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Автор: Marlin Schenk
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738009705
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oder willst du es mir nicht sagen?“

       Sie schwieg.

       „Gut, dann sag ich es“, warf Karsten ein.

       „Halt dich da raus, Zwerg“, zischte Annette.

       „Black Hangmen“, johlte Karsten. „Das heißt auf Deutsch...“

       Annette ballte die Faust. „Ich hau dir eine Acht in die Zahnspange.“

       „...Schwarze Henker. Aua. Sie hat mich getreten, Papi.“

       Rainer ließ das Werkzeug ruhen und schaute Annette an. „So, dein Freund ist also ein schwarzer Henker? Genauso sieht er auch aus.“

       Annette sprang vom Tisch auf. „Ihr seid gemein. Was hat er euch denn getan? Dir hat er in Mathe geholfen, Karsten. Ist das jetzt der Dank dafür, dass du ihm so in den Rücken fällst?“

       Daran hatte Karsten nicht gedacht. Beschämt blickte er zu Boden und murmelte eine Entschuldigung. Einen kurzen Moment später sprang er auf. „Ich gehe zu Walter“, sagte er und weg war er.

       Lotte hatte geschwiegen und Rainer sah es an der Zeit, das Thema zu wechseln. Er wählte ein belangloses Sachgebiet wie zum Beispiel: „Was machen wir heute Nachmittag, Liebling?“

       Lotte schob ihren Teller beiseite und schaute Rainer an, antwortete aber nicht.

       „Bist du muffig?“ fragte Rainer. „Ich hab doch gar nichts gesagt. Karsten hat das Thema ans Licht geholt.“

       „Was dir aber offenbar ganz recht war“, sagte Annette. „Auf diese Weise konntest du wieder einmal über ihn herziehen und obendrein die Schuld jetzt an Karsten abgeben.“

       Rainer schwieg eine Weile und kratzte mit der Gabel auf seinem leeren Teller herum. Irgendwann hob der den Kopf und sagte: „Sollen wir nicht mal durch die Altstadt bummeln? Samstags nachmittags ist es dort immer so gemütlich.“

       Lotte nickte.

       „Super“, sagte Rainer. „Dabei könnten wir vielleicht einmal - na ja - die Augen ein bisschen offenhalten. Oder?“

       „Nach einem Fachwerkhaus?“

       „Zum Beispiel.“

       „Wenn es dir Spaß macht“, sagte Lotte.

       Die Türglocken bimmelten. Lotte wollte schon aufstehen und in den Laden gehen, als die Küchentür aufging und Jockel hereinkam. „Hai“, sagte er kurz.

       „Willst du etwas kaufen, oder warum kommst du durch den Laden?“ fragte Rainer lauernd.

       „Hey, right, man. Das hatten wir ja ausgemacht“, sagte der junge Mann. „Na, dann spendier ich euch zum Kaffee eine Torte. Du hast doch hoffentlich noch eine übrig.“ Er griff in die Taschen seiner Lederhose und holte einen ramponierten Zwanziger heraus, den er glattstrich und auf den Tisch legte. „Enjoy it. Lasst es euch schmecken.“

       „Ist ja schon gut“, sagte Rainer. „So war das nicht gemeint.“

       „Ist okay, Mann. Futtert mal ‘ne gute Torte zum Kaffee. Kommst du, Annette?“

       Das Mädchen erhob sich und nahm Jockel in den Arm. „Tschüss, wir gehen“, sagte sie, und dann verschwanden beide mit wehenden Haaren (durch den Laden).

       Lotte betrachtete schmunzelnd ihren Mann. Er sah aus, als wolle er noch etwas sagen. Allein es blieb beim Wollen.

      *

      Sie stapften Arm in Arm durch die Altstadt. Die Geschäfte waren nun geschlossen (ja, so war das wirklich damals, da gab es noch so ein Ladenschlussgesetz!) und die Menschenmassen vom Vormittag hatten sich weitgehend auf die zur Verfügung stehenden Sitzgelegenheiten verteilt. Nur ein paar Touristen in knielangen Shorts, geblümten Hemden und Schirmkappen schleppten ihre Kameras durch die Altstadt.

       Hier schlichen auch Lotte und Rainer ziellos umher und ließen dabei ihr Interesse ein paar Schaufenstern zukommen. Sie quälten sich den Domfelsen hinauf und kamen an einigen Gaststätten und Cafés vorbei, die mit regem Betrieb zu kämpfen hatten. Lotte sah jedes Mal ihren Mann von der Seite an. Er tat ihr leid, weil sie genau spürte, wie der Neid ihn quälte. Nicht, dass er den Besitzern das Glück nicht gönnte. Oh nein. Es war vielmehr dieses verdammte, klebrige Pech, das seine traurige Monopoly-Figur auf dem billigen Platz der Badstraße fest pappte, während alle anderen die Schlossallee besaßen. Und Lotte konnte sich genau vorstellen, was Rainer gerade dachte: Jeder hat ein Anwesen in der Altstadt, nur ich nicht.

