Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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einem Stapel Damenkleider liegen und vor ihr stand, mit dem Rücken zum Vorhang, der Krämer mit heruntergelassener Hose in eindeutiger Position und zeigte den Eintretenden sein faltiges Hinterteil.

      Montanus hielt Tom zurück, der sich wutentbrannt auf den Schmächtigen stürzen wollte und sagte laut, aber beherrscht: „Sie stochern in meinem Eigentum herum; das mag ich nicht.“

      Der Krämer drehte sich mit einem schiefen Grinsen um und meinte: „Ich bezahle auch.“, was ihm nicht das Wohlwollen des Masters einbrachte, wohl aber einen Schlag von dessen flacher Hand ins Gesicht, der ihn taumeln ließ. Mit einem Sprung war Montanus bei ihm, packte ihn am Kragen seines Hemdes und näherte sein Gesicht den fauligen Zähnen des Besitzers des entblößten Hinterteils.

      „Wir werden uns nehmen, was wir brauchen, und ich werde angemessen bezahlen. Du wirst hier drinnen bleiben, ich will dich nie wieder in der Nähe der schwarzen Lady sehen. Wenn das jetzt, heute, oder irgend wann einmal geschehen sollte, bist du ein toter Mann.“, raunte er drohend und drückte den Notgeilen auf eine Kiste.

      Seine beiden Sklaven zogen sich rasch die ausgesuchten Sachen an, er legte ein paar Scheine auf einen Tisch, und dann verschwanden sie.

      Die nächsten Stunden ritten sie schweigend nebeneinander her.

      Beim Absatteln am Abend wollte Montanus von Sarah wissen, wie es ihr ginge und sie druckste ein wenig herum. „Es war nicht das erste Mal.“, flüsterte sie. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. Es wird vielleicht auch nicht das letzte Mal gewesen sein, dachte er. „Master?“

      „Hm?“

      „Es hat mich noch nie jemand ‚schwarze Lady‘ genannt.“

      „Dann wurde es Zeit.“, sagte er und wandte sich ab.

      Die Abende am Feuer nutzte er, um sie auf ihr neues Leben vorzubereiten und ihr Selbstbewusstsein zu stärken.

      Am Nachmittag des achten Tages war in der Ferne ein Grollen zu hören.

      „Ein Gewitter.“, bemerkte Tom, immerhin ungefragt. Montanus schüttelte den Kopf.

      „Geschützdonner.“, brummte er.

      „Der Krieg?“

      „Hm.“

      „Wie weit ist es noch?“

      „Bis wohin?“

      „Zur Grenze?“

      „Kann nicht mehr weit sein.“ Schweigend ritten sie weiter, allerdings nicht mehr so sorglos wie zuvor. Der Master blickte sich häufig um und suchte mit Blicken den Horizont ab; außerdem griff er ungewöhnlich häufig nach seinen Waffen.

      Der Nachmittag wollte vom Abend abgelöst werden, als sie in der Ferne eine Staubwolke entdeckten, die sich rasch näherte. Bald schon konnten sie den Verursacher der Wolke erkennen, der sich rasch als Reiter in Uniform entpuppte, der sein Tier zu äußerster Anstrengung antrieb. Als er das Trio erblickte, zügelte er kurz sein Pferd, um dann mit ungebrochener Geschwindigkeit auf sie zuzurasen. Früh genug sah Montanus, dass der Uniformierte einen langen Revolver zog und auf sie anlegte. Es war ein Mitglied der Südstaatentruppen. Die drei sprangen von ihren Pferden.

      „In Deckung!“, rief Montanus und stellte sich gleichzeitig schützend vor seine Schützlinge. Mit den Worten „Die Nigger sind der Grund für das Schlachten!“, drückte der Mann zweimal ab.

      Eine Kugel ging fehl, die andere traf zufällig, denn erstens konnte man mit diesem Schießprügel nicht richtig zielen und zweitens befand sich der Mann in vollem Galopp, Montanus‘ Brust. Tom, der sich unmittelbar, quasi als Sandwichfüllung, hinter Montanus und vor Sarah befand, spürte, wie bei dem zweiten Knall ein Zucken durch den Körper des Weißen ging, der daraufhin sofort zusammensackte. Während der Soldat weiterstürmte, sank des Masters Kopf auf dessen Brust, der Körper jedoch zu Boden und Tom auf seine Knie, zwischen die der Kopf des Masters zu liegen kam. Sarah schrie erst, dann fing sie an zu schluchzen und fiel neben dem leblosen Körper ebenfalls auf die Knie, um verzweifelt die Hände auf die Brust des nicht mehr atmenden Mannes zu legen, der reglos und mit geschlossenen Augen, dafür mit offenem Mund, vor ihr lag. Ein schwacher Blutstrahl aus der winzigen Wunde spuckte ein Projektil aus und versiegte dann. Sarah nahm nichts mehr wahr und ließ ihrer Verzweiflung freien Lauf. Der Mann, der sie vor kurzem gekauft und der ihnen die Freiheit in Aussicht gestellt hatte, der sie ‚schwarze Lady‘ genannt hatte, war tot. Sie würden abermals verkauft werden. Dieser Weiße, der erlaubt hatte, dass sie ihre Arme um ihn schlang, lebte nicht mehr. Dieser Master mit der sanften Stimme, der sie all die Zeit niemals streng angesprochen hatte, atmete nicht mehr.

