O ja! David wusste es. Er schüttelte trotzdem den Kopf.
„Es sind gekochte Eier, die man mit kleinen Mengen Butter zerkleinert und mit ganz fein gehackten Zwiebeln mischt. Daraufhin hat sich mein Vater entschlossen, beim nächsten Mal die gekochten Eier auch mit Butter zu zerkleinern und statt Zwiebel den echten Kaviar beizumischen. Und alle, die es probiert hatten, waren so begeistert, dass es schließlich zur Tradition unseres Hauses wurde.“
Inga servierte die Maronensuppe mit saurer Sahne.
Ja, sein Vater konnte den besten jüdischen Kaviar zubereiten, der sich denken ließ. Er dachte an Nella und Anita, die sich immer freuten, wenn Mutter leise verkündete, Vater sei dabei, Eier zu kochen und Zwiebeln zu schneiden.
Plötzlich tauchte der Traum aus der letzten Nacht wieder auf und nahm so sehr von seinen Gedanken Besitz, dass er nicht einmal merkte, dass er mit der Suppe schon fertig war. Erst als er hörte, wie sein Löffel laut gegen den leeren Teller stieß, kehrte er zurück in die Gegenwart.
„Entschuldigung, ich war eine kurze Weile mit meinen Gedanken woanders.“
„Vielleicht sollten wir auch das Thema wechseln, Mister Fastman“, sagte Monika leise. Sie schien sich zu schämen, was David sehr unangenehm war.
„Nein, es hat nichts mit dem zu tun, was Sie gesagt haben. Aber in solchen Situationen wird mir wieder deutlich, dass ich mit der Vergangenheit noch nicht fertig bin.“
Für einen Moment dachte er, er hätte die Kontrolle über sich verloren und sich selber verraten. Er durfte auf keinen Fall die Situation weiter anspannen.
Sara sah ihn mit großen fragenden Augen an. In diesem Moment dachte er, dass es ein Fehler war, zu persönlich zu reagieren. Seine Unsicherheit begann ihn langsam zu kränken, und er spürte, wie in ihm Schuldgefühle hochstiegen. Auch Monika schien verwirrt zu sein.
„Um Sie aber nicht weiter zu beunruhigen, möchte ich Ihnen sagen, dass ich sehr gerne über dieses Thema sprechen würde. Außerdem habe ich Ihrer Tochter bereits versprochen, etwas über mich zu erzählen.“
„Das würde natürlich auch mich sehr interessieren“, sagte Monika schüchtern.
Inga servierte den dritten Gang. Rinderfilet mit Pfifferlingen, auf Weißbrot gebacken. Auch das eine neue kulinarische Erfahrung, die Fastman sehr genoss. Nach dem Essen bat Sara Inga, das Dessert und den Kaffee im Salon zu servieren.
„Willst du tatsächlich über diese schrecklichen Zeiten reden, David?“ fragte Sara, als sie im Salon saßen.
„Es geht, ehrlich gesagt, nicht um das Wollen. Ich glaube vielmehr, dass ich dich vielleicht verletzt habe. Ohne Absicht! Aber trotzdem …“
Sara stutzte.
„Doch, doch. Als du mich fragtest, ob ich Deutscher wäre oder mich als Deutscher empfände, fühlte ich mich plötzlich total überfordert.“
„Man muss zugeben, dass das wirklich eine sehr interessante Frage ist“, sagte Monika und sah ihm direkt in die Augen. „Irgendwie kann ich mir das nämlich nicht vorstellen.“
Jetzt durften ihm auf gar keinen Fall seine Emotionen einen Streich spielen. Jetzt war ausschließlich seine Intelligenz gefragt. Monika von Riddagshausen schien hoch intelligent zu sein. Er wusste nicht, was sie vorhatte. War sie tatsächlich so gegen die Nazis engagiert, wie Sara es darstellte? In ihrem Vater sah Sara ja auch einen Nazigegner. Einen Helden sogar. Und trotzdem war die Wahrheit eine ganz andere. Er hatte Davids ganze Familie auf dem Gewissen. War seine Frau damals eigentlich auch im Geschäft gewesen? Sie war schließlich Heinrich Schulzes Ehefrau! Wusste sie es? Ja, sie musste es wissen! Sara wurde ja dreiundvierzig geboren. Und damals hieß Albert von Riddagshausen noch Heinrich Schulze!
