Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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um sich sofort nach Sarah umzusehen, die er ein paar Meter entfernt entdeckte. Seine Freundin stand bereits auf schwachen Beinen in der Sonne und auf staubigem Boden, eiserne Fesseln um die Knöchel und die Hände auf dem Rücken zusammengeschlossen. „Sarah!“, rief er matt.

      „Halts Maul!“, fuhr ihn der Aufseher an, fesselte seine Füße und Hände wie Sarahs und stieß ihn vor sich her. „Auf geht’s! Du auch, Niggerweib.“ Mit kleinen Schritten torkelten die beiden jungen Schwarzen vor dem Mann mit der Bullenpeitsche her, auf eine Scheune zu. Toms vorne offenes Baumwollhemd und die leinene Hose starrten vor Dreck und Sarahs einfachem Kleid ging es nicht anders. In der Scheune riss der Mann ihnen die Fetzen vom Leib und übergoss sie mit ein paar Eimern Wasser, was sie, ängstlich schweigend, über sich ergehen ließen. Worte hätten alles nur schlimmer gemacht.

      „Los, wascht euch! Und dann zieht die neuen Sachen an.“ Der Wärter betrachtete lüstern ihre nackten Körper. Tom war kräftig gebaut, mit breiten Schultern und ausgebildeter Muskulatur, während Sarah fast noch die Figur eines Mädchens hatte, mit schmaler Taille und kleinen Brüsten, die sie vor dem Weißen zu verbergen suchte.

      Nachdem sie sich notdürftig gesäubert hatten, bekamen sie neue Kleidung. Tom allerdings nur eine Hose, damit die potenziellen Käufer seinen kräftigen Oberkörper sehen konnten. Sarah durfte ihr Kleid nicht ganz hochziehen, damit die Herrschaften ihre kleinen Brüste sehen konnten. Dann wurden sie an der Vorderseite der Scheune auf ein Podest gestellt, vor dem sich einige weiße Menschen versammelt hatten.

      Ein paar Farmer waren dabei, die Arbeitskräfte suchten, ein eleganter Herr hatte seinen halbwüchsigen Sohn mitgebracht. Frauen fehlten. Die Gespräche erstarben, als der Auktionator die Versteigerung des letzten lebenden Inventars der Salinger-Farm eröffnete und „Tom und Sarah Salinger, geboren 1844.“, ankündigte. Sarah stiegen Tränen in die Augen. Sie musste sich hier halb entblößt präsentieren, würde sehr bald von Tom getrennt und sah einem sehr ungewissen Schicksal entgegen. Doch zunächst einmal sah sie gar nichts, dies verhinderten die Tränen.

      Tom hingegen sah sich interessiert um, schließlich war es das erste Mal, dass sie verkauft wurden; er sah in die Gesichter der Leute. Einem dieser Männer würde er bald gehören. Männliche Arbeitssklaven waren gefragt, da die Söhne der Farmer im Krieg waren und jede Hand benötigt wurde, das wusste er. Da aller Blicke ausschließlich auf ihn gerichtet waren, bekam er Angst um Sarah. Die kleine Hoffnung, dass jemand sie als Paar kaufen würde, schwand. Sie würden getrennt werden und sich nie wiedersehen. Er warf einen raschen Blick auf das zarte Mädchen neben sich und seine Brust schnürte sich zu. Die Männer fingen an zu bieten. Tom fiel auf, dass einer nicht mitbot. Der Mann sah aus wie ein Reisender, unpassend unelegant, dafür praktisch gekleidet und unrasiert. Auf dem ergrauenden, nackenlangen Haar saß ein Hut, die Augen blickten aufmerksam und grau, die Nase war etwas lang und die Lippen aufeinandergepresst, was nicht auf eine entspannte Gemütsverfassung schließen ließ.

      In einiger Entfernung sah Tom zwei Pferde grasen, die nicht festgebunden waren wie die der anderen Bieter.

      Der Sohn tuschelte mit dem Vater und zeigte auf die lebende Ware, wobei er sardonisch lächelte. Dem Reisenden, der direkt hinter den beiden stand, war dies nicht entgangen. Der Vater bot jetzt auch für Sarah, aber Tom hatte kein gutes Gefühl dabei, wenn er in das Gesicht des dicklichen Knaben sah.

      Sarah dachte daran, sich umzubringen, wenn sie in die Hände dieses Pärchens geriet. Was sie nicht wissen konnte, war, dass sie sich damit würde beeilen müssen, falls der Vater sie erstehen würde, denn die beiden hatten weitaus Schlimmeres als ihren Tod mit ihr vor.

      Der Vater rief sein letztes Gebot, der Auktionator schlug zum ersten mit einem Hämmerchen auf sein Pult, Sarahs Augen füllten sich erneut und Toms Knie wurden weich, als er den hasserfüllten Blick des feisten Jungen sah und als sich der Reisende zu Wort meldete und eine Summe nannte, die deutlich über der des Vaters lag. Die anderen Interessenten, die sich schon abgewendet hatten, hielten kurz inne, um einen Blick auf den Fremden zu werfen, lupften die Augenbrauen und stapften dann unverrichteter Dinge davon zu ihrer Arbeit. Hier konnten sie nicht mithalten. Auch der Vater mit dem Sohne wendete sich enttäuscht ab.

