Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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Überlebenskampf und Versteckspielen verbracht, dachte er.

      Holly schob ihren leeren Teller von sich und lehnte sich zurück.

      „Puh, ich bin satt; das war sehr gut.“ Montanus schob ebenfalls den Teller nach vorn und betupfte sich die Lippen mit einer Serviette.

      „Digestif?“, fragte er und trank sein Bier leer. Holly nickte verunsichert.

      „Dann nehmen wir einen Grappa.“ Grappa. Was war das?

      Er räumte ab und erschien mit zwei kleinen, langstieligen Gläsern, einer kleinen Flasche und einem neuen Bier. Holly verzog das Gesicht etwas, als die Flüssigkeit sich ihre Speiseröhre herunterbrannte.

      „Was kann ich denn nun für Sie tun, Mrs. Bryant?“ Montanus lehnte sich entspannt zurück.

      Holly nahm noch einen Schluck Wein ohne Wasser, um sich Mut zu machen, überlegte kurz und begann, wie sie es sich ausgedacht hatte, was im wesentlichen hieß, zunächst die harmlosere Variante zu erzählen.

      „Mein Name ist Bryant, weil meine Großmutter mütterlicherseits einen Bryant geheiratet hat. Ihr Familienname hingegen war Montanus …“ Der Gastgeber hatte sich anscheinend an seinem Bier verschluckt.

      „Entschuldigung.“, hustete er in seine Serviette und griff zur Zigarettenschachtel.

      „Keine Sorge, wir sind nicht verwandt.“, lachte Holly und fuhr fort: „Die Namensgleichheit liegt ganz einfach daran, dass der Mann und die Frau, die am Anfang unserer Familiengeschichte stehen, als Sklaven einem Mann gehört hatten, der diesen Namen trug. Damals trugen die Sklaven die Nachnamen ihrer Besitzer.“ Sie wartete auf eine Reaktion, erhielt aber keine, außer, dass er sie bemüht ausdruckslos ansah. Sie zog Maddys Bilder aus ihrer Tasche und bekam schon wieder ein schlechtes Gewissen, als Montanus aufsprang und hineinging. Kurz darauf wurde es hell auf der Terrasse und er setzte sich wieder, so dass sie ihm die Bilder hinlegen konnte. Er beugte sich vor und schaute auf die Blätter, doch Holly schien es, als sähe er gar nicht richtig hin, als husche sein Blick nur flüchtig – pro forma? – darüber, er reagierte aber nicht.

      „Dieser Mann hieß Magnus Montanus, wie Sie. Er hatte die beiden freigekauft.“ Jetzt, direkt angesprochen, musste er reagieren.

      „Ja.“ Er machte eine Pause und sein Blick kehrte sich nach innen. Er war hundertfünzig Jahre jünger und verabschiedete sich von Sarah und Tom. Noch nie in seinem Leben hatte er so schmerzlich Abschied nehmen müssen. Minutenlangen Umarmungen folgte herzzerreißendes Weinen. Xavier musste Sarah davon abhalten, dem Zug hinterherzulaufen. Viele Jahre hatte Sarah ihm geschrieben, bis er umziehen musste und ihre Briefe nicht mehr kamen. Dafür kamen seine zurück, weil offenbar auch jenseits des Atlantiks Veränderungen stattgefunden hatten. Sarahs Briefe füllten zwei Karteikästen in seinem Tresor. Er hatte Mühe, seine Gesichtszüge zu kontrollieren, musste alle Willenskraft aufwenden, um die Tränen zurückzuhalten, doch irgendwann ging das nicht mehr. Zu viele Gefühle verbanden ihn mit Sarah und ihrem Freund. Montanus erhob sich mit abgewendetem Gesicht zum dritten Mal und ging zum dritten Mal hinein und ließ Holly ratlos zurück. Er begab sich in den Keller, schloss sich ein und ließ seinen Gefühlen ihren Lauf.

      Nach unendlichen zehn Minuten kehrte er, scheinbar gelassen, wieder zurück und sah ein fragendes Gesicht.

      „Sie müssen mich entschuldigen, aber im Keller musste etwas gerichtet werden und das Single-Dasein lässt mich manchmal die Höflichkeit vergessen. Wo waren wir stehen geblieben? – Ach ja. Nun, es ist möglich, nein, sogar wahrscheinlich, dass es sich um einen Vorfahren gehandelt hat, denn unser Name ist nicht so häufig und die Verbindung mit dem Vornamen wird in unserer Familie seit Jahrhunderten weitergegeben. Aber ich weiß nichts darüber, tut mir leid.“, bedauerte er. Holly legte ein anderes Foto auf den Tisch.

