Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
Скачать книгу
Paar mit einem Mann an einem Tisch sitzen. Sie sah einen Flughafen, ein Taxi. Sie verstand die Leute nicht. Sie hörte Stefania am Telefon. Die verstand sie.

      Sie versuchte, ihren Oberkörper aufzurichten, gab aber rasch auf. Sie schlief wieder ein.

      Als sie zum zweiten Mal an diesem Tag wach wurde, ging es ihr besser. Die körperlichen Symptome eines Katers waren zwar noch vorhanden, aber sie hatte ihr Denkvermögen wieder. Und das sagte ihr, dass sie heute noch etwas vorhätte. Es sagte ihr sogar, was sie heute noch vorhatte. Holly saß kerzengerade auf ihrem Bett. Diese ruckartige Bewegung tat weder ihrem Kopf noch ihrem Magen gut, aber der Schwindel ließ rasch nach. Würgend sprang sie ins Bad, und wieder zeigte sich der Vorteil kleiner Hotelzimmer.

      Sie schaffte es, ihren Körper und ihren Geist innerhalb von zwei Stunden in die Lage zu versetzen, ausgehbereit zu sein. Allerdings war es schon Nachmittag, als sie mit einer vagen Wegbeschreibung des Kellners das Hotel mit der Ungewissheit verließ, die Wegstrecke unbeschadet zurücklegen zu können, denn sie hatte, außer ein paar Schlucken Wasser, nichts in ihrem Magen, dem sie nichts anderes, schon gar keine feste Nahrung, zumuten wollte. Doch es ging besser, als sie befürchtet hatte. Sie hatte eng anliegende Jeans, ihre bequemen Schuhe, ein grünes, ärmelloses Tshirt an und eine helle Umhängetasche über der braunen Schulter hängen. Zwar brach ihr auf den ersten zwei Kilometern häufiger der Schweiß aus, doch dann begann sie, den warmen Nachmittag und den Gang durch die landwirtschaftliche Kulturlandschaft zu genießen. Der Weg führte zunächst durch bewohntes Gebiet, dann unterquerte die eine Bahnlinie und sah dann nur noch Felder und in der Ferne eine Hügelkette mit einem großen, alten Gebäude. Es war still, Insekten summten, Vögel zwitscherten, die Halme des Getreides wiegten sich im leichten Wind. Wie schön. Sie lief eine schmale Straße entlang, die durch Felder führte und die wenig befahren war, als ihr ein großer, teurer, schwarzer SUV mit abgedunkelten hinteren Fenstern entgegenkam.

      Schließlich bog sie auf eine schmale, schattige Straße, das musste die Straße sein, die ihr der Kellner beschrieben hatte. Auf der rechten Seite begann bald eine hohe Mauer und dann entdeckte sie in dieser Mauer ein Tor. Ein Haus stand jenseits der Mauer. Es war aus Stein und hatte mehrere Geschosse. Es schien ziemlich alt zu sein, die Fenster, die sie sehen konnte, waren hoch und die Fassade war an einigen Stellen verziert.

      Etwas außer Atem stand sie dann vor diesem eisernen Tor in der langen, hohen Mauer aus Natursteinen und suchte den Klingelknopf. Durch die Torgitter entdeckte sie hinter einer geschwungenen Auffahrt eine Art Villa, den Knopf entdeckte sie nicht. Allerdings ein Schild mit einem Pfeil und einer Aufschrift, die sie aber nicht lesen konnte. Dennoch folgte sie der Richtung, die der Pfeil wies und erreichte nach ein paar Metern eine metallene Tür, neben der sich ein Klingelknopf befand, den sie mit pochendem Herzen betätigen wollte. Doch im letzten Augenblick ließ sie den Finger sinken. War es richtig, was sie hier tat? Oder hatte Mom recht, die von dem ganzen Vorhaben nichts wissen wollte? Immerhin hatte sie der Familienrat auf diese Expedition ins Ungewisse geschickt und diese auch finanziert. Nein, sie konnte jetzt nicht, so kurz vor dem Ziel, abbrechen. Mit letzter Entschlusskraft drückte sie den Knopf und wartete. Nichts geschah. Sie drückte noch einmal. Nichts. Ein drittes Mal. Wieder nichts. Es war still hier, sie hörte Vogelgezwitscher aus dem umliegenden Wald, in den die schmale Straße, der sie gefolgt war, führte. Enttäuscht wandte sie sich zum Gehen, als ihr etwas einfiel. Sie hätte sich natürlich anmelden sollen. Woher sollte der Mann wissen, dass sie ihn heute besuchen wollte?