      Der Reisende, der nicht den Eindruck machte, als könne er den Kaufpreis bezahlen, trat zum Auktionator und nestelte an seinem Gürtel, als der Adipöse ihn am Ärmel zupfte und fragte: „Dürfen wir wenigstens zuschauen?“ Von unten sah der Knabe den Reiter mit rotem Kopf an.

      „Wobei zuschauen?“, fragte der Fremde ahnungsvoll.

      „Wenn Sie sie langsam töten.“, lächelte der Dicke sadistisch. Der Reisende beugte sich zu dem Kleinen hinab, bohrte seinen Blick in dessen Augen und flüsterte sardonisch heiser: „Für wie viel, glaubst du, würde dich dein Vater hergeben? Fünftausend? Zehntausend? Ich hätte dann dreifaches Vergnügen.“ Die Röte des Mondgesichts wich einer angemessenen Blässe, seine Augen weiteten sich, sein Schritt wurde dunkel, sein Mund öffnete sich zu einem Schrei und dann rannte er davon und der Erzeuger hinterher. Um den Mund des neuen Sklavenbesitzers zuckte es, als er dies sah. Seinem neuen Eigentum allerdings kam dies nicht sehr hoffnungsvoll vor. Zufrieden nahm er die Urkunden, Schlüssel für die Handschellen und zwei Kälberstricke entgegen, ließ die Fußfesseln entfernen – „Habs eilig.“ – und führte seinen neuen Besitz an den um deren Hälse gebundenen Stricken zu seinen zwei Pferden, von denen eins ein Packpferd zu sein schien.

      An die beiden jungen Schwarzen hatte er noch kein Wort gerichtet, wobei er sich im Bereich des Üblichen bewegte. Tom rätselte noch, was ein Durchreisender wohl mit zwei Sklaven anstellen wollte und ahnte nichts Gutes, als ihm auffiel, dass sein neuer Besitzer keine Sporen trug, was nicht im Bereich des Üblichen lag. Ebenso unüblich schien Tom, dass der lederne Sattel, den der Mann jetzt besetzte, nicht über den üblichen Knauf verfügte, so dass er die losen Enden der Stricke in der Hand halten musste. Dachte der junge Mann nun, dass der Reiter ja auch das Packpferd an einem Strick hinter sich herziehen müsste, sah er sich getäuscht, denn das Tier setzte sich ganz von selbst in Bewegung und schritt hinter seinem Kollegen her.

      Am Ausgang des Geländes, auf dem die Auktion stattgefunden hatte, wartete der Vater mit dem Sohne, dessen Hose im Schritt dunkel eingefärbt war und der sich ängstlich an seinen Erzeuger klammerte, in einer prächtigen Kutsche auf das Trio.

      „Entschuldigen Sie sich sofort bei meinem Sohn.“, forderte der Alte streng und mit einem Blick, der eine Portion Unsicherheit verriet. Der wollte eindeutig seinem ungeratenen Sprössling imponieren.

      „Wofür?“, fragte der Reiter unschuldig, aber mit finsterem Gesicht.

      „Für die Beleidigung.“ Der Reiter lachte, zog einen kleinen Stab aus der Jackentasche, steckte diesen in den Mund und blies die Backen auf, worauf die Kutschpferde des Eleganten die Ohren spitzten und, mitsamt Kutsche und Ladung, davonstoben, als sei ein Ungeheuer hinter ihnen her, begleitet von dem Lachen des Bläsers und den erstaunten Blicken der bemitleidenswerten Geschöpfe, die jetzt hinter diesem an Kälberstricken hinterhertrotteten.

      Das tagelange Hocken in den Löchern war einem raschen Voranschreiten nicht gerade förderlich, und so ging es nur langsam voran. Hinzu kamen die Hitze, der Durst und der Hunger der beiden Entrechteten. Doch Tom und Sarah, die anderes gewohnt waren, warteten vergebens auf antreibende Flüche oder gar Schläge; sie hatten sogar den Eindruck, als verlangsame ihr neuer Herr das Tempo, wenn der merkte, dass die Stricke sich strafften. Sie warfen sich heimlich Blicke zu, die ihre Überraschung nicht verbargen. Nach zwei Stunden hatten sie die letzten menschlichen Behausungen hinter sich gelassen, und freies Gelände und hin und wieder eine Ansammlung von Bäumen, die nicht Wald genannt werden konnten, lösten bestellte Felder und Weiden ab. Menschen waren sie in der letzten Stunde nicht mehr begegnet. Nun zügelte der Master sein Tier und auch das Packpferd blieb stehen, wie von Geisterhand gestoppt.

      Der Master ließ die Strickenden, leichtsinngerweise, wie seine beiden Sklaven fanden, fallen und stieg vom Pferd herab. Er setzte den Hut ab und legte ihn auf den Sattel, dann wandte er sich grauhaarig seinem neuen Besitz zu. Atemlos und verschwitzt sahen die beiden ihn ängstlich an. Was würde jetzt folgen? Eine Machtdemonstration, um klarzumachen, wer der Herr ist? Doch der Master griff in eine Tasche seiner leichten, ledernen Jacke und zog den Schlüssel heraus, den er