Seine Mutter hatte ihm von einer Schatulle erzählt, die von seinem Großvater irgendwo im Garten vergraben worden war. Die ganze Gegend war jedoch nach dem Krieg geräumt und mit Wohnsilos bebaut worden. Er konnte sich noch lebhaft an den Garten erinnern. Insbesondere an die Obstbäume, die sein Vater im Herbst immer beschnitten und im Frühling veredelt hatte. In diesem Garten blühten Jasmin und viele Rosen verschiedener Sorten. Als kleiner Junge war dieser Ort ein Spielplatz, wo er seine kleinen Konservendosen mit Knickern und sonstigen für ihn wichtigen Schätze verbuddelt hatte, noch bevor die Räumungstrupps der Zwangsumsiedler seine Familie aus ihrem halbzerbombten Haus vertrieben.
Immer wenn er als Kind etwas wahrnahm oder Neues entdeckte, machte er sich einen Gedächtnisknoten, wie es ihm sein Großvater beigebracht hatte. Irgendwann würde er in seiner alten Heimat nach der Schatulle forschen. „Das wird noch lange warten müssen“ dachte er, „denn die Kommunisten sind zähe Burschen.“ Mit diesem Gedanken tauchte er in den wohl verdienten Schlaf ein.
Am nächsten Morgen durch das Licht der Morgendämmerung geweckt, streckte sich Don José ausgiebig in seinem Schlafsack und rieb sich die noch verschlafenen Augenlider. Nachdem er sich aus dem Schlafsack befreite und zwischen den Vordersitzen nach vorne kletterte, fiel ihm ein, dass er diese Nacht gar nichts geträumt hatte. Das wunderte ihn umso mehr, weil er gewöhnlich vielerlei Träume hatte und nach zweiwöchiger Abstinenz auch erotische Träume seinen Schlaf begleiteten.
Er entriegelte und öffnete die Vordertüren, beugte sich nach hinten und holte aus der Rücklehnentasche seinen Kulturbeutel. Den elektrischen Rasierapparat mit aufladbarer Batterie verkabelte er im Zigarettenanzünder und rasierte sich gründlich. Sein Bartwuchs war spärlich, so hatte er keine Probleme, wie manche bärtigen Männer, die lieber ein Rasiermesser bevorzugten. Dagegen war seine lockige Haarpracht pechschwarz und er hatte echte Probleme einigermaßen ordentlich gekämmt auszusehen.
Das Badetuch lag noch immer auf der Pritsche, wo er es gestern Nacht abgelegt hatte. Es war etwas feucht vom Morgentau, aber das störte ihn wenig. Er ging zum Klapptisch prüfte den Boden rund herum nach Fußabdrücken in die Richtung, in der die alte Frau verschwunden war. Fand jedoch keinerlei Spuren im Sand. Das überraschte ihn nicht weiter, er hatte eine Vorahnung. Dass die Frau aus dem Nichts erschienen war und sich danach im Nichts auflöste, bereitete ihm keine Kopfschmerzen. Diese Vorahnung beruhigte ihn, dass die Begegnung doch einen bestimmten Sinn ergeben würde. Das reichte ihm vorerst. Die alte Frau hatte ja versprochen, alles aufzuklären. So blieb ihm nichts anderes übrig, als geduldig darauf zu warten.
Die aufsteigende Sonne erreichte inzwischen die Felsen, die sie zum purpurroten Elefantenbuckel erleuchten ließ, aber der Range Rover stand noch im Schatten. Don José zog seinen Trainingsanzug aus, breitete ihn auf dem Felsvorsprung zum Lüften aus, wickelte das feuchte Badetuch um seine Hüften und spazierte zum Wasserloch. Mit ein wenig Überwindung und leichter Gänsehaut stieg er ins Wasser, putzte zuerst seine Zähne und planschte eine Zeit lang herum, bis sein Magen zu rebellieren begann. Es war an der Zeit das Frühstück zu machen, ehe die Sonne dazu einlud, sich in der Gegend umzusehen. Als er schließlich zum Wagen zurückkam, war die alte Frau schon dabei Tee zu kochen und den Tisch zu decken. Nun wunderte er sich über gar nichts mehr. Sie war nun einmal da und irgendwie schien es ihm so, als wäre sie seine richtige Uroma.
„Wozu aufregen?“, dachte er, „abwarten was sich daraus ergibt.“
„Einen schönen guten Morgen, Uromachen“, begrüßte er sie fröhlich.
„Guten Morgen, mein Sohn, du hast gut geschlafen, gebadet und jetzt hast du Hunger?“, fragte sie freundlich. Es klang mehr nach einer Feststellung, als nach einer Frage.