      Sie kramte einen Stift und ein Blatt Papier aus ihrer Tasche, schrieb, muss Sie dringend sprechen. Holly Bryant, und ihre Mobilnummer auf den Zettel und steckte ihn in den Briefkasten. Einerseits froh, die undankbare Aufgabe, mit einem wildfremden Menschen über abstruse Dinge sprechen zu müssen, noch mindestens einen Tag aufgeschoben zu haben, und gleichzeitig enttäuscht darüber, unverrichteter Dinge wieder zurückgehen zu müssen, machte sie sich auf den Rückweg, der ihr dann zweierlei Erkenntnisse bescherte. Einmal machte sich plötzlich nagender Hunger bemerkbar und zum anderen musste sie feststellen, dass sie sich den Weg nicht recht gemerkt hatte, so dass sie an einer Stelle falsch abbog, was aber, angesichts der ersten Erkenntnis, ein Glücksfall war, denn der vermeintliche Irrweg führte sie geradewegs vor ein Lokal, das ‚American Food‘ versprach und aus dem es verführerisch nach Pommes und Burgern duftete. Mit einem abnormalen Speichelfluss betrat sie das dunkle, kühle Lokal und wurde von einem netten jungen Mann auf den Biergarten hinter dem Haus aufmerksam gemacht, der sich bei dem Wetter anböte. Der Biergarten war gut gefüllt, auf einem Rasen standen einfache Tische mit einfachen Stühlen und einfachen Leuchten. Sie sah sich um und das bekannte Pärchen biertrinkend in einer Ecke mit einem Mann, der derselbe von gestern sein mochte, an einem Tisch sitzen. Der junge Mann hatte sie, trotz des einsetzenden Zwielichts, entdeckt und winkte ihr zu, worauf sie zögernd an ihren Tisch trat. Der Fremde hatte sie bisher nicht angesehen.

      „Setz dich doch zu uns.“, forderte der Jüngere Holly auf.

      „Wenn ihr nichts dagegen habt.“, lächelte sie.

      „Magnus?“, fragte die junge Frau den älteren, leger gekleideten Mann nach seiner Meinung, der Holly aus interessierten, grauen Augen ansah und dann mit dem graumelierten Kopf nickte. Hollys Beine versagten einen Moment den Dienst, als sie diesen Namen hörte und sie fiel auf die Sitzfläche des am nächsten stehenden Stuhles, ohne größeren Schaden anzurichten und zu nehmen, allerdings unter Erregung der Aufmerksamkeit der drei Personen, die bereits an dem Tisch saßen.

      „Alles in Ordnung, junge Lady?“, fragte Magnus besorgt mit sonorer Stimme. Holly wedelte mit einer Hand.

      „Noch nichts gegessen.“

      „Ah, ja. Wir haben auch gerade bestellt, in dem Restaurant, in dem wir gestern waren, war nichts mehr frei.“, sprach er fröhlich. Holly sammelte sich.

      „Sind Sie etwa Magnus Montanus?“, hauchte sie mit letzter Kraft eine überflüssige Frage, denn sie hatte ihn längst erkannt. Magnus lupfte die Brauen.

      „So ist es.“

      „Ich komme gerade von Ihnen.“, hechelte sie. Der Kellner kam und Magnus bestellte ein Bier für sie, da sie momentan nicht sprechfähig schien.

      „Aha. Wollten Sie mich besuchen?“, fragte er neutral, als wenn er jeden Tag Besuch von wildfremden Menschen bekäme.

      „Ja. Ich weiß, ich hätte mich vorher anmelden sollen, hatte aber Ihre Telefonnummer nicht. Habe Ihnen einen Zettel in den Briefkasten geworfen.“ Magnus zog die Brauen diesmal zusammen.

      „Worum geht es denn, Mrs. … ?“

      „Oh, Entschuldigung, mein Name ist Bryant, Holly Bryant.“ Der Name sagte ihm nichts, wie er rasch feststellen konnte, trotzdem fragte er nach.

      „Holly?“ Holly lächelte verschämt.

      „Eigentlich Hollanda.“

      „Oh. Na, dann. Worum geht es Ihnen denn?“ Die Brauen sprangen wieder in die Höhe und Holly wurde nervös.

      „Ja, äh, weitestgehend um meine Familie.“ Magnus beugte sich zu ihr, so dass sie sein Gesicht mit den grauen Bartstoppeln und der etwas zu langen Nase genauer sehen konnte und in die grauen Augen, die ihr gleichzeitig bekannt und unheimlich vorkamen, blicken konnte. Die Ähnlichkeit war verblüffend.

      „Bryant?“, fragte er.

      „Auch.“, erwiderte sie verwirrt und verwirrend. Sie wusste nicht, wohin sie sehen sollte und so sah sie das Paar hilfesuchend an, doch das konnte ihr nicht helfen und sah neugierig zurück. Wegen der einbrechenden Dunkelheit fiel ihre Gesichtsröte nicht sehr auf.

      „Zwei Familien?“

      „Mehrere, ja. Es geht um mehrere Generationen.“ Jetzt wurde Magnus etwas mulmig zumute und Holly bemerkte eine Veränderung in ihm: waren seine Augen zunächst wohlwollend und fast milde auf sie gerichtet, sandten sie nun eisige Blicke aus. Sie lachte nervös und rettete sich, indem sie „Können wir das nicht morgen besprechen? Ich habe einen Mordshunger.“ von sich gab und einen bittenden Blick auflegte.

      „Ich hole Sie morgen Abend um sieben ab.“, bestimmte Magnus, ohne weiter nach dem Grund ihres bevorstehenden