Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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Wand bildete die Fensterfront zum Garten, der im Dunkeln lag. So viele Bücher hatte Holly bei Privatleuten noch nie gesehen. Es handelte sich hauptsächlich um alte Bücher. Sie trat näher an die Regale heran. Bibeln, Korane, so weit sie das beurteilen konnte. Zum größten Teil konnte sie die Beschriftungen der Deckel nicht lesen, da sie die Sprachen nicht kannte. Philosophische Literatur. Keine Belletristik. Montanus kam und stellte Getränke auf einen niedrigen Tisch.

      „Ich …“, wollte sie das Thema wieder aufgreifen, das sie im Augenblick am meisten beschäftigte, doch er war daran nicht interessiert.

      „Lassen Sie es, es ist doch jetzt gut. Mir geht es gut, okay?“ Holly nickte, meinte es aber nicht so.

      „Haben Sie die alle gelesen?“, fragte sie höflichkeitshalber und, seinem Wunsch entsprechend, ablenkend.

      „Die meisten.“

      „Verbringen Sie viel Zeit mit Lesen?“, fragte Holly leise, was Montanus lachen ließ.

      „Davon habe ich wahrhaft genug.“ Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, ich lese nicht mehr so viel wie früher. Das Wichtigste ist geschrieben und das habe ich gelesen.“

      „Ich habe Sie angegriffen, habe Sie verletzt …“

      „Jetzt ist aber gut. Ich habe Ihre Familie beleidigt. Ich will Ihnen von Tanja erzählen.“ Er wies auf einen freien Sessel.

      Holly setzte sich widerwillig und zögernd.

      „Mein Großvater war zum Ende des Krieges in eine Berghütte, einen Gasthof, gezogen, der dem Unternehmen gehörte, weil es da am sichersten war. Er hatte sich nie für Politik interessiert, fand aber das Naziregime abscheulich …“

      „Interessieren Sie sich für Politik?“

      „ Ja, ich bin an Politik interessiert, und das hängt mit Tanja zusammen und mit der Großmutter der beiden Israelis, die Sie kennengelernt haben. Mein Großvater beobachtete eines Tages, der Berggasthof gehört seit Jahrhunderten meiner Familie, eine Menschenschlange in einem Tal. Es handelte sich um Insassen eines KZ, die Anfang 1945 zu ihrer Ermordung an einen geheimen Ort gebracht werden sollten, ein sogenannter Todesmarsch. Wer unterwegs liegenblieb, wurde erschossen. Und es blieben viele liegen, denn es gab keine Verpflegung. Er folgte heimlich diesem schwerbewachten Marsch und sah, wie eine junge Frau, die sich barfuß durch den Schnee kämpfte, umfiel und nicht mehr aufstehen konnte. Ein Soldat legte bereits auf sie an, als Großvater ihn überwältigte, sich die Frau über die Schulter warf und mit ihr auf geheimen Wegen, die nur er kannte, zu seiner Berghütte stapfte. Er war stundenlang unterwegs und musste vom Tal sehr hoch hinauf. Die Frau war das, was man damals ‚Zigeunerin‘ nannte; deshalb war sie dem Tode geweiht. Er versteckte sie, nahm sie bei sich auf, und mit der Zeit wurden sie ein Paar. Sie starb in den Siebzigern.“

      Holly hörte diese kleinen Lügen nicht mehr, hörte nicht mehr, wie seine Stimme brach, denn sie war eingeschlafen.

      Holly erwachte in einem großen, luftigen Zimmer mit einer hohen Decke. Dankbar griff sie nach der Wasserflasche, die ihr jemand, natürlich Montanus, mit einem Glas auf den Nachttisch gestellt hatte und trank gierig. Die Vorhänge bewegten sich leicht vor dem geöffneten Fenster. Ihre Kleidung war sorgfältig auf einem Stuhl gestapelt. Ihre Kleidung? Bis auf den Slip war sie nackt. Langsam begriff sie und versuchte, den letzten Abend zu rekonstruieren. Monty, so nannte sie Montanus für sich, hatte von einer Tanja erzählt, die sein Großvater gerettet hatte, und Holly war dabei eingeschlafen. Noch so eine Unhöflichkeit. Seine Familie schien aus Samaritern zu bestehen. Sie hatte Monty angegriffen, ihn verletzt, und er hatte sie bei sich übernachten lassen. In diesem riesigen Gästezimmer. Was war er für ein Mensch? Zeitweise hatte sie Angst vor ihm gehabt, als er sie so angeschaut hatte. Dann hatte er ihr leid getan, als er so traurig geschaut hatte. Wie Stefania. Und sie hatte ihn für seine Überheblichkeit gehasst. Das Messer hatte tief in seiner Brust gesteckt, sie hatte es genau gesehen. Aber er schien keine größere Verletzung davongetragen zu haben, schien keine Schmerzen gehabt zu haben. Sie musste pinkeln. Wo war ein Bad? In dem Zimmer gab es nur eine Tür. Sie stand auf und ging hinaus und geradewegs auf eine Tür am Ende des Ganges zu. Monty hatte viel getrunken und schien doch nicht betrunken gewesen zu sein. Es war die Badezimmertür. Offensichtlich war dies nicht das Gästebad. Das war ihr aber egal. Sie musste dringend. Sie sah ins Waschbecken. Es war blutig. Sie setzte sich. In der Wanne lag ein blutgetränktes Hemd. Von wegen, nur ein Kratzer. Aber er hatte nicht gewirkt, als sei er so schwer verletzt. Am Rand des Waschbeckens lag ein gebrauchtes Pflaster. Es war nicht blutig.

