Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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Dick vertrat nun dezidiert die Auffassung, dass es sich um ein und denselben Mann gehandelt habe und hatte den größten Teil der Familie davon überzeugt. Der kleinere Teil meinte, es handele sich um Vorfahren des jetzigen Magnus. Hollys Mom wollte von allem nichts wissen.

      Holly selbst fand Dicks These absurd und selbst die zweite Variante kam ihr reichlich verwegen vor. Allerdings wäre eine solche frappierende Ähnlichkeit über Generationen hinweg schon sehr, sehr ungewöhnlich, wenn nicht gar ausgeschlossen. Das wiederum öffnete dann der ersten Möglichkeit Tür und Tor. Holly schüttelte sich. Der Gedanke daran machte ihr Angst. Sie sah sich das Foto von 1963 noch einmal an.

      Die Biografie des aktuellen Montanus war öffentlich, schließlich gehörte ihm ein Getränkeimperium. Die Firma gab es schon seit dem Mittelalter, als die Menschen in Süddeutschland anfingen, Bier zu brauen. Offensichtlich hatte der damalige Montanus eine Möglichkeit gefunden, auch im Sommer Eis zur Kühlung zu beschaffen, was ihm einen Vorteil gegenüber Konkurrenten einbrachte. Mittlerweile war der Konzern weltweit aktiv, wobei sich Montanus – und das schon seit Generationen – aus dem operativen Geschäft heraushielt.

      Merkwürdig war, dass es in seinem Leben anscheinend keine Frauen gab. Keine Mutter, keine Ehefrau – nichts. Und es gab keine Angaben über Schulbesuch, Studium und dergleichen. Das Merkwürdigste aber war das Fehlen eines Geburtsdatums. Alles rankte sich nur um die Firma. Wann er eingetreten war, welches seine Erfolge waren, wann er sich zurückgezogen hatte. Das gleiche bei seinem Vater und seinem Großvater.

      Er mied die Öffentlichkeit, zumindest mediale Auftritte. Allerdings war bekannt, dass der Rat der Montanus‘ von der Politik gesucht wurde, und das über Generationen. Sie hatten deutsche Bundeskanzler und Parteiführer beraten, einer tauchte mal im Umfeld John F. Kennedys auf und hatte sich von ihm in ‚historischen Fragen‘, wie es hieß, beraten lassen.

      Ein Radfahrer mit einem hechelnden Hund zog vorbei und grüßte, wobei er den Blick nicht von Holly abwenden konnte und dabei beinahe in das Feld fuhr. Holly musste lachen. Sie wusste, dass sie die Männerblicke anzog. Ihr kurzes, schwarzes Haar, der dunkle Teint, die schwarzen Augen und die Stupsnase, die hohen Wangenknochen und ihre schlanke Figur machten sie sehr attraktiv. In der Ferne lief ein Jogger. Ihre Mutter war nahezu hundertprozentig schwarz. Hollys Vater war ein Latino gewesen, wie ihre Mutter sagte. Mom hatte damals eine wilde Zeit, und das war stark untertrieben. Sie hatte unzählige Lover und das Produkt einer ungeschützten Nacht war Holly geworden. Danach hatte ihre Mom verhütet. Oder verhüten lassen. Holly musste wieder lachen. Denn ihre verrückte Mutter hatte die Angewohnheit besessen, die Inhalte der benutzten Kondome in Reagenzgläser zu füllen und in einer speziellen Kühlbox zu lagern.

      Beide, Mutter und Tochter, bekifft und beschwipst, beschlossen dann eines Nachts, dass Holly, wenn sie denn den Wunsch nach einem Kind hegen sollte, sich mit dem Inhalt eines dieser Reagenzgläser künstlich befruchten lassen sollte. Holly wusste noch, wie sie ein Glas aussuchte, das ihre Mom aber nicht hergeben wollte, aber Holly wollte es unbedingt haben, weil es als einziges mit keinem Namen beschriftet war. Alle Gläser trugen Aufkleber mit männlichen Vornamen, auf dieses war lediglich ein großes ‚M‘ gekritzelt.

      Ein Freund ihrer Mutter führte dann den Eingriff durch und Stefania war das Produkt. Stefania. Holly hielt Stefania für ein Wunderkind. Sie war in ihrer Entwicklung ihrem Alter weit voraus, sie war … weise. Die Kleine war immer guter Dinge, war immer freundlich, nie vorlaut, hörte gut zu und sah … Dinge. Der einzige Mensch, der mit Stefania nicht zurechtkam, war Hollys Mutter. Sie hatte es immer abgelehnt, auf Stefania aufzupassen. Selbst als die Kleine noch ein Baby war. Holly hatte den Eindruck, dass Kyonna ihrer Enkelin aus dem Weg ging, wann immer das möglich war.

      Hollys Blick fiel auf ein aktuelles Foto von Magnus Montanus und vor ihrem inneren Auge hatte sie das Gesicht ihrer Tochter. Etwas irritierte sie, sie wusste aber nicht, was. Die Nase. Stefania war ein süßes kleines Mädchen mit dichten, drahtigen, dunkelbraunen Haaren und braunen Augen. Allerdings war ihre Nase eine Idee zu lang. Wie bei diesem Montanus. Ihre Nasen hatten sogar in etwa die gleiche Form. Die Augen. Montanus‘ Augen waren grau, aber der Blick glich dem Stefanias. Holly lachte auf und ganz tief in ihrem Bauch entstand etwas, das mit Glücksgefühlen nicht viel zu tun hatte. Sie verscheuchte einen absurden Gedanken.

