen wenig miteinander, und wenn sie es taten, dann redeten sie über unverfängliche Themen wie das Wetter, den Weg oder die spärlichen Mahlzeiten, die sie sich dann und wann gönnten. Eine längere Pause war allzu bald noch nicht in Sicht. Die Mondpferde brauchten wenig Schlaf, nur Wasser musste man ihnen regelmäßig bieten.

      Sham-Yu schätzte, dass der eigentliche Ostbogen noch ein paar Stunden entfernt war, fünf oder sechs vielleicht. Es war lange her, dass er ihn durchschritten hatte. Damals war er mit Faragyl unterwegs gewesen, um sich ein Bild vom Treiben an der Grenze zu Zrundir zu machen. Nur dieses eine Mal hatte der junge Cas jenes Reich zu Gesicht bekommen, das seit Menschengedenken in Feindschaft zu Cycalas lag. Aber viel hatte er nicht gesehen. Karges, ödes Land, soweit das Auge reichte. Einige Felsformationen und struppiges Gras, das nur büschelweise hier und da aus der trockenen Erde wucherte. Sehr groß konnte der Unterschied zur „Wüste ins Nichts“ wohl nicht sein. Er und Faragyl waren an einem breiten Graben entlanggegangen, der noch vor der eigentlichen Grenze verlief und hatten hinübergesehen, in das sanft abfallende Zrundir. Niemand hatte sich blicken lassen, kein Hantua, kein Sichelländer und auch sonst kein Herumtreiber. Sham erinnerte sich, dass er gern weiter vorgedrungen wäre, doch Faragyl hatte ihn energisch zurückgehalten:

      „Kein Sichelländer hat dort etwas verloren. Und vermutlich würdest du gar nicht zurückfinden. Das große Lager der Hantua ist weiter südlich, hier oben gibt es nur Steine, Geröll, verdorrte Erde und Sand.“

      Inzwischen war Sham-Yu ruhiger und erfahrener geworden, ihn zog es nicht mehr nach Zrundir, aber immer noch genauso in den Kampf. Wie viel hatte er schon gehört über den Großen Krieg und seine Schlachten. Und wie oft hatte er sich vorgestellt, selbst auf einem prächtigen Mondpferd in den Süden zu reiten, die blitzende Sichelklinge an seiner Seite, um damit jedem Feind das Leben auszuhauchen.

      Bislang war die Realität von seiner Vorstellung weit entfernt. Zugegeben, der „Anbruch der Nacht“, der große Auszug aus Semon-Sey, hatte seinem Geschmack voll und ganz entsprochen. Nun aber kämpfte er sich durch unwegsames Gelände, führte sein Pferd am Zügel hinter sich her und fragte sich allmählich, wann er denn endlich zur Waffe greifen durfte.

      Der Durst tobte in ihm. Es war lange her, dass er ihn hatte stillen dürfen. Im Gegensatz zu vielen anderen Kriegern waren die Cas in der glücklichen Lage, hin und wieder gegen die Missgestalten aus Zrundir angehen zu dürfen, aber gerade in den letzten Monaten war es immer seltener dazu gekommen. Die Ruhe vor dem Sturm.

      Lennys hatte nichts dagegen, wenn die Cas solche Ausflüge unternahmen. Im Gegenteil, sie war sogar der Meinung, dass dadurch ihr Kampfeswille und ihr Verlangen nur noch mehr angeheizt wurden. Vielleicht, weil sie aus Erfahrung sprach. Sie verschwand selbst oft für einige Tage ins Grenzgebiet, um der Begierde nachzugeben. Meistens wurde sie dann von Rahor begleitet, doch es kam auch vor, dass sie allein fortging. Dass diese Abwesenheit Wochen dauerte und die Reise sie dabei bis über das Gebirge führte, hatte im Sommer jedoch für gewaltige Unruhe unter den Erwählten gesorgt. Besonders Rahor war am Boden zerstört gewesen. Zum einen, weil sie ihn nicht mitgenommen hatte, und zum zweiten, weil er erst nach ihrer Abreise von ihrem eigentlichen Ziel erfahren hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er immer geglaubt, ihr Vertrauen zu genießen. Wie sehr er doch irrte.

      Sham beneidete seinen besten Freund nicht um dessen hohen Rang. Auch jetzt nicht, da der Oberste Cas wieder Mühe hatte, die Verbindung zwischen Lennys und den anderen nicht abreißen zu lassen. Insgeheim machte Rahor sich Sorgen, das konnte er vor Sham-Yu nicht verbergen. Er spürte, dass er nicht in alle Gedanken Lennys' eingeweiht war und er fürchtete, sie könne ihn und die anderen Cas irgendwann vor vollendete Tatsachen stellen oder in eine Gefahr führen, die sie selbst nicht als solche sah.

