Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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warme Suppe über ihre Lippen, ihre Zunge und ihre Speiseröhre in ihren Magen gelangte und dort begann, ihre Lebensgeister, die jemand wieder herbeigeholt hatte, nachdem die sich von ihr verabschiedet hatten, endgültig zu wecken, bemerkte die junge Frau nicht.

      Sie bemerkte allerdings, dass sie abermals angehoben wurde und in lauwarmes Wasser gesetzt wurde, und das war, als würde sie neu geboren. Langsam, sehr langsam schlug sie die Augen mit den langen, schwarzen Wimpern auf.

      „Sie kommt.“, hörte sie eine Frau flüstern.

      „Ja.“, antwortete eine heisere Männerstimme.

      6.

      „Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, wird wohl was mit ‚M‘ gewesen sein. Wie viele Vornamen mit ‚M‘ gibt es, was meinst du?“, keifte Kyonna ihre Tochter an, „Ich weiß auch nicht mehr, wie er aussah, keinen Schimmer. Wahrscheinlich war ich stoned.“ Das Gespräch war beendet. So hatte ihre Mutter noch nie mit ihr gesprochen. Sie hatten immer ein gutes Verhältnis gehabt, gerade auch, seit Stefania auf der Welt war. Es schien fast so, als wolle Kyonna ihr schlechtes Verhältnis zu ihrer Enkelin durch ein besonders gutes zu ihrer Tochter kompensieren. Aber so etwas. Na ja, Stefanias Vater war wohl keine Schönheit gewesen, aber was ihre geistigen Gaben anbelangte, war deren Herkunft eindeutig.

      Holly stand nackt vor ihrem Kleiderschrank und wusste nicht, was sie anziehen sollte. Hunger hatte sie auch, aber sie wusste nicht, ob sie vorher noch etwas essen sollte, oder ob es bei Montanus etwas gab. Der Mann war ja gestern ziemlich schweigsam, ja abweisend gewesen, nachdem sie ihm gesagt hatte, warum sie ihn sprechen wollte. Sie entschied sich für ein buntes, leichtes Sommerkleid, eine Strickjacke und elegante Schuhe. Sie lächelte. Vielleicht würde sie ein wenig mit ihm flirten. Er könnte zwar ihr Vater sein, aber ….

      Sie wollte gerade ihre Tasche umhängen und vor das Haus treten, um auf ihn zu warten, als es klopfte. Sie öffnete die Tür und vor ihr stand Magnus Montanus in dem schummrigen Flur.

      „Guten Abend, Mrs. Bryant, ich bin etwas früh, aber ich wollte nicht auf der Straße auf Sie warten, und … Ich war unterwegs und wollte nicht erst nach Hause fahren, na ja, kommen Sie?“ Er trug eine bequeme Leinenhose und ein ebensolches Hemd, dazu braune Slipper. Und er sah sie, geradezu demonstrativ, von oben bis unten an, allerdings ohne eine Miene zu verziehen oder in irgend einer Weise ihr Aussehen zu kommentieren. Sie war Blicke von Männern gewohnt, aber die waren meist nicht neutral, sondern sehr eindeutig. Sie wusste, wie sie auf Männer wirkte: begehrenswert. Umso erstaunter war sie über seine scheinbare Gleichgültigkeit, ja, sie war geradezu enttäuscht.

      „Ja, ich bin gerade fertig geworden.“

      „Hereinbitten dürfen Sie aber niemanden, das würde zu eng.“, bemerkte er mit einem kritischen Blick in ihr Zimmer.

      „Das hatte ich auch nicht vor.“, entgegnete sie unfreundlicher, als sie wollte.

      „Ja.“ Er wandte sich ohne einen weiteren Kommentar um und ging vor ihr her.

      Sie hatte nicht so abweisend sein wollen, aber seine Bemerkung über die Größe ihres Zimmers schien ihr unangemessen. Sicher sah er auf sie herab, er, der reiche Unternehmer. Jetzt stapfte er arrogant davon. Na bitte.

      Draußen hielt er ihr die Beifahrertür seines schwarzen SUV auf. Ein Gentleman ist er auch noch, dachte Holly spöttisch.

      Sie fuhren schweigend dieselbe Strecke, die sie gestern zu Fuß genommen hatte.

      Vor dem Tor hielten sie kurz an, das Tor öffnete sich und sie fuhren die geschotterte Einfahrt hinauf bis zu einer breiten Treppe, die in einigen Stufen zu einer mächtigen Eingangstür führte. Montanus ging voran, schloss auf und ließ Holly den Vortritt. Er warf die Schlüssel nachlässig auf ein kleines Tischchen in der Eingangshalle, die dunkel vertäfelt daherkam, dann ging er wieder voran, öffnete eine hohe Tür und sie befanden sich in einer Art Salon.

