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Автор: Marlin Schenk
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738009705
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Limburg, Einstein-Gymnasium. In dem pompösen Bruchsteingebäude aus dem vorigen Jahrhundert füllten zwölf noch mit Schulbänken aus den Sechzigern ausgestattete Klassenräume die Außenmauern. Die meisten dieser Bänke waren leer, nur zwei waren noch besetzt, und an der Tafel wanderte ein Pädagoge mit hinter dem Rücken verkrampften Händen auf und ab. Sein Blick sprang zwischen den beiden Schülern und der Kirchturmuhr hin und her, die er durch eines der Fenster klar ausmachen konnte. Zum wiederholten Male schlurfte Lehrer Colombel nun zum Fenster, stützte die Fäuste auf der Fensterbank ab und murmelte kopfschüttelnd: „Was für ein Wetter!“ Es war ihm deutlich anzusehen: Bei blauem Himmel und Sonne satt in der Klasse verweilen zu müssen, das ging ihm gehörig auf die Ketten. Offenbar war ihm aber der pädagogische Wert des Nachsitzens wichtiger als seine Freizeit, gerade weil es sich bei diesen beiden Knaben um „Ausstellungsstücke heutiger antiautoritärer Erziehung handelte“, wie er sich auszudrücken pflegte. Nicht nur, dass ihre Leistungen zu wünschen übrig ließen - Karsten Boltersdorf hatte am Morgen eine Fünf in Mathe geerntet, sein Freund Walter eine Sechs - nein, sie hatten obendrein auch noch den Kopf voller Schrumpf. Anstatt zu lernen, hatten sie es vorgezogen, die Klobrillen im Mädchenwaschhaus mit Honig einzureiben, sodass die bedauernswerten Damen, deren Augen der feuchte Glanz des Honigs im Dämmerlicht der Anlage verborgen geblieben war, nach der Pause ständig an den klebrigen Beinen rieben und so erheblich den Unterricht störten. „Dem Herrn sei Dank“, hatte Herr Colombel gesagt, „dass es noch wachsame Augen gibt.“ Denn Mitschüler Kevin Klon, Klassenbester, Schönling und Mädchenliebling, hatte von der Sache Wind bekommen und die beiden Herren breit grinsend und vor allen in der Klasse angezeigt. Dass er dafür in der nächsten Pause einer schmerzhaften Belehrung unterzogen worden war, hatte für Lehrer Colombel dann den Funken bedeutet, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Nun aber war seine Rachbegierde befriedigt. Drei Uhr, er klatschte in die Hände und rief: „Einpacken. Aber dalli. Und macht euch bloß aus meinen Augen. Raus hier, raus-raus-raus.“

       Karsten packte sein Heft zusammen und steckte es in die Schultasche. „Das hätten Sie schon viel früher haben können“, sagte er.

       Colombel schüttelte den Finger - kurz, krumm und knorpelig - gegen den Lausebengel, pumpte eine Antwort in seine Lunge und - winkte ab.

       Die Jungen verließen die Schule. „Mach’s gut“, sagte Karsten zu Walter. „Ich muss jetzt schnell heim. Da ist bestimmt schon der Punk los, weil ich so spät bin. Und dann die Fünf in Mathe - o je. Mein Alter flippt bestimmt aus. Da hilft sicher nur die Flucht nach vorne.“

       „Was soll ich denn da sagen, mit einer Sechs“, stöhnte Walter. „Aber wie heißt es doch? Was uns nicht tötet, macht uns nur noch härter.“

       Karsten hob die Hand zum Gruß. „Also dann, bis später.“ Er schulterte den Ranzen und rannte los.

      *

       „Und womit soll ich jetzt meine Freundinnen verköstigen?“ flubberte Veronika mit immer noch extrem zittrigen Lippen. „Können Sie mir das mal sagen?“

       Doch bevor Lotte eine Antwort formulieren konnte, die sowieso nie und nimmer befriedigend ausgefallen wäre, flog die Tür auf, so dass es die kleinen Glöckchen fast aus der Halterung riss. Herein kam Karsten. Er hatte den Schulranzen auf dem Rücken und ein Heft in der Hand, mit dem er freudestrahlend wedelte. Flucht nach vorne! „Wir haben die Mathearbeit zurückbekommen“, rief er. „Ich hab’ ‘ne Fünf gekriegt.“

       Lotte stieg die Farbe der Peinlichkeit ins Gesicht. Sie betrachtete Frau Kleinschmidt, die lächelnd zur Decke blickte, als habe sie nichts gehört. „Karsten!!! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Eine Fünf? Und darüber bist du so glücklich?“

       „Ja, weil Walter eine Sechs hat.“

       „Mach dich in die Küche. Ich komme gleich nach“, schimpfte Lotte. „Wo kommst du überhaupt jetzt erst her? Es ist schon nach drei.“

       „Nachsitzen!“ Er wollte in der Wohnung verschwinden.