      Mit einer energischen gedanklichen Zurechtweisung schüttelte Sham-Yu seine Bedenken ab. Es war nicht der rechte Zeitpunkt, zu zweifeln. Gerade jetzt musste er Mut und Stärke beweisen. Wie alle, die sie hier versammelt waren. Fast vergessener Stolz flammte wieder in ihm auf. Er war einer der Neun. Und sie zogen aus, den Feind zu zerstören.

      Die Wachposten an den Toren Vas-Zaracs runzelten die Stirn, als der alte Mann auf sie zuschlurfte. Sie kannten sein Gesicht, konnten es aber nicht auf Anhieb einem Namen zuordnen. Zudem war es schon sehr spät, und auch wenn gerade Semon-Sey, die Stadt der Krieger, des Nachts mit ebenso viel Leben aufwartete, wie am Tage, war es doch eher ungewöhnlich, dass Fremde jetzt noch Zutritt zur Burg forderten.

      Nun trat der Alte ins Fackellicht. Er sah müde aus, aber in seinem Blick lag nichts Unterwürfiges. Anscheinend diente er einem hohen Herrn und war es gewohnt, strengen Soldaten gegenüberzustehen.

      „Ich bin Mo, Erster Diener aus dem Hause Balmans.“ verkündete er mit fester Stimme. „Und ich bringe eine wichtige Nachricht an die Herren Mondor und Wandan.“

      Die Wachen seufzten. Mo, der Diener. Ja richtig, das war er. Sie erinnerten sich wieder an ihn und auch daran, dass er bei seinem letzten Besuch nicht eher geruht hatte, als bis man ihn eingelassen hatte. Er konnte sehr anstrengend und ungemütlich werden, wenn er seinen Willen nicht bekam.

      „Die Herren Mondor und Wandan also?“ erwiderte der eine Soldat in einem Tonfall, der keine große Hochachtung durchklingen ließ. „Da könnte ja jeder kommen. Aber du kannst uns dennoch deine Botschaft berichten, wir werden sie dann zu gegebener Zeit übermitteln.“

      „Was für Narren...“ murmelte Mo.

      „Wie bitte?“ Die Wachen horchten auf.

      „Ich sagte: Ich kann nicht warten.“ antwortete Mo laut und deutlich. „Und meine Nachricht ist dringend. Meldet den hohen Herren, dass ich sie zu sprechen wünsche. Ich komme, um ihnen einen großen Dienst zu erweisen. Wenn ihr mich nicht zu ihnen durchlasst, werde ich mich an den Shaj der Erde wenden, der derzeit ebenfalls in diesem Hause wohnt. Als einem hohen Vertreter seiner Säule und zugleich Vertrautem eines Cas steht mir das Recht zu, in Angelegenheiten, die keinen Aufschub dulden und der Sicherheit unseres Landes dienen, bei ihm vorstellig zu werden.“

      Die Wachsoldaten hatten keine Lust, sich länger mit einem vermeintlichen Wichtigtuer herumzuärgern. Gelangweilt winkten sie einen weiteren Säbelträger herbei, der gerade zur Ablösung nahte.

      „Das ist Mo aus Balmans Haus. Geh zu Wandan und frag ihn, ob er ihn empfängt. Oder zu Mondor. Wen auch immer du zuerst ausfindig machen kannst. Und wenn du keinen von beiden antriffst oder sie nicht wollen, hat der gute Mann hier eben Pech gehabt.“

      Der dritte Wachmann zuckte die Achseln und schlenderte gemächlich davon. Mo musste sich sehr zusammenreißen, um seine Ungeduld nicht herauszubrüllen, aber er wusste, dass das für die beiden arroganten Krieger eine Genugtuung gewesen wäre. Also tat er, als störe ihn diese Gelassenheit nicht sonderlich, lehnte sich entspannt an die Mauer und betrachtete die Sterne.

      Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch irgendwann kam der Fortgeschickte tatsächlich zurück – und zwar in einem sehr viel zügigerem Tempo.

      „Sie erwarten ihn...“ keuchte er schon von Weitem. „Beide. In Wandans Turm. Wir sollen ihn auf dem schnellsten Weg zu ihnen bringen.“

      Diese Antwort passte den beiden Soldaten nicht gerade, doch sie wagten nun keinerlei Verzögerung mehr und nickten Mo zu, der sich sofort an die Fersen des armen Wächters heftete, der nun erneut den Weg durch das Burggelände auf sich nehmen musste.

      Wandan und Mondor waren nicht