In der Schlinge. Victor Ast. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Victor Ast
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844284539
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sprechen ja perfekt Deutsch! Das ist aber eine Überraschung.“

      „Stell dir vor, seine Familie stammt aus Deutschland“, sagte Sara.

      „Ah, dann ist Ihre Familie in die USA ausgewandert?“ fragte von Riddagshausen und schüttelte ihm freundlich die Hand.

      „Nein, nicht meine Familie, ich bin ausgewandert.“

      „Das müssen Sie uns erzählen“, sagte von Riddagshausen.

      Er musste jetzt aktiv sein, dachte Fastman. Egal wie, einfach aktiv! Schon nach den ersten zwei Sätzen wusste er, wer sein Gastgeber war. Die gleiche Sprachmelodie. Jeder Satz mit tiefen Tönen angefangen, immer höher bis zur Mitte, um dann wieder abzufallen. Diese Stimme hatte sich vor sechsundzwanzig Jahren unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Aber nicht nur diese Stimme, sondern ganz bestimmte Worte und Sätze. Er wagte es, einen kurzen Blick auf ihn zu werfen. Das braune Muttermal auf der linken Wange, die blauen Augen, die ihn jetzt sehr intensiv und fragend anschauten …

      „Später, nicht jetzt“, sagte Fastman. „Das ist eine längere Geschichte.“

      „Natürlich. Wie Sie wollen. Sie sind unser Gast. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug“, sagte von Riddagshausen.

      Nur nicht wieder erzählen, dass er das Frühstück verschlafen hatte. Das wäre lächerlich, dachte er.

      „Ich muss mich bei Ihnen dafür entschuldigen, dass ich Sie nicht persönlich vom Flughafen abholen konnte.“

      „Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Herr von Riddagshausen. Es gibt manchmal wichtigere Sachen als einen Kollegen am Flughafen abzuholen.“

      „Aber ich bitte Sie, Dr. Fastman. Sie sind doch nicht nur ein Kollege, sondern eine weltweit anerkannte Kapazität.“

      „Das ist aber wirklich etwas übertrieben, Herr von Riddagshausen. So prominent bin ich ja nun auch wieder nicht“, fiel ihm Fastman ins Wort. Im gleichen Augenblick schossen ihm wieder Sequenzen aus dem Schwarzweißfilm durch den Kopf. Er hörte wieder die Schüsse. Und die Schreie der Mädchen. Er sah das leblose Gesicht seiner Mutter vor sich. Fastman musste eine Pause machen, um sich zu beherrschen. Ihm war mit einem Mal so schwindlig, dass er sich unwillkürlich hinsetzte.

      „Fühlen Sie sich nicht gut?“ fragte von Riddagshausen besorgt.

      „Es ist nichts Schlimmes“, sagte David. „Der Flug dauerte immerhin zehn Stunden, und über England hatten wir auch ziemlich heftige Turbulenzen. Wahrscheinlich macht mir auch der Timelag zu schaffen. Entschuldigung! Wissen Sie, ich bin zum ersten Mal in Deutschland, ich meine als Erwachsener. Und da ist für mich alles noch etwas verwirrend.“

      „Das ist ganz natürlich. Wie alt waren Sie eigentlich, als Sie Deutschland verließen?“

      „Acht. Das war im Sommer 1943“, sagte Fastman ganz automatisch.

      „Da wurde ich gerade geboren“, sagte Sara. „Am 28. Juli.“

      Von Riddagshausen wechselte mit seiner Frau bestürzte Blicke. Sara schien es zu bemerken.

      „Sehen Sie, David“, schaltete sie sich ein. „Pardon, Mister Fastman. Ob Sie es wollen oder nicht, das Thema ist zur Zeit in Deutschland unvermeidbar! Und es wird, fürchte ich, noch lange ein Thema sein. Wir alle, und vor allem die Generation meiner Eltern, werden mit Sicherheit noch sehr lange an der Schuld tragen. Selbst für die Taten, die sie nie begingen und nie begangen hätten und auch niemals hätten begehen können!“ Sie sah Fastman traurig an. „Um so mehr liegt es mir am Herzen, Ihnen zu zeigen, dass es damals in Deutschland auch anständige Menschen gab.“

      „Das weiß ich doch“, unterbrach sie David. „Solchen Menschen verdanke ich schließlich mein Leben! Und ich verspreche Ihnen, dass ich mich dem Thema, wenn es Ihnen so am Herzen liegt, nicht verweigern werde. Aber nicht jetzt, bitte.“