      In diesem Augenblick schoss ein Trupp Kavallerie an ihnen vorbei. Einige Soldaten, ebenfalls Südstaatler, sahen kurz und ohne Gefühlsregung zu dem Trio herüber, und schon waren sie vorbeigeritten. Die Wunde blutete nicht mehr und dann geschah etwas Seltsames. „Sarah, schau!“, forderte Tom seine Gefährtin auf und deutete auf das Eintrittsloch, das sich jetzt langsam schloss. Beider Blick war starr auf die Wunde gerichtet und Sarah war jetzt vor Erstaunen still. Als die Wunde vollständig geschlossen war, hob und senkte sich der Burstkorb des Weißen wieder und er schlug mit einem Seufzer die Augen auf. Sein erster Blick galt Tom, der zweite Sarah, dann zog ein Lächeln über sein Gesicht.

      „Das, meine Lieben, dürft ihr niemandem erzählen.“, murmelte er heiser und versuchte, sich hochzurappeln. Seine Begleiter schienen wie erstarrt, Sarah sah ihn an, als wäre er eine Erscheinung, womit sie nahe bei der Wahrheit lag, aber sie nicht ganz traf, Tom starrte immer noch auf den runden Punkt, der einmal eine Schussverletzung gewesen war.

      „Tom, kannst du mir mal aufhelfen?“ Tom schien nichts gehört zu haben.

      „Na, dann nicht.“, raunte er und stemmte sich mühsam auf die Knie. Als Tom dies endlich bemerkte, sprang der junge Mann auf, griff dem alten beherzt unter die Arme und zog ihn hoch.

      „Danke. Geht also doch.“ Montanus sah die immer noch knieende, ihn immer noch anstarrende Sarah von oben an. Sie gab gurgelnde Laute von sich.

      „Was hat sie gesagt?“, fragte er Tom. Er erhielt keine Antwort. Montanus reckte sich.

      „Ist etwas passiert, nachdem ich getroffen wurde?“ Keine Antwort.

      „Kinder, Papa hat etwas gefragt.“ Tom fuhr seine Linke aus und deutete in die Ferne.

      „Männer.“, hauchte er.

      „Wie interessant.“, meinte der Wiederauferstandene halb verärgert, halb belustigt. Dann erzählte Tom stotternd von dem Kavallerietrupp. Montanus dachte kurz nach und entschied dann: „Aufbruch. Lasst uns die Südstaaten schnell verlassen.“ Als seine Sklaven immer noch keine Anstalten machten, sich zu rühren, befahl er: „Master sagt: aufsitzen!“ Schmunzelnd beobachtete er, wie die beiden wie in Trance die Pferde bestiegen. Als er selbst im Sattel saß, wollte Sarah wie gewohnt ihre dünnen Arme um seinen Leib schlingen, schien aber davor zurückzuschrecken; sie ließ die Arme wieder sinken.

      „Ich bin kein Geist, Sarah, und ich bin nicht mehr verletzt. Halte dich also fest.“ Sarah glaubte ihm zwar nicht, legte aber trotzdem fast trotzig ihre Arme um ihn. Sie fühlte seinen festen Körper und dachte, ein Geist ist er tatsächlich nicht. Was sie nicht wissen konnte, war, dass er dem aber ziemlich nahe kam.

      Nach einer Weile passierten sie einen verlassenen, provisorischen Grenzposten und setzten ihren Weg bis zum Anbruch der Dunkelheit fort. Ein Feuer entzündeten sie heute nicht, und Montanus teilte Wachen ein. Ein unausgesprochenes Schweigegelübde ließ keinerlei Gespräch aufkommen, was sich aber bei Morgengrauen, als er zum Aufbruch drängte, änderte.

      „Master, er hat auf dich geschossen.“, konstatierte Tom rückblickend.

      „Ja.“

      „Ich habe gesehen, wie Männer aussehen, auf die geschossen wurde.“

      „Ja.“

      „Du warst tot, Master.“, klagte Sarah. Montanus hörte mit der Herrichtung des Pferdes auf und drehte sich zu den beiden Erzählern um.

      „Ja,