Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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      „Master, was bist du?“, fragte Sarah.

      „Ein Mensch, meine Lieben, ich bin ein Mensch.“, erklärte der Weiße fröhlich.

      „Aber nicht wie wir, nicht wahr?“ Die schlaue Sarah.

      „Nein, nicht wie ihr.“, flüsterte er.

      Sie ritten über ein Gelände, dessen Boden aufgewühlt war. Hier und da lag ein Pferdekadaver, Sträucher und Bäume waren teilweise zerfetzt, Häuser zerstört und Scheunen niedergebrannt. Es roch nach Rauch und Tod.

      Bald jedoch wurde die Gegend freundlicher und als sie die erste Ansiedlung sahen, über der das Banner der Nordstaaten wehte, wussten sie, dass sie in relativer Sicherheit waren.

      Montanus begab sich mit seinen Schützlingen zum Richter, legte die Kaufurkunden vor und erwirkte Freilassungsurkunden.

      „Und jetzt müssen noch die Dinger da ab.“, schmunzelte der Richter und zeigte auf die Hälse der jungen Leute, die völlig fassungslos waren. Ein Gerichtsmitarbeiter erschien mit einer großen Zange, die, wie er stolz verkündete, extra für diese Zwecke hergestellt worden war, da die Freilassung von Sklaven hier fast zum Tagesgeschäft gehöre, setzte sie gekonnt zweimal an und Sarah und Tom waren die Stigmata los. Zur Feier des Tages ging man zu dritt in eine Art Gasthof, um zu essen und zu trinken. Niemand nahm hier Anstoß daran, dass Schwarze das Lokal betraten.

      „Die Leute sind alle so freundlich zu uns.“, strahlte Sarah, worauf Montanus seine Gabel erhob.

      „Täuscht euch nicht. Nicht überall ist es, wie hier. Auch in diesem Teil Amerikas gibt es Feindschaft gegen die Schwarzen. Dass die Sklaverei hier abgeschafft ist, bedeutet nicht, dass alle Menschen Brüder sind. Und Schwestern.“

      Da sie glaubten, es sich verdient zu haben, blieben sie über Nacht in dem Gasthof, um einmal in richtigen Betten zu schlafen und bekamen zu dritt ein Zimmer zugesprochen.

      Als das Licht gelöscht war und sie einem mehr oder weniger bierseligen Schlaf entgegenatmeten, wagte Sarah die entscheidende Frage mit fester Stimme in die Dunkelheit hinein.

      „Kannst du das erklären, Master?“

      „Ich heiße Magnus.“, nuschelte Magnus zurück.

      „Magnus.“

      „Was ist?“, fragte er mit schwerer Zunge.

      „Ob du das erklären kannst.“

      „Was?“ War es Taktik, oder war er betrunken?

      „Dass du von den Toten auferstanden bist.“

      „Ich war doch der einzige, oder?“

      „Du weißt, wie ich das meine.“

      „Nein.“

      „Soll ich es noch einmal erklären?“

      „Nein. Ich meine, nein. Nein heißt nicht, dass ich nicht weiß, was du meinst, sondern, dass ich es nicht erklären kann. Glaube ich.“

      „Hast du keine Erklärungen für dich?“

      „Schon, aber die sind unreif. Ich arbeite daran.“

      „Wirst du es uns sagen, wenn du die Lösung hast?“ Tom schnarchte.

      „Wenn ihr es noch erlebt, werde ich es euch sagen.“ Er schien eindeutig betrunken, war es aber nicht. Er war nur müde.

      „Willst du damit sagen, dass wir eher sterben als du?“ Sarah klang erstaunlich sachlich.

      „In diesem Falle erkläre ich es euren Nachkommen.“ Das klingt nun eigentlich nicht mehr betrunken, meinte Sarah.

      Er wusste damals nicht, dass er ein folgenschweres Versprechen gegeben hatte.

      Zwei Wochen später ritten sie gemächlich durch ein bewaldetes Gelände irgendwo zwischen den großen Seen und der Ostküste. Der leicht ansteigende Reitweg führte geradewegs auf eine große Lichtung, auf der sich ein Anwesen und mehrere Pferdekoppeln, auf denen einige Pferde grasten, befanden. Xavier de la Lotte hob den Kopf, als er die zwei Pferde gewahr wurde und ließ den Hammer sinken.

