Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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ihren Glauben leben. Aber irgend wann ging das nicht mehr und sie wanderten aus.“

      „Woher kennst du sie?“ Magnus sah die junge Frau mit den wissbegierigen Augen lange an.

      „Sagen wir so: ich kannte ihre Familien.“ Sarah zog die Stirn kraus und überlegte.

      „Dann warst du vor langer Zeit schon einmal hier? Ich dachte, Xavier und Pauline seien so alt wie du …“

      „Es ist komplizierter, viel komplizierter.“ Sarah legte den Kopf schief.

      „So kompliziert wie deine Wiederauferstehung?“

      „Es hängt alles miteinander zusammen.“ Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her und Magnus merkte, dass Sarah noch etwas auf dem Herzen lag.

      „Wirst du uns verlassen?“, fragte sie mit brüchiger Stimme. Ihre Unterlippe zitterte. Magnus sah zu Boden.

      „Ich muss. Ich kann nicht ewig hierbleiben. Ihr seid bei den beiden gut aufgehoben.“

      „Wann?“, hauchte sie. Magnus lachte, obwohl ihm nicht danach zumute war und legte einen Arm um sie.

      „Dieses Jahr nicht mehr.“

      Draußen lag Schnee und Xavier war mit den jungen Leuten in den nächsten Ort gefahren, um dort eine Kutsche zu richten und Einkäufe zu tätigen. Magnus saß mit Pauline am brennenden Kamin, der wohlige Wärme ausstrahlte.

      „Du magst sie, nicht wahr?“, fragte Pauline einfühlsam.

      „Ja, ich mag sie. Sehr sogar.“

      „Wann wirst du abreisen?“

      „Im Frühjahr.“

      „Sie bleiben hier.“

      „Ja.“

      „Sie lieben dich.“ Magnus schluckte.

      „Ich weiß.“ Er stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Manchmal ist es wie ein Fluch, Pauline. Ich würde sie so gerne mitnehmen, sehen, wie sie ihren Weg machen, sich entwickeln, ihre Kinder aufwachsen sehen. Es geht nicht. Wie oft habe ich schon in solchen Situationen gesteckt? Ich kann keine Menschen dauerhaft an mich binden, Pauline. Sie würden es nicht verstehen. Ihr gehört zu den ganz wenigen, die wissen, was mit mir ist. Diese Situationen machen mir klar, wie einsam ich wirklich bin. Auf Ewigkeit einsam.“

      „Vergiss nicht, dass du schon vielen Menschen Glück gebracht hast, Magnus.“, versuchte Pauline den schluchzenden Mann zu trösten. „Unsere Familien hast du vor dem Verderben bewahrt; du hast uns aufwachsen sehen.“ Magnus setzte sich mit einem Ruck gerade hin und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

      „Du hast recht, Pauline. Andere Menschen glücklich zu machen, macht selbst glücklich, und ich habe allen Grund, glücklich zu sein. Aber manchmal habe ich auch schwache Momente. Ich bin nur ein Mensch.“ Bist du so sicher?, dachte Pauline, schlug aber etwas vor.

      „Du könntest doch in Kontakt bleiben; ihr könntet euch schreiben …“ Magnus nickte.

      3.

      „Wie geht es Grandma, Darling?“

      „Sie schmollt und hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen.“

      „Grüße sie trotzdem schön.“

      „Mach ich, und dir viel Glück morgen.“

      „Danke.“

      Gedankenverloren und lächelnd legte Holly auf. Ihre Tochter. Stefania war erst fünf, aber so gescheit wie eine Zehnjährige. Holly war stolz auf sie. Weniger stolz war sie auf den Zeugungsakt, der Stefania hervorgebracht hatte, aber sie verscheuchte den Gedanken schnell.

      Sie würde sich jetzt herrichten und essen gehen, obwohl dies ihr Budget erheblich strapazieren würde. In der Nähe gab es ein gutes Restaurant und sie hatte einen Tisch ergattert. Gutes Essen und ein guter Wein würden sie auf andere Gedanken bringen. Das hatte sie nötig vor morgen.

      Sie zog ein hübsches Kleid und bequeme Schuhe an, warf noch einen Blick in den Spiegel, der ihr eine gut aussehende, junge Frau zeigte, und verließ ihr Zimmer.

