Clark griff in seine Jackentasche, als suche er nach einer Bescheinigung, die ihm seine Einschätzung offiziell bestätigte. Aber er schien nicht fündig geworden zu sein, denn er zog seine Hand leer wieder heraus.
„Es ist unsere Chance, Albert, die Welt endlich von der Arroganz der Amerikaner zu befreien. Selbst ein politisch blinder Mensch wird nicht leugnen können, dass wir alle eine schlimme Quittung präsentiert bekommen werden, wenn wir die Amerikaner auf ihrem Weg zur Weltherrschaft nicht stoppen. Gelingt uns dies nicht, wird die Welt an den Rand einer gewaltigen Katastrophe geraten.“
„Wie meinen Sie das?“
„Die Armen setzen uns, die westliche Welt, mit der Welt der Amerikaner gleich. Sie begreifen nicht, dass wir auch nichts anderes als Vasallen der Amerikaner sind. Und bleiben wir doch auf dem Boden, Albert. Es stimmt ja auch! Wir sind es! Uns geht es nur viel besser. Ich meine materiell. Nur materiell …“
„Mister Clark, trotz aller Differenzen zwischen uns während dieser langen Zeit habe ich nie behauptet, dass ich Ihnen in intellektueller Hinsicht überlegen bin. Sie hingegen tun so, als müssten Sie mir eine Lektion erteilen. Sie können davon ausgehen, dass ich mir der Rolle Amerikas in der Welt durchaus bewusst bin. Ob ich nun Ihre individuelle Meinung teile, sei erst mal dahingestellt. Trotzdem möchte ich Sie jetzt dringend bitten, zu dem Auftrag zu kommen.“
Clark verzog leicht sein Gesicht. „Nein, so stimmt das nicht. Ihnen eine Lektion zu erteilen liegt ganz bestimmt nicht in meiner Absicht. Ich bin ja die ganze Zeit dabei, Ihnen den Auftrag zu erklären. Da Ihre Verantwortung bei dieser Angelegenheit sehr groß ist, muss ich mir sicher sein können, dass wir uns tatsächlich auf der gleichen Wellenlänge befinden.“
Er senkte den Kopf und holte tief Luft.
„Also, Albert, Sie müssen unbedingt Fastmans Vertrauen gewinnen. Das geht am besten, indem Sie sich als einen Menschen darstellen, für den es nichts Wichtigeres geben kann als die Lehre der reinen Wissenschaft und der mit der verlogenen Politik nichts zu tun haben möchte.“
„Das dürfte nicht allzu schwer sein“, sagte von Riddagshausen.
„Um so besser: Dann brauchen Sie nicht schauspielern.“ Clark lachte entspannt. Er schien zufrieden zu sein. Er sah auf die Uhr.
„Ich glaube, das reicht erst mal für heute.“
„Wenn wir sowieso schon alles besprochen haben, dann kann ich ja zurück nach Frankfurt fahren, oder? Über die Konzertkarten wird sich bestimmt jemand anderer freuen.“
Clark sah ihn ernst an. „Nein, Professor. Wir müssen noch etwas besprechen. Wir sehen uns also später. Wenn Sie nichts dagegen haben, schlage ich vor, dass wir uns noch mal unten an der Bar oder im Hotelrestaurant treffen, gegen siebzehn Uhr. Dann haben wir etwas mehr als zweieinhalb Stunden Zeit, um uns vor dem Konzert zu unterhalten. Es ist jetzt zwanzig nach elf. Ihr Gast ist sicher gerade mit Ihrer Tochter zu einem Stadtbummel in Frankfurt unterwegs.“
Clark zog seinen Mantel an und holte seinen Regenschirm aus dem Ständer.
„Übrigens, wie geht es Sara eigentlich? Was hat sie denn jetzt nach ihrem Studium vor?“
„Bis später, Clark“, sagte von Riddagshausen, ohne auf die Frage einzugehen.
Nachdem Clark das Zimmer verlassen hatte, ließ von Riddagshausen in seinem Sessel das Gespräch nachklingen. Er sah zum Fenster. Zwischen den trüben Wolken, aus denen es kurz vorher noch so stark geregnet hatte, schien jetzt die Sonne hervor.
Es war ein absolut klares Spiel. Clark musste unbedingt beweisen, dass er die Fäden zog.
Von Riddagshausen wartete fünf Minuten ab, öffnete die Tür und sah sich um. Der Korridor war völlig menschenleer. Er schloss die Tür ab und ging ein Stockwerk höher zum Zimmer 603, dem so genannten Turmzimmer. Das war eine gute Idee, lobte er sich. Er brauchte ein zweites, ganz abgelegenes Zimmer.