      Sie fühlte sich mies, schuldig, sie hatte sich eines Verbrechens schuldig gemacht gegenüber einem Mann, ohne dessen Ahnen es ihre Familie gar nicht geben würde. Sie konnte sich nicht ihr Spiegelbild ansehen.

      Als sie die Tür öffnete, um in ihr Zimmer zu gehen, stand er vor ihr. Sie erschrak. Sie versuchte erst gar nicht, ihre Blöße zu bedecken, denn schließlich würde er es gewesen sein, der sie ausgezogen hatte. Er hob eine Hand, als ob er sie berühren wollte, und sie schloss schon die Augen und schob ihren Kopf vor, um diesen Augenblick zu genießen, doch es folgte keine Berührung; er ließ die Hand wieder sinken und sie öffnete die Augen wieder. Es war Enttäuschung in ihrem Blick.

      „Guten Morgen.“, sagte er freundlich. Er trug Jeans, ein braunes Poloshirt und Sandalen und sah sie offen an. Seine Augen waren anders als gestern. Als habe er etwas beschlossen und sei zufrieden damit. „Ich habe den Frühstückstisch gedeckt und Ihre Sachen aus dem Hotel geholt.“

      „Meine Sachen? Warum?“

      „Weil ich meine, dass Sie hier besser aufgehoben sind.“

      „Aber …“

      „Machen Sie sich fertig. Sie können mein Bad benutzen, oder das Gästebad dort drüben. Ich warte unten auf der Terrasse.“

      Holly duschte, zog sich an und dachte die ganze Zeit an diesen Mann, den sie gestern noch hatte umbringen wollen, in einem Aufwall von Gefühlen, der ihr aber andererseits äußerst sympathisch war. Ja. Sie musste sich eingestehen, dass sie Gefühle für ihn hegte, aber sie musste es ignorieren, zu widersprüchlich war diese ganze Situation.

      Er musste zugeben, dass sie eine schöne, begehrenswerte Frau war. Er war tatsächlich versucht gewesen, sie zu berühren, sie zu streicheln, doch er wusste, dass es nicht dabei geblieben wäre. Es war nicht nur die sexuelle Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, die sie zweifellos auf ihn ausübte, sondern da war mehr. Er spürte, dass, wenn er seinen Gefühlen freien Lauf ließe, eine große Zuneigung entstehen könnte, und das wollte er sich und auch ihr in ihrer letzten Konsequenz nicht antun. Die letzte Frau, die er geliebt hatte, war Tanja gewesen und der Abschied von ihr war außerordentlich schmerzlich gewesen. Er hatte gewusst, dass sie nicht gemeinsam alt werden könnten, aber diese Tragik hatte er sich nicht ausmalen können.

      Die letzte Frau, mit der er Sex gehabt hatte, war eine Afroamerikanerin gewesen. Es war fünfundzwanzig Jahre her und noch nicht einmal wert, eine Episode genannt zu werden. Fand er.

      Ihr Koffer lag auf diesem bequemen Bett, es war alles drin. Sie beeilte sich. Aus irgend einem Grunde wollte sie zu ihm. Nicht, weil sie immer noch glaubte, ein Geheimnis entdecken zu können, nicht, weil sie sich schuldig fühlte. Nicht, weil sie sich schämte und meinte, etwas gut machen zu müssen. Sie wollte zu ihm, weil sie seine Nähe angenehm fand.

      Er hatte diese deutschen Brötchen besorgt, die so gut schmeckten, hatte Eier gekocht, Saft bereitgestellt und Kaffee, Käse, Aufschnitt, hatte dekoriert; beschämt nahm sie Platz.

      „Ich …“ Er unterbrach sie.

      „Nicht schon wieder.“ Er lächelte sie an und sah ein fragendes Gesicht.

      „Was?“

      „Nicht schon wieder entschuldigen. Bitte.“ Sie nickte zaghaft zu seiner Bitte, allerdings gegen ihre Überzeugung.

      „Ich möchte Ihre Familie kennenlernen.“, sagte er. „Erzählen Sie von Ihrer Familie.“

      „Sie wollen nach all dem meine Familie kennenlernen?“, fragte sie entgeistert.

      „Gewiss.“,