      An der Rezeption, die neben dem Eingang zur Gaststube lag, verhandelte der Kellner mit einem jungen Paar, das Englisch mit Akzent sprach. Sie grüßte mit einem Kopfnicken und trat in den lauen Abend.

      Draußen atmete sie einmal tief durch. Sie genoss die angenehme Luft, die zwar warm war, aber nicht so stickig wie zu Hause.

      Um diese Zeit war nicht mehr viel Verkehr und so konnte sie sich ein wenig umsehen. Es war hier völlig anders als zu Hause. Die Autos waren kleiner und fuhren schneller. Die Häuser waren nicht so hoch und die Straßen schmaler und enger bebaut. Außerdem war es wärmer, als ihr ein paar Leute einzureden versucht hatten, so dass sie dachte, ein paar Kilometer weiter wäre Sibirien.

      Nach ein paar hundert Metern schon erreichte sie das Restaurant, das in einem unscheinbaren, ja, hässlichen Backsteinbau untergebracht war. Umso positiver überrascht war sie von der geschmackvollen Inneneinrichtung, die die Räume großzügig ausnutzte. Von einem distinguierten Kellner wurde sie an einen Einzeltisch gebeten und bestellte zunächst ein Wasser. Das Lokal war etwa zur Hälfte gefüllt und die Gäste unterhielten sich meist leise. An den Tischen, auf denen Kerzen brannten saßen meist Paare. An einem etwas abseits gelegenen, größeren Tisch saß ein grauhaariger Mann alleine und mit dem Rücken zu ihr.

      Sie hatte einen Wein und ein Menü bestellt, der Preis war ihr egal, normalerweise würde sie nicht so viel für Essen ausgeben, als das fremdländisch aussehende Pärchen aus ihrem Hotel erschien und sich suchend umblickte. Der Kellner half und geleitete sie zu dem einzelnen Mann, den er höflich ansprach. Der Kellner trat zurück, als der Mann sich erhob und das Pärchen herzlich begrüßte. Holly konnte den Mann nicht sehen, denn der Kellner verstellte die Sicht. Das Pärchen machte jedoch einen glücklichen, wenn nicht gar einen verzückten Eindruck, als es dem Mann gegenüber Platz nahm.

      Für Hollys Mission wäre es sehr aufschlussreich gewesen, wenn sie hätte hören können, was die drei sich zu erzählen hatten, doch die Distanz war zu groß.

      „Ihr seid also die Enkel von Ruth Leibowitz.“, stellte der Mann mehr fest, als dass er fragte.

      „Und Sie sind der Enkel von Magnus Montanus?“, wollte die junge Frau mit den lockigen schwarzen Haaren wissen.

      „Gewissermaßen.“, nuschelte der Mann. „Ruth ist also gestorben?“, fragte er mit Anteilnahme.

      „Ja, Großmutter ist tot. Es war ihr Wunsch, dass wir einen Mann namens Magnus Montanus in Deutschland ausfindig machen und ihm einen Brief von ihr übergeben.“, erklärte der junge Mann.

      „Ist es euch schwer gefallen, hierher zu kommen? Ich meine, dies ist Deutschland.“, fragte Magnus mit Interesse.

      „Nein, diese Gefühle haben wir nicht. Selbst Ruth spielte manchmal mit dem Gedanken, zu reisen, auch, um Sie kennenzulernen, aber die Erinnerungen waren noch zu wach.“

      „Ich verstehe.“

      „Ihr Großvater hat Ruth das Leben gerettet.“

      „Ja.“

      „Sie sehen Ihrem Großvater sehr ähnlich.“, bemerkte die Frau.

      „Ja, das ist wohl so. Erstaunlich, nicht? Sie haben sicher … Erkundigungen über mich eingezogen.“ Der Mann lachte.

      „Das ist ja heutzutage nicht sehr schwer. Ja, wir haben etwas geforscht.“

      „Sie gleichen Ihrem Vater fast bis aufs Haar, und sie alle tragen den selben Namen.“, meldete sich die Frau.

      „Tja, das ist unser Fluch.“, lachte Magnus, aber seine Augen lachten nicht mit. Der junge Mann zog einen Umschlag aus dem Jackett und reichte ihn Magnus, der ihn aber ungeöffnet zur Seite legte.

      „Jetzt nicht. Lasst uns erst was essen.“