      Alles wirkte alt und edel, aber gemütlich. Es hatte Stil. Und es war teuer.

      „Lassen Sie uns auf die Terrasse gehen, solange es noch warm ist.“, sagte er und öffnete die entsprechenden Türen. Die Terrasse war groß, von einer niedrigen Mauer umgeben und lag etwas oberhalb eines leicht verwilderten, großen Gartens, der über eine breite Treppe erreichbar war. Montanus wies auf einen bequemen, geflochtenen Gartensessel, der an einem großen Tisch stand, zog ihn etwas zurück und ließ Holly Platz nehmen. Außer Vogelgezwitscher war nichts zu hören.

      „Schön ruhig haben Sie es hier.“, meinte Holly.

      „Ja, es ist ruhig. – Möchten Sie etwas trinken? Ich habe auch etwas zu essen vorbereitet, wenn Sie mögen.“

      „Ich hatte gestern und vorgestern etwas viel Alkohol. Und ja, Hunger hätte ich schon.“

      „Ich hole mal Wasser und Wein. Sie können das mixen, wenn Sie wollen. Ich trinke Bier.“

      „Das müssen Sie ja wohl.“, lachte sie.

      „Nein, nein, nicht wegen des Geschäfts, ich mag es eben.“ Er brachte die Getränke und setzte sich dann an die Kopfseite des Tisches, rechts neben sie.

      „Das Essen dauert noch ein paar Minuten.“ Holly schaute an der imposanten Hausfassade hoch.

      „Leben Sie hier alleine?“, fragte sie ohne Hintergedanken. Montanus räusperte sich.

      „Ja.“

      „Ist das nicht ein wenig einsam?“, lächelte Holly ihn an.

      „Man kann alleine sein, ohne sich einsam zu fühlen.“ Das klang fast ein wenig trotzig.

      „Sind Sie allein, haben Sie keine Familie oder Freunde?“ Nachdem sie die Worte gesprochen hatte, überfiel Holly ein schlechtes Gewissen. Sie war eine Fremde, hatte sich praktisch selbst eingeladen, der Mann hatte für sie gekocht und jetzt stellte sie ihm solche Fragen. Mit ausdruckslosem Gesicht sprang Montanus auf und eilte in das Haus, um wenig später mit Tellern und einer Auflaufform wiederzukommen. Holly hatte schon gedacht, ihre Unterredung sei beendet worden wegen ihrer vorlauten Fragen.

      „Entschuldigung.“, murmelte sie.

      „Wie bitte?“, fragte er verwirrt.

      „Meine Fragen; ich wollte nicht persönlich werden.“

      „Greifen Sie zu. – Ist schon gut. Es ist ja durchaus ungewöhnlich, dass jemand wie ich alleine lebt, aber Sie müssen sich keine Sorgen machen, ich bin wirklich nicht einsam. Ich habe ein paar Freunde, wirkliche Freunde, überall auf der Welt. Ich komme viel herum, wissen Sie.“

      „Es schmeckt köstlich.“, meinte sie mit vollem Mund und meinte es auch so.

      „Danke.“

      „Sind diese Freunde Ihresgleichen?“ Einen kurzen Moment schien er mit der Antwort zu zögern, ja, er schien sich für einen Bruchteil einer Sekunde ertappt zu fühlen. Dann hellte sich seine Miene unmerklich auf.

      „Unternehmer, meinen Sie?“ Holly nickte kauend und Montanus lachte.

      „Nein, glücklicherweise nicht.“ Sie runzelte die Stirn.

      „Warum ‚glücklicherweise‘? Was sind denn das für Leute, Ihre Freunde, meine ich?“ Montanus schüttelte kauend den Kopf.

      „Alle möglichen Leute. Alle Hautfarben, jedes Alter, jede Schicht. Wissen Sie, ich kümmere mich nicht so sehr um das Unternehmen, für mich gibt es Wichtigeres.“ Für Satte gibt es auch Wichtigeres als Essen, dachte Holly. Da war sie wieder, seine – Abgehobenheit?

      „Was ist wichtiger?“, fragte sie mit Neugier. Er sah sie seltsam an.

      „Nun, ich bin sehr an Geschichte interessiert, Politik, Philosophie.“ Er interpretierte ihren Ausdruck, und zwar richtig. „Ich kann mir das leisten, das wollen Sie doch hören, nicht wahr?“ Holly fühlte sich ertappt und sah nieder.

      „Entschuldigung, ich wollte Ihnen keinen Vorwurf machen. Ich …“

      „Schon