       „Alles gerammelt voll“, sagte Rainer knapp. „Was hier im Sommer verdient wird, ist der helle Wahnsinn.“

       Lotte antwortete nicht. Sie strich ihrem Mann nur zärtlich über den Handrücken. Schweigsam setzten sie ihren Aufstieg zum Dom fort. Von hier oben hatten sie einen wunderbaren Blick über das Lahntal. Sie gingen in den Dom hinein, wie sie es schon hundertmal getan hatten und bewunderten die Architektur des 1000 Jahre alten Limburger Wahrzeichens. Im angrenzenden Schlosshof knickten sie die Köpfe nach hinten, um an dem alten Bruchstein-Fachwerk-Gebilde nach oben zu schauen (wo es absolut nichts zu sehen gab), dann ließen sie sich über breite Stiegen und durch schmale Gassen wieder ins Stadtleben zurückfallen.

       Als sie durch die Barfüßerstraße gingen und zur Stadtkirche kamen, sahen sie in Richtung Rossmarkt einen VW-Bus des Fernmeldedienstes der Post stehen.

       „Sieh mal einer an“, sagte Rainer, „Die Post arbeitet sogar samstags. Ist das nicht nett? Würde mich nicht wundern, wenn da Eberhards verpennter Schwiegersohn Willi an den Kabeln herum friemeln würde. Der meldet sich doch für jede Überstunde freiwillig, weil er scharf aufs Geld ist wie ein Geier aufs Aas. Sollen wir einmal nachsehen?“ Rainer wartete Lottes Antwort erst gar nicht ab. Seine breiten Teigkneter packten sie an der Hand und zogen sie hinter sich her zu einem Aushub inmitten einer mit Kopfstein gepflasterten Straße.

       „Ja, wen sieht man denn da?“ witzelte Rainer. „Der Willi arbeitet auch samstags?“

       Willi schob sich seine blaue Postmütze aus dem Gesicht und schaute aus dem Loch heraus wie ein Meerschweinchen aus einem Schuhkarton. Als er Rainer und Lotte erkannte, antwortete er: „Ei joo, muss halt auch sein, gell?“

       „Aber samstags?“

       Willi winkte ab. „Kabelfehler. Hat so’n Depp von der Baufirma ‘n Eisestang’ rein gekloppt. Jetzt klabbe’ wie viel Anschlüss’ nett.“ Aus einem Besen von Adern suchte er sich zwei heraus, drehte sie ein Stück zusammen, entfernte gekonnt die Isolierung, verzwirbelte sie und schob eine Isolierhülse darüber.

       „Das hast du aber gut drauf“, lobte Rainer, und Lotte nickte dazu.

       Willi hob die Schultern. „Och joo, alles Übung.“

       Rainer wollte diese Bescheidenheit nicht gelten lassen. „Du bist wohl so ein richtiges As in deinem Beruf.“

       Willi verdünnte bescheiden das Lob. „Irgendwo iss jeder eins, meinste nett?“

       Rainer war froh, einen dieser Telefon-Spezialisten vor sich zu haben. Irgendein wohlwollender Gott hatte ihn im richtigen Moment zu diesem Loch geführt, zu einer Kapazität in Sachen Telefon, dem er nun sein Leid klagen konnte. Und er tastete sich vorsichtig an das Thema heran. „Pass auf, Willi. Ich hab’ da ein Problem. Vielleicht kannst du mir helfen.“

       „Ein Problem?“

       Rainer zog die Augenbrauen hoch und legte seinen Zeigefinger an die Nase. „ Nun ja. Also, es ist so: Mein Bruder Eberhard nervt mich mit nächtlichen Anrufen. Letzte Nacht hat er mich wieder um ein Uhr aus dem Bett geklingelt. Danach kann ich jedes Mal nicht einschlafen, weil ich darüber nachdenken muss, wie ich es ihm heimzahle.“

       „Das ist gar nicht nett vom Hardy“, antwortete Willi trocken.

       „So sehe ich das auch“, sagte Rainer. „Hast du eine Idee, was man da machen könnte?“

       „Fangschaltung“, riet Willi und spleißte eifrig weiter seine Adern zusammen.

       „Red kein Blech“, sagte Rainer. „Eine Fangschaltung ist nur interessant, wenn man nicht weiß, wer der Anrufer ist. Aber ich weiß es ja.“