      „Burt und Edna King, Edna eine geborene Montanus, waren begnadete Köche. Sie träumten von einem eigenen Restaurant, hatten in einem schwarzen Viertel New Yorks jedoch nur eine Imbissbude. Eines Tages erhielten sie die Chance, ein Restaurant in einem besseren Viertel zu mieten. Sie kratzten ihr Geld zusammen, richteten es neu ein und eröffneten ihr Lokal. Doch es kamen keine Gäste, die Fenster wurden eingeschlagen, Burt angegriffen. Das alles, weil sie Schwarze waren und nicht in dieses Viertel gehörten. Dann eröffnete ein paar Häuser weiter eine erlesene Weinhandlung mit Weinen und Schnäpsen aus Europa. Zur Eröffnung kam der Boss selbst. Er hörte von Burt und Edna und orderte das Eröffnungsbuffet bei ihnen. Es wurde ein voller Erfolg. Der Boss aß jeden Abend bei Burt und Edna und schon bald kamen die Gäste, die das Buffet kennengelernt hatten und sahen, dass Weiße auch bei Schwarzen essen können. Die Übergriffe hörten auf. Der Weinhandel belieferte Burt und Edna zu Vorzugspreisen. Der Boss des Weinhandels hieß Magnus Montanus.“ Holly goss sich noch ein Glas Wein ein und Montanus holte sich noch ein Bier.

      „Ja, das Weinkontor haben wir immer noch. Hin und wieder bin ich dort, wenn ich mal in den USA bin.“ Kein weiterer Kommentar.

      Einen weiteren Grappa lehnte Holly ab, was ihn nicht hinderte, sich noch einen doppelten zu genehmigen. Wenn er so weitermacht, dachte Holly, ist er gleich blau, vielleicht bekomme ich dann die Wahrheit aus ihm heraus. Holly legte das nächste Bild auf den Tisch.

      „Washington 1963. ‚I had a dream‘, Martin Luther King. Meine Großtante Patty, damals verlobt mit Dick Bryant, war dabei. In ihrer Nähe befand sich aber auch ein durchgeknallter weißer Rassist, der eine Waffe zog und in die Menge schießen wollte. Ein Mann“, sie legte das Bild auf den Tisch, „ der aussah wie Sie, entwand ihm die Waffe, nachdem ein Schuss gefallen war, der aber scheinbar niemanden verletzte. Patty verdankt ihm sein Leben.“ Holly sah ihn herausfordernd an und er sah mit einem unschuldigen Blick zurück.

      „Kann mein Vater gewesen sein, aber er hat nie darüber gesprochen; er war ein bescheidener Kerl.“ So einfach ist das also.

      „Gibt’s eigentlich auch Mütter in ihrer Familie?“ Aufgrund des Alkohols klang Holly unwillentlich ein wenig aggressiv.

      „Sicher, aber die haben sich immer sehr im Hintergrund gehalten.“ Ende der Information. Holly legte das nächste Foto auf den Tisch.

      „Tennessee, 1985. Abraham Montanus wird vom KKK entführt und soll misshandelt werden. Ihr … Vater ist geschäftlich dort unterwegs und erfährt von seinem Namensvetter Lyndon Montanus, Abrahams Vater. Er sucht ihn gerade an dem Tag auf, als Abe entführt wird und bietet seine Hilfe an. Gemeinsam machen sie sich auf, den Jungen zu finden; Ihr Vater ist bewaffnet, zerschießt die Peitsche, mit der Abraham verprügelt werden soll und erschrickt die Kapuzenmänner durch ein paar Schüsse, die Party ist aus. Hat er davon auch nichts erzählt?“ Die Zweifel waren deutlich herauszuhören.

      „Nein.“, beschied er sie knapp.

      „Will Montanus will einen Magnus Montanus Ende des zweiten Weltkrieges in den Alpen getroffen haben; in einem Berggasthof – zusammen mit einer Partnerin, der ersten, die erwähnt wird.“

      „Da sehen Sie‘s.“ Er sah sie triumphierend an und nun auf den Boden und faltete die Hände, die Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln. Holly trank Wein.

      „Unsere Familien treffen immer wieder aufeinander, seit einhundertfünfzig Jahren.“, resümierte sie.

      „Und jetzt sitzen Sie hier.“, stellte er nachdenklich fest.

      „Und jetzt sitze ich hier.“ Er sah sie an und sie glaubte, einen seltsamen und gleichzeitig vertrauten Ausdruck in seinen Augen zu erkennen. Sie kannte genau diesen Ausdruck von ihrer Tochter. Holly verscheuchte mit einem Kopfschütteln einen Gedanken.

      „Es ist schön, dass Sie mir das alles erzählt haben, ich wusste es nicht. Jetzt kann ich auf meine Vorfahren noch ein wenig stolzer sein.“, gab er vor.

      „Die sahen alle so aus, wie Sie.“, gab sie Bekanntes bekannt.

      „Das ist bei uns so.“, war seine lapidare Antwort auf ihre Provokation.

      „Das ist ungewöhnlich. Das ist sogar unmöglich. Über Generationen hinweg verändert sich das Aussehen.“, behauptete sie etwas lauter.

      „Bei uns eben