Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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im Nahen Osten zur Sprache kam. Immer gelang dies jedoch nicht.

      „Woher kommt eigentlich Ihr Name?“, fragte die wissbegierige Frau.

      „Oh, der Name ist uralt und kommt aus dem Lateinischen. Er könnte ‚Großer Berg‘ bedeuten. Meine Vorfahren müssen wohl im Gebirge gelebt haben.“

      „Könnte es damit zusammenhängen, dass die Ursprünge Ihres Unternehmens im Süden zu suchen sind, in Alpennähe?“

      „Möglich, aber es finden sich keine schriftlichen Belege, jedenfalls, so weit ich das weiß.“, gab Magnus vor.

      „Und alle männliche Nachkommen tragen den gleichen Vornamen?“

      „Ja.“

      „Haben Sie einen Sohn?“ Die Israelin war tatsächlich sehr wissbegierig.

      „Nein.“

      „Dann sind Sie der Letzte in einer langen Kette?“ Magnus schmunzelte.

      „Was nicht ist, kann noch werden.“ Die Geschwister lachten höflich mit.

      „Ihre Familie hat häufig den Hauptwohnsitz gewechselt.“, stellte die Neugierige fest und verwandelte diese Scheinaussage in eine Frage.

      „Häufig?“ Die Frau lachte.

      „Na ja, wir denken vielleicht ein wenig in eher biblischen Kategorien. Eigentlich lebt jede Generation Ihrer Familie woanders, und zwar ziemlich weit entfernt vom vorherigen Wohnort.“

      „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“, log Magnus. In der Tat war diese Art des Versteckspiels in der heutigen Zeit sinnlos geworden. Räumliche Distanzen spielten keine Rolle mehr. Ganz früher reichte ein Umzug in ein anderes der deutschen Länder, und schon waren nach kurzer Zeit alle Spuren und Erinnerungen verwischt. Vor etwa hundert Jahren musste er zu diesem Zwecke schon ein paar Jahrzehnte ins Ausland, aber heute? Er würde sich etwas einfallen lassen müssen.

      Holly war gerade unter den Tisch getaucht, um nach ihrer heruntergefallenen Serviette zu fischen, als der grauhaarige Mann an ihr vorüberging, und als er zurückkam, stand der Kellner vor ihr, um ihr eine neue Flasche Wein zu bringen. Danach hatte sie wegen des Alkohols ohnehin Fokussierungsprobleme.

      Aber seine Stimme hörte sie manchmal, ohne zu lauschen. Und die klang sanft und sonor. Sie hörte die Melodie seiner Stimme gerne, stellte sie fest. Aber sie konnte nicht hören, über was gesprochen wurde.

      „Ich würde gerne den Brief von Ruth alleine zu Hause lesen, wenn ihr nichts dagegen habt.“

      „Nein, sicher nicht; es ist ja eine sehr persönliche Geschichte. Sicher für Sie auch interessant, was Ruth über Ihren Großvater zu sagen hat.“, lächelte der junge Israeli.

      „Wie lange bleibt ihr im Lande?“

      „Oh, wir verbinden diesen Auftrag mit einer Europareise; wir bleiben noch einen Tag hier und dann geht es weiter.“

      „Dann sollten wir uns morgen noch einmal sehen. Wieder hier? Selbe Zeit?“ Die beiden nickten und Magnus verabschiedete sich, zahlte und ging hinaus, wo er einen großen, schwarzen Wagen bestieg. Holly achtete nicht auf ihn, sondern darauf, ihren Wein nicht zu verschütten.

      „Hey, ist das nicht das Mädel aus dem Hotel?“ Der Mann wies seine Schwester auf Holly hin, die dem Ausgang des Restaurants entgegenschwankte.

      „Wir sollten besser mit ihr gehen.“, raunte die Frau fürsorglich, und so kam es, dass Holly von ihnen in die Mitte genommen wurde.

      „Das ist aber nett von euch.“, erklärte Holly lallend und sah rechtlinks dieeinedenanderen an.

      „Ist doch klar, wir sind doch Nachbarn.“

      „Was war denn das für ein Typ, mit dem ihr euch unterhalten habt?“ Die Israelin lachte.