       Lotte mochte wohl über das spektakuläre Auftreten ihres Sohnes nicht sonderlich erfreut gewesen sein. Doch Veronika Kleinschmidt sah in Karsten eine Chance, ihre Wünsche erfüllt zu bekommen. „Warte mal, Karsten“, rief sie ihm nach.

       Der Junge ließ seinen Ranzen in die Küche fallen und kam zurück. „Ja bitte?“

       Frau Kleinschmidt lächelte freundlich. Dieser Lausbub, einer von der Sorte, die den Kleinschmidts einen sandgefüllten Fußball vor die Haustür gelegt hatten, woran sich Herbert den rechten Fuß verknackste - vielleicht war es sogar dieser Läuselümmel gewesen - er war nun die letzte Rettung. Veronika überwand im Bruchteil einer Sekunde jede Abneigung gegen ihn und sagte: „Tust du mir einen Gefallen?“

       „Klar.“

       Sie legte ihre Fingerspitzen gegeneinander und fragte mit dem süßesten Blütenduft im Atem: „Könntest du für mich auf den Kornmarkt gehen und ein paar Kaffeestückchen holen?“

       „Ähhh...“

       „Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst.“ Lotte stemmte erneut die Fäuste in die Seiten. „Mein Junge soll für Sie bei der Konkurrenz einkaufen gehen? Frau Kleinschmidt!“

       Veronika sah sich Lottes Entgeisterung völlig unbeeindruckt gegenüber. Warum regte sie sich so auf, denn damit wären sie doch alle aus dem Schneider. Eins war doch klar, und daran gab es nichts zu rütteln: „Ich brauche zehn Teilchen. Und das bis fünf Uhr. Mit meinen alten Knochen schaffe ich es nicht mehr bis auf den Kornmarkt.“ Wieder schaute sie Karsten an. „Du bekommst auch zwei Mark.“

       Karsten tippte sich an die Stirn und grinste frech. „Dafür krieg ich ja nicht mal ‘ne Schachtel Kippen.“

       Das freche, überhebliche, herausfordernde Grinsen in Verbindung mit einer beleidigenden Geste bestätigte, was Veronika schon lange wusste: Dieser Knabe war ein Drecksack. Nun hatte sie die Gewissheit. Und er hatte bestimmt auch den steinharten Ball auf die Treppe gelegt, den Herbert nach einem Sturmklingeln in der Nacht wutentbrannt weggekickt hatte. Ganz sicher. Die Abneigung war rechtens. So!

       „Ach, dieser Junge“, jammerte Lotte, was soll man denn dazu noch sagen? Verschwinde, Karsten, und mach deine Aufgaben.“

      *

      In Limburg gab es eine reiche Anzahl von Bands, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlugen. Eine davon waren die ‘Black Hangmen’, deren heimlicher Chef das Multitalent Jockel war. Gerade brachen sich die letzten kreischenden Töne eines alten Stones-Hits an den Wänden der Rockkatakombe, einer stillgelegten und zu Proberäumen für Rockbands umgebauten Fabrikhalle.

       Jockel legte seine Stöcke beiseite. Er stand auf, zupfte seine Lederkleidung zurecht und schüttelte die rabenschwarze Mähne, die ihm weit über die Schulterblätter hinab fiel. Dann streckte er sich. „Klappt prima!“ Seine Worte blieben ungehört, weil Manfred die Gitarre aufjaulen ließ, an den Knöpfen drehte und eine oder zwei Saiten nachspannte.

       Dann klopfte es am Fenster. Draußen stand ein junges Mädchen, eine liebliche Erscheinung, eine Pupillenerweiterung. Sie lächelte süß, als Jockel sich umdrehte und das Fenster öffnete. „Hallo, Schatz“, sagte sie. „Probe beendet?“

       „Klar, eh“, antwortete Jockel. „Hast du was Bestimmtes vor?“

       „Weißt du es denn nicht mehr?“ fragte Annette. „Du hast es mir versprochen.“

       Jockel setzte sich einen Klatscher vor die Stirn. „Ein Kleid, richtig? Ich wollte dir eines schenken. Sollen wir shoppen gehen? Jetzt gleich?“

       Annette schüttelte den Kopf, dass die langen, blonden Locken flogen. „Nein-nein. Aber heute Morgen sind neue Kataloge gekommen. Da sind ganz tolle Sachen drin. Die könnten wir doch zusammen durchblättern, oder?“

       Jockel nickte lächelnd. „Komme sofort. Er schloss das Fenster und verabschiedete sich von seinen Jungs.

      *

      „Wir haben frisches Brot, Frau Kleinschmidt“, sagte Lotte. „Und die Abendbrötchen sind noch warm. Was meinen Sie, wie gut ein frisches Brot mit Butter und