      „Wenn Sie erlauben, Dr. Fastman, möchte ich Saras Gedanken nur ganz kurz ergänzen“, hörte Fastman von Riddagshausen sagen. „Dieses Thema hat Sara immer sehr berührt. So hat sie zum Beispiel sehr darunter gelitten, dass ich, es war, glaube ich, 1954, meine Teilnahme an einem Physikersymposium in Princeton absagte, weil damals keiner der Physiker aus den USA uns Deutschen die Hand geben wollte. Wir wurden nicht nur nicht akzeptiert, sondern einfach nicht wahrgenommen. Und nicht wahrgenommen zu werden, verstehe ich als die höchste Stufe der Verachtung. Wissen Sie, Herr Doktor Fastman, keine Nation der Welt außer uns Deutschen, hat es nötig zu zeigen, dass wir keine Teufel sind. Das war es, was meine Tochter meinte. Vielleicht verstehen Sie jetzt auch etwas besser, warum meine Familie und ich uns so freuen, dass Sie als amerikanischer und dazu sehr bekannter Physiker unsere private Einladung angenommen haben.“

      Er schien sehr berührt zu sein.

      Fastman glaubte, einen leichten Schimmer in seinen Augen wahrzunehmen.

      „Wir haben mit Sicherheit noch einen sehr langen Weg vor uns, um uns von diesem Komplex zu befreien“, fuhr sein Gastgeber fort. „Und diejenigen, die das nicht verstehen, haben leider aus unserer tragischen und grausamen Geschichte nichts gelernt … Ich bin mir nicht sicher, ob gerade jetzt der richtige Zeitpunkt war, darüber zu sprechen, und ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, wenn es Ihnen nicht recht gewesen sein sollte. Aber es musste raus“, sagte von Riddagshausen und holte tief Luft.

      Für wenige Augenblicke vergaß Fastman, wen er vor sich hatte, und empfand sogar Mitleid. Bedächtig nahm er seine Tasse Kaffee in die Hand und trank sie langsam aus.

      „Ja, es stimmt, was Sie gesagt haben. Ich meine, was die Wertschätzung deutscher Physiker damals betrifft. Ich kann mich an diese Zeiten noch ganz gut erinnern“, sagte er. „1954 studierte ich schon in Princeton. Eines Tages fragte uns mein hochberühmter Professor, zu dessen erstaunlichsten Charaktereigenschaften es gehörte, dass er tatsächlich jeden, aber auch jeden Tag gut gelaunt war, ganz am Anfang der Vorlesung, ob jemand von uns die Definition eines theoretischen Physikers kennen würde. Er schrieb alle möglichen Antworten an die Tafel, verriet jedoch nicht, welche richtig war. Das war seine Art. Die Antworten, die keiner von uns wusste, gab er immer erst am Ende der Vorlesung. So war es auch damals. Am Schluss sagte er lachend, wir alle hätten uns geirrt. Ein theoretischer Physiker sei nämlich eine Nationalität …“

      „Die jüdische“, sagte Sara laut. „Und der berühmte Professor war Albert Einstein …“

      „Erraten.“ Fastman lächelte. „Obwohl Einstein nichts weiter gesagt hatte, haben es alle, genau wie Sie, verstanden.“

      „Haben Sie Albert Einstein eigentlich auch privat kennen gelernt?“ wollte von Riddagshausen wissen.

      „Alle Studenten kannten ihn privat. Ganz Princeton kannte und liebte ihn. Ja! Aber das Wunderbarste für mich war, dass er immer viel Zeit für mich hatte. Und wenn ich daran denke, dass er …“ David brach den Satz ab. Beinahe hätte er etwas gesagt, was er hier und besonders jetzt auf gar keinen Fall sagen durfte. Noch nicht!

      „Sie wollten noch etwas über Einstein erzählen“, hörte Fastman von Riddagshausen sagen.

      „Nein, nein! Ich wollte nur sagen, die Zeiten, über die Sie gesprochen haben, sind Gott sei Dank endgültig vorbei, und ich gehe davon aus, dass sie auch nicht mehr wiederkehren werden“, sagte Fastman.

      Das Telefon läutete.

      „Ich gehe ran“, sagte Albert von Riddagshausen. „Es ist bestimmt für mich.“

      „Riddagshausen … Einen Augenblick, Frau Merkel, ich stelle in mein Arbeitszimmer um!“ Er warf Fastman einen Blick zu. „Entschuldigung, ich bin gleich wieder da.“ Dann verließ er den Raum.

      Wenige Minuten später kam er zurück. Sein Gesicht war blass.

      „Leider muss ich noch heute Abend dringend nach Hannover! Der Sekretärin des Lehrstuhls in Hannover ist es nicht gelungen, meinen für heute Abend und morgen früh anberaumten Termin zu verschieben. Es tut mir so Leid, Dr. Fastman!“

      „Machen