      „Pauline, il est la!“, rief er in reinstem Französisch zum Haus hinüber, und die Schindeln des Hauses schienen zu vibrieren, in dessen Tür nun eine brünette Frau erschien und den Weg hinabschaute.

      „Magnus!“, rief sie und stürzte den Reitern entgegen.

      Der Schmied, ein gewaltiger Mann mit einer roten Mähne, die er hinter dem Kopf zu einem Zopf gebunden hatte, warf den Hammer fort und verzog sein vollbärtiges Gesicht zu einem breiten Grinsen. Er hatte eine Lederschürze und eine ebensolche Weste an, darunter nichts, so dass seine mächtige Muskulatur gut zu sehen war. Auch er ging den Ankömmlingen entgegen.

      Magnus sprang vom Pferd und schritt den beiden lachend und mit ausgebreiteten Armen entgegen. Zuerst umarmte er Pauline, dann den Schmied, der fast einen Kopf größer, aber sicher doppelt so breit war, wie Magnus. Sarah und Tom stiegen ab und blieben bei den Pferden. Das französischstämmige Paar wechselte ein paar Worte in ihrer Muttersprache mit Magnus, wobei Xavier das kleine Loch in Magnus‘ Hemd entdeckte.

      „Ist es wieder passiert?“, fragte er besorgt.

      „Es ist wieder passiert, gleichzeitig ist nichts passiert, wie du siehst. – Ich habe euch zwei bezaubernde junge Menschen mitgebracht.“ Er winkte die beiden schüchternen Schwarzen herbei, die sich, zu ihrer Überraschung, ebenfalls an die unterschiedlichen Busen des Paares unversehens gedrückt sahen.

      Am Abend saßen sie alle um einen großen Tisch in der Wohnküche des Hauses um einen großen Topf Eintopf herum und aßen.

      „Es wäre schön, wenn ihr Sarah und Tom aufnehmen könntet.“, sagte Magnus. Pauline sah Sarah lächelnd an und drückte ihre zarte Hand. Xavier schlug Tom auf die Schulter, der dies als Ritterschlag nahm und sich den Schmerz nicht ansehen ließ.

      „Sie werden sein wie unsere Kinder.“, versprach Xavier dröhnend, und ernst und leise fügte er hinzu: „Wie lange wirst du bleiben?“

      „Ich bleibe noch eine Weile. Ich habe versprochen, ihnen Selbstbewusstsein beizubringen.“

      Xavier lachte, was klang, wie Donnergrollen.

      „Da bist du der beste Lehrmeister.“

      „Manches andere müsst ihr ihnen beibringen.“ Xavier und Pauline lachten zustimmend.

      Der Sommer verging mit entsprechenden Aktivitäten. Tom half Xavier und lernte dabei dessen Kunden kennen. Xavier war nicht nur der Mann fürs Grobe, als der er sich gab. Er konnte einen Wallach in die Knie zwingen, reparierte abends aber auch so manche Taschenuhr.

      Pauline nahm Sarah unter ihre Fittiche; sie unterwies sie in Haus- und Gartenarbeit und brachte ihr Französisch bei. Magnus lehrte sie Lesen und Schreiben und erklärte ihnen die Welt.

      Die beiden ehemaligen Sklaven genossen das neue Leben und blühten richtiggehend auf. Da sich herumgesprochen hatte, dass sie die ‚Kinder‘ des Schmieds waren, dazu noch überaus tüchtig und freundlich, erfuhren sie keinerlei Ressentiments wegen ihrer Rasse, doch Magnus ahnte, dass einschlägige Erfahrungen auf sie warteten.

      „Kommen Pauline und Xavier aus Frankreich?“, wollte Sarah wissen, als sie mit Magnus einen Spaziergang machte. Sarah schritt unbeschwert neben Montanus her, als wenn sie gute Freunde wären. Was sie auch waren.

      „Eigentlich nicht. Ihre Großeltern sind dort geboren und als Kinder hier hergekommen. Sie haben mit ihresgleichen zusammengelebt und sich ihre Sprache bewahrt.“

      „Warum sind sie nicht dort geblieben? Pauline sagt, Frankreich sei ein schönes Land.“

      „Sicher ist es schön, aber es gibt Dinge, die einen veranlassen können, auch das Schöne zu verlassen.“

      „Welche Dinge?“

      „Sie stammen aus einem Hugenottengeschlecht;