      „Der Enkel eines Bekannten unserer verstorbenen Großmutter.“

      „Oh je.“

      „Genau.“

       Lieber Magnus,

       ich nenne dich einfach so, wie ich dich immer genannt habe, weil ich glaube, dich damit richtig anzureden. Ich habe über sechzig Jahre über dich nachgedacht, und ich will dir mitteilen, was dabei herausgekommen ist. Erwarte kein Dankschreiben, das ich kurz vor meinem Tode an dich verfasse. Erstens weißt du wie dankbar ich dir bin und zweitens weiß ich, dass du überschwänglichen Dank nicht magst. Wir haben ja damals Zeit genug gehabt, uns kennenzulernen, in deiner Eishöhle. Über die Umstände unseres Kennenlernens haben wir damals auch lange genug geredet, das muss ich nicht wiederholen. Du hättest einen Platz im Garten der Gerechten verdient gehabt, aber du wolltest ja nicht. Alter Sturkopf. Aber ich glaube jetzt zu ahnen, was deine Gründe waren, meinen Vorschlag abzulehnen. Es ist die, wie man heute sagt, Publicity, die du gar nicht gebrauchen kannst. In den Jahren in der Höhle hatte ich Gelegenheit genug, dich anzuschauen, jemand anderes war ja nicht da. Ich kannte bald jede deiner Gesten, deiner Bewegungen, ich kenne jeden Quadratzentimeter deiner Haut. Die Zeitungsfotos, gerade der ersten Jahrzehnte nach dem Kriege, waren schlecht. Aber dann gab es kurze Filmausschnitte von dir und scharfe Bilder in diesem Internet. Du behauptetest, ein Nachkomme dessen zu sein, den ich kennenlernen durfte, und erklärtest die große Ähnlichkeit mit den Genen. Aber seit wann werden kleine Narben vererbt? Entschuldige, aber wenn es Aktfotos von dir gegeben hätte, wäre die Sache für mich sehr deutlich geworden. Magnus Montanus, du bist derselbe Mann, der mich damals in seiner Höhle versteckt hat. Ich weiß es und ich bin stolz darauf. Ich habe mich damals gewundert, warum du nicht verletzt worden bist, als der Soldat auf dich geschossen hat; ich habe nämlich Blut aus deinem Arm spritzen sehen. Es hängt damit zusammen, nicht wahr? Kleine Kratzer hinterlassen kleine Narben, aber Schussverletzungen verheilen spurlos. Wenn meine Enkel dir diesen Brief überreichen – keine Sorge, sie werden ihn nicht lesen, nur, sie sind nicht auf den Kopf gefallen und können eins und eins zusammenzählen - , wirst du genauso alt sein, wie damals, als wir uns kennenlernten. Ich weiß ja nicht, wie lange das schon geht, aber ich würde mich nicht wundern, wenn du das Geburtsdatum mit jemandem teilst, der nicht sehr alt geworden ist, aber gleichwohl lebt. Als ich das alles herausgefunden hatte, habe ich mich göttlich amüsiert, wenn du verstehst, was ich meine.

       Schade finde ich nur, dass wir uns nie wiedersehen werden, egal, wo ich lande, im Himmel oder in der Hölle.

       Ist es frivol, dir Lebewohl zu wünschen?

      

       Deine Ruth

      

      

      Magnus ließ die Blätter sinken und faltete sie zusammen, bevor er sie wieder in den Umschlag tat. „RuthRuthRuthRuth.“, murmelte er, als er den großen Tresor öffnete, einen Karteikasten hervorzog, auf dem ‚Ruth‘ stand und den Umschlag hineinlegte zu ihren anderen Briefen.

      4.

      Holly erwachte mit einem pelzigen Geschmack auf der Zunge, einem trockenen Gaumen, kalten Füßen, verschwitzter Stirn, einem flauen Gefühl im Magen und einem Pochen im Kopf. Dies alles erleichterte ihr die Rekonstruktion des gestrigen Tages nicht gerade. Vielleicht sollte sie mit dem Essentiellen beginnen. Wo war sie und warum? Sie arbeitete nach dem Prinzip der konzentrischen Kreise: erst mal die unmittelbare Umgebung, dann die entfernter liegenden Lokalitäten. Sie lag in einem Bett. Okay. Was war das für ein Bett? Ein Hotelbett, denn die kleine, stickige Kammer schien ein Hotelzimmer zu sein. Sie schaute sich um. Ihr Kleid hing über einem Stuhl, ihre Tasche lag darauf. Die anderen Sachen hatte sie noch an. Aus einem Seitenfach der Tasche lugte ein Papier, das sie glücklicherweise ohne große Mühe erreichen konnte, indem sie ihren linken Arm ein wenig ausstreckte. Kleine Hotelzimmer haben eben auch Vorteile. Der Zettel enthielt Buchstaben und Zahlen. Aha. Die Zahlen sprachen eine Sprache. Die Buchstaben auch, aber diese Sprache konnte sie nicht. Eine Rechnung. Die Rechnung eines Restaurants. Ja. Die viel zu hohe Rechnung eines Restaurants. Sie musste auf ihr Budget achten.