„Um diese Frage beantworten zu können, müssten wir erst mal eine präzise Antwort auf die Frage finden, was es eigentlich bedeutet, Deutscher zu sein. Geht es dabei um die Zugehörigkeit zu einer Nation? Dann muss auch dieser Begriff definiert werden. Ich möchte Sie jetzt nicht unbedingt mit meiner Meinung zu diesem Thema langweilen …“
„Damit langweilst du uns nicht! Wir wissen doch, dass du als Physikgenie giltst. Dann wirst du sicher verstehen, dass es für jeden, der sich mit dir unterhält, sehr interessant sein muss, deine Meinung zu hören. Egal, zu welchem Thema.“
„Um es kurz zu machen und Ihre Frage zu beantworten … Ich denke schon, dass ich Deutscher bin. Hier sind meine Wurzeln. Das habe ich gestern zwar zum ersten Mal in meinem Leben gesagt, aber ich wiederhole es heute, weil ich der Meinung bin, dass es stimmt.“
„Sagten Sie nicht vorher, Sie seien Jude?“
Monika hatte ihn keinen Moment aus den Augen gelassen.
„Ist das keine Nationalität?“
„Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, Frau von Riddagshausen. Meiner Meinung nach ist es keine Nationalität.“
Diesmal wich er ihrem Blick nicht aus. Er wusste zwar noch nicht, worauf sie hinauswollte, trotzdem war ihr Blick ihm nicht unangenehm. Zumindest schien sie sehr interessiert zu sein.
„Ist es eine Religion?“
„Um Gottes willen, nein, Frau von Riddagshausen! Es gibt schließlich auch ungläubige Juden!“
„Was dann?“ fragte sie überrascht.
„Schicksal, Frau von Riddagshausen.“
David sah Monika tief ins Gesicht.
„Der Staat Israel ist der beste Beweis dafür. Dort leben Juden, die genau so verschieden sind wie alle Völker auf der Welt. Dort leben Amerikaner neben Russen, hoch ausgebildete Wissenschaftler neben absoluten Trotteln und religiöse Fanatiker neben vollkommenen Atheisten. An dieser Stelle könnte ich wirklich alle möglichen Kontraste aufzählen. Das Einzige, was diese Leute verbindet, ist ihr Schicksal. Welches andere Schicksal verbindet aber die Juden stärker als der Antisemitismus? – Doch Sie wollten mir etwas von diesen schrecklichen Zeiten erzählen, und ich rede so viel. Viel zu viel, würde ich sagen. Bitte, Frau von Riddagshausen, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe.“
„Sie waren acht, als Sie Deutschland verließen, nicht wahr?“
„Ja, ich wurde 1935 geboren.“
„Meine Familie hat damals vielen Verfolgten geholfen. Übrigens haben sie dafür mit dem Leben bezahlt. Bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch. Ich will jetzt nicht mich und meine Familie in ein gutes Licht stellen …“
Monikas Stimme schwankte.
David war sprachlos.
„Monika hat noch schwer mit dieser Zeit zu kämpfen“, sagte Sara und reichte ihrer Mutter ein Taschentuch.
Ihre Reaktion verwirrte ihn erneut. Monika von Riddagshausen war schließlich die Ehefrau von Heinrich Schulze, einem Kriegsverbrecher. Gleichzeitig aber erzählte sie, damals vielen Juden geholfen zu haben, und stellte ihre Familienmitglieder sogar als Märtyrer dar.
„Erzählen Sie weiter, Frau von Riddagshausen. Bitte! Ich selbst hätte ohne den Einsatz einer solchen Familie auch nicht überlebt …“
Er wurde von der Haustürklingel unterbrochen.
Sara erhob sich.
„Das sind zwei Freundinnen von mir“, erklärte Monika. „Wir treffen uns jeden Freitag um sechzehn Uhr. Diesmal bei mir. Ich vergaß, das heutige Treffen abzusagen. Es tut mir Leid. Wir müssen unser Gespräch verschieben. – Wo lebt die Familie, die Ihnen damals geholfen hat, jetzt eigentlich?“
„Sie