      5.

      Der Schmerz hatte die junge Frau hellwach gemacht. Der Schmerz, der ihre bloßen Füße erfasst hatte, nachdem sie nur ein paar Schritte durch den Schnee gegangen war. Getrieben wurde. Getrieben wie ihre Leidensgenossinnen. Getrieben zu einem gewissen ungewissen Ende. Sie hatten ihr keine Zeit gelassen nach ihren Schuhen zu suchen, die irgendwo unter dem mehrstöckigen Bettgestell lagen, das fast die ganze Länge der Baracke ausmachte, neben vier weiteren. Im Lager war das noch nicht so schlimm gewesen, das mit den Schuhen. Oder eher das ohne Schuhe, aber hier? Hier lag Schnee und es war kalt. Nach fünfzig Metern hatte sie angefangen zu wimmern, dann hatte sie vor Schmerzen geschrieen, und nur ein Stoß mit dem Karabiner eines der Wächter hatte ihr Schreien wieder in ein Wimmern verwandelt. Sie wusste von den Experimenten der Lagerärzte, die Gefangene in kalten Winternächten nackt draußen angebunden hatten, schließlich hatte sie deren Schreie selbst gehört. Am nächsten Morgen hatte sie dann zu denen gehört, die die steifgefrorenen Leichen wegtragen mussten.

      Der Schmerz aber wich bald einem tauben Gefühl und schließlich fühlte sie ihre Füße gar nicht mehr. Sie konnte aber auch keine Konturen im Schnee mehr erkennen, sah nicht mehr die schwarze Bordüre des Waldes linksrechts der Schneefläche, sah nicht mehr den mal blauen, mal grauen Himmel, sah nur noch weiß. Mechanisch schleppte sie sich dahin, immer den anderen hinterher, angetrieben von den SS-Leuten. Anfangs hatte sie noch gewusst, dass sie ihrer Vernichtung entgegengingen und sie hatte, wie die anderen, Angst gehabt. Nun hatte sie keine Angst mehr. Sie sah nur noch dieses Weiß, aber nur noch eine Weile. Dann sah sie nur noch schwarz oder gar nichts mehr. Sie fiel in den Schnee.

      Als sie das nächste Mal etwas wahrzunehmen glaubte, aber da glaubte sie schon, sie sei tot, fühlte sie sich hochgehoben. Jemand schien sie sich auf die Schultern zu laden und rasch mit ihr davonzueilen. Durch die geschlossenen Lider glaubte sie Schnee zu sehen.

      Die junge Frau erwachte immer wieder mal kurz aus ihrer Ohnmacht, aber ihre Wahrnehmung blieb stets dieselbe. Sie fühlte sich getragen. Sie hörte schweren Atem. Den Atem des Todes? Durch ihre geschlossenen Lieder sah sie die Helle des Schnees.

      Als sie dann mal wieder wach wurde und nur Schwärze um sie herum zu sein schien, war sie endgültig davon überzeugt, tot zu sein, und ein Gefühl unendlicher Erleichterung überkam sie. Endlich hatte sie es geschafft. Nie mehr würde sie Schmerzen haben, nie mehr Hunger leiden, nie mehr fast verdursten, nie mehr würde sie Angst haben müssen.

      Der Mann und die Frau wunderten sich, dass ein leichtes Lächeln den Mund der jungen Toten umspielte, als der Mann sie auf das schmalere der beiden Betten legte, die in dem seltsamen Raum standen.

      „Mach die Suppe warm, Ruth, sie wird sie brauchen.“, sagte der Mann.

      „Aber sie ist doch tot. Das arme Mädchen.“, sagte die Frau bedauernd. Der Mann aber schüttelte leicht den Kopf und zog seine Jacke und seine Handschuhe aus, dann trat er sich die Stiefel von den Füßen.

      „Mach auch Wasser heiß, sie braucht ein lauwarmes Bad.“, sprach er leise. Dann trat er an das Bett und betrachtete die junge Frau mit den kurzgeschorenen, schwarzen Haaren. Ihre Haut, die einmal braun gewesen sein mochte, war eisgrau, der Mund etwas schief, aber sie war eine Schönheit, sogar im Tod. Er riss ihr die Lumpen, denn als mehr war ihre Kleidung nicht zu bezeichnen, vom Leib und sah einen ausgezehrten Körper. Die kleinen Brüste waren faltig und die Rippen stachen hervor, Arme und Beine schienen nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Einer Eingebung folgend legte er ihr beide Hände auf den Brustkorb, der keine Bewegung zeigte. Ruth schleppte Wasser herbei und füllte einen großen Kessel damit, der neben dem Suppentopf auf dem kleinen, holzbefeuerten Herd stand, der den Raum mit wohliger Wärme versorgte. Als Ruth wieder hinausgehen wollte, um die Eimer erneut zu füllen, wurde sie gewahr, dass der Brustkorb der jungen Frau sich leise hob und senkte und dachte sich ihren Teil, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

      Als sie das nächste Mal wiederkam,