„Ich hüte mich zu fragen, wie und wo du geschlafen hast, weil ich vermute dass du nicht ausgefragt werden willst.“
„Du spekulierst sonst selten, mein Sohn, dein Motto ist es doch das Vermutungen und Annahmen keine verlässlichen Gedanken sind. Was zählt, sind Fakten und die muss man sich durch Fragen erarbeiten“, belehrte ihn die alte Dame eines Besseren.
„Goldrichtig, Omchen. Es ist weniger eine Vermutung, vielmehr eine Gewissheit, dass du nicht von meiner Welt bist. Denkbar wäre auch, dass du ein Geist aus der Vergangenheit bist.“
„Über dieses Thema reden wir nach dem Frühstück, wenn wir zu meiner Behausung aufbrechen“, erwiderte sie resolut und stellte die Teekanne auf den Tisch.
„Dann bin ich die Geduld in Person, Omchen. Möchtest du etwas Käse und Brot mit mir teilen?“
„So ist es recht, mein Sohn“, erwiderte sie und setzte sich.
Don José ging zu seinem Wagen, öffnete die hintere Tür, rollte seinen Schlafsack und Decken zusammen. Öffnete den Deckel der zweiten Kühlbox, entnahm zwei grüne Tomaten, eine Packung Vollkornbrot und Tiroler Schinken, den er in Sydney in einem Kolonialladen gekauft hatte. Dazu einen Plastikbehälter mit Schafskäse. Dann ging er zur Pritsche und holte zwei Holzplatten, Messer, Zucker und ein Glas Honig. Die alte Dame schenkte inzwischen den Tee ein und schwieg.
„Lassen wir es uns gut schmecken, Omchen, obwohl ich weiß, dass du keinen Hunger hast, weder Essen noch Trinken, geschweige denn Schlaf benötigst.“
„Das ist richtig mein Sohn. Trotzdem, macht es mir große Freude dir Gesellschaft zu leisten.“
„Dann sind wir der Wahrheit ein Stück näher gekommen, Omchen.“
„Alles zu seiner Zeit, mein Sohn, iss jetzt, sonst wird dein Tee kalt.“
Don José musste seinen Appetit zügeln, sonst hätte er glatt drei Tagesrationen verschlungen. Es war auch an der Zeit zu packen und aufzubrechen, solange der Tag noch jung war. Die alte Dame setzte sich auf den Beifahrersitz und wartete geduldig bis Don alles ordentlich verstaut und die Zeltplane festgezurrt hatte. Endlich nahm auch er seinen Platz auf dem Fahrersitz ein, wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn, startete den Motor und fragte:
„Wohin soll die Reise gehen, liebe Uroma?“
„Wir fahren zurück zur Straße, biegen aber nicht ab, sondern folgen dem ausgetrockneten Flussbett weiter“, entgegnete sie mit sanfter Stimme.
Er schaltete den Rückwärtsgang ein, manövrierte mal vorwärts, mal rückwärts, ehe der Wagen die Durchfahrt zwischen den Felsen erreichte. Er fuhr bis zum Flussbett, hielt den Wagen an stieg aus und zog einen Besen unter der Pritsche hervor. Damit verwischte er alle Reifenspuren die sein Wagen hinterlassen hatte. Das war eine Geste mit Rücksicht auf die Natur, dieses heile Fleckchen Erde noch unberührt zu belassen. Ehe sie weiter fuhren legte die alte Dame ihre Hand auf die Seine, als Don José gerade den Gang einlegen wollte. Mit diesen Worten ermahnte sie ihn eindringlich:
„Wohin wir jetzt fahren und was wir dort vorfinden, worüber wir weiter reden werden, darüber darfst du mit niemandem bis an dein Lebensende sprechen. Wenn du dieses Geheimnis für dich behältst, wird es für die Menschheit erhalten bleiben.“
Sie beugte sich zu ihm, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn sanft auf die Stirn. In diesem Moment verspürte er plötzlich eine vertraute Nähe zu ihr.
„Ich bin ganz und gar bereit deinen Instruktionen sehr ernst zu folgen und ich unterziehe mich auch der Schweigepflicht, wenn du mir nur eine Frage beantwortest, bevor die Reise losgeht.“
„Ich weiß, was in deinem Kopf herumgeistert. Du möchtest wissen, ob ich etwas Anständiges mit dir vorhabe?“
„So ist es, liebe Uroma, mit mir kann man allerlei anstellen, nur nichts Unanständiges, worum auch immer es sich handeln sollte.“
„Ich verspreche dir dass das, was du in den nächsten Wochen erlebst und erfahren wirst, dein Leben und die Lebensweise unzähliger Menschen grundsätzlich zum Besseren verändern werden. Es ist an der Zeit deinen Urahnen wieder zu begegnen.“
„Liebe Uroma, du weißt wie die Menschen im Allgemeinen sind. Ich bin kein Heiliger und möchte auch keiner werden. Ich habe Freunde und werde vielen anderen