Das Turmzimmer schien ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert zu sein. Es war klein und schmal wie ein Waggon, aber sehr gemütlich. Der Professor öffnete die Tür und schlüpfte schnell hinein. Es war genau halb zwölf. Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer von Monikas Büro in Frankfurt.
„Guten Tag, Frau Tegler, von Riddagshausen hier,“ sagte er, „ich hätte gerne mit meiner Frau gesprochen.“
„Ihre Frau hat jetzt eine Besprechung, Herr Professor. Wenn es aber dringend ist, werde ich Sie selbstverständlich verbinden.“
„Nein, nein, nicht nötig! Sagen Sie bitte meiner Frau, dass ich später, gegen dreiundzwanzig Uhr, zu Hause anrufen werde. Ich muss leider noch bis heute Abend in Hannover bleiben und werde gleich morgen früh zurückfahren. Heute wird es wahrscheinlich schon zu spät sein.“
„Das mache ich gern, Herr Professor.“
„Danke, Frau Tegler. Auf Wiederhören .“
Er legte den Hörer auf. Anschließend wählte er die Nummer der Rezeption.
„Bringen Sie mir bitte ein Kännchen Kaffee. Zimmer 603. Danke.“
Er schaltete das Radio ein und suchte den Country–Sender. Er setzte sich in den Sessel. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, ein zusätzliches Zimmer zu nehmen. Beim nächsten Mal würde er es genauso machen. Würde es aber ein nächstes Mal geben? Er schüttelte den Kopf. Norman Clark besaß die Frechheit, ihn zu belehren! Dass Clark je so weit gehen würde, hätte er nie gedacht. Er, Albert von Riddagshausen, der von allen Mitarbeitern und Studenten hoch geschätzte Physiker, sollte sich gegen seinen Willen für die gehasste Politik die Finger schmutzig machen? Damit einer den anderen beherrschen und außerhalb des Gesetzes ungestraft sein Unwesen treiben konnte! Was für einen Unterschied gab es zwischen solchen wie Clark und dem organisierten Verbrechen? fragte er sich. Gar keinen!
David Fastman hatte das Problem der Supraleitfähigkeit bei hohen Temperaturen geknackt. Noch bis vor kurzem hatte es keiner für möglich gehalten. Verständlich, dass jeder jetzt exklusiv darüber verfügen wollte. Schließlich steckte dahinter die Vision eines fast verlustfreien Energietransports zu minimalen Kosten. Wer das Patent für diese Technik besaß, hätte tatsächlich die Macht, sich die ganze Welt untertan zu machen.
Er hörte ein Klopfen an der Tür. Er stand auf und öffnete sie vorsichtig.
Es war der Hotelservice mit dem Kaffee.
„Kommen Sie bitte herein“, sagte von Riddagshausen und zeigte mit der Hand in Richtung des Couchtisches. Der Hotelangestellte stellte das Tablett auf den Couchtisch, verbeugte sich tief und verließ, um zwei Mark Trinkgeld bereichert, das Zimmer.
Von Riddagshausen warf einen Blick auf den Programmfolder des bevorstehenden Konzerts. Swjatoslaw Richter spielte mit dem Chicago Symphony Orchestra das Klavierkonzert Nr. 1 b–Moll von Peter Tschaikowsky. Auch darauf konnte er sich nicht wirklich freuen. Eine Belohnung für die Erniedrigung? Er trank den Rest des Kaffees aus und griff zur Hannoverschen Zeitung. Aber er konnte sich nicht konzentrieren und legte sie wieder weg. Er warf einen Blick durch das Fenster. Draußen schien eine klare Novembersonne. Das richtige Wetter für einen Spaziergang, dachte er und verließ das Zimmer. Es war fast halb eins.
Er ging am Maschsee entlang in Richtung Rathaus und fühlte sich entspannt. Die Rathausuhr zeigte vierzehn Uhr. Eigentlich höchste Zeit, etwas zu essen! Dazu war er aber noch nicht fähig. Nach dem wilden Alkoholkonsum der Nacht kein Wunder. Er überlegte, ob er in ein Café gehen sollte, um noch einen Espresso zu trinken, als er beinahe mit einer jungen Frau zusammenstieß. Sie schien noch überraschter als er zu sein. Sie hatte graue Augen, war blond und recht hellhäutig. Sie zog den Kopf ein, als würde sie sich schämen.
„Oh, entschuldigen Sie bitte“, sagte er verwirrt, und ohne die Antwort abzuwarten, ging er schnell in Richtung Altstadt.