Von je her hatten die Boltersdorfs ihre häusliche Gemeinschaft mit Arbeitsteilung im Griff gehabt. Da Rainer der Bäcker war, brauche ich nicht besonders hervorzuheben, dass er für die Kreation, das Herrichten und Fertigstellen der Backware zuständig war. Diese dann gegen harte D-Mark über den Ladentisch zu bringen, war Lottes Aufgabe. Annette und Karsten hatten sowohl hier, als auch da auszuhelfen. Wenn Lotte auch außerdem den Haushalt führte - pingelig bis unter die Fußleiste - so sah man sie dennoch oft genug in der Backstube, wo sie mitunter Brötchenteig rollte oder Bleche sauber kratzte. Andererseits sah Rainer seine Pflichten mit der Backstube erfüllt, weshalb er sich höchst selten und nur, wenn nicht anders machbar, in den Laden bemühte. Also ignorierte er das helle Bimmeln, denn erstens war Lotte in der Küche. Sie würde den Kunden bedienen können. Und zweitens war Rainer mitten in den Vorbereitungen für den nächsten Tag, seine Hände waren voller Mehl und die Nase lief.
Etwa eine halbe Minute nach dem ersten Läuten, bimmelten die Glöckchen wieder. „Lotte“, rief Rainer.
Lotte gab keine Antwort und musste wohl im Laden sein.
Wieder rappelten die Glöckchen, nun wilder als zuvor.
Rainer schüttelte den Kopf. „Ein Betrieb ist das, so kurz vor Ladenschluss.“
Die Glöckchen gaben keine Ruhe.
Entweder war der Laden nun berstend voll, oder Lotte war nicht im Laden, weshalb jemand auf sich aufmerksam machen wollte. „Lotte!“
Diesmal hatte sie ihn gehört. „Geh doch mal in den Laden, herrje“, dröhnte es aus der Küche. „Ich hab’ jetzt keine Zeit.“
„Das darf doch wohl nicht wahr sein“, schimpfte Rainer und stürzte mit mehlbestäubten Händen in den Laden. Nicht vier Personen befanden sich hier, sondern nur eine. Es war Oberstudienrat Brahm, ausgerechnet Oberstudienrat Brahm. Er war ein pensionierter Lehrer vom alten Schlag, kleinlich und korrekt, grummelig und giftig. Bei ihm hatte Rainer sein letztes Schuljahr abgesessen - was Brahm ihm bis heute noch nicht verzeihen konnte - und bei ihm hatte Karsten sein erstes Jahr absolviert. ‘Genauso frech und verdorben wie sein Vater’, hatte Brahm damals befunden, ‘und Gott sei Dank werde ich nun pensioniert, damit mir Menschen dieser Gattung in Zukunft erspart bleiben.’ Offenbar konnte Dr. Brahm jedoch nicht vollkommen von Rainer lassen, denn seit er im Ruhestand lebte, bemühte er sich dreimal die Woche in Boltersdorfs Laden, obwohl eine andere Bäckerei wesentlich günstiger lag. Und da die Qualität des nahen Bäckers durchaus mit Rainers Backwaren zu vergleichen war, gab es nur eine einzige Erklärung für Dr. Brahms regelmäßigen Ausflug zu den Boltersdorfs: Er übte Rache für vergangene Schändlichkeiten an seiner Person als Oberstudienrat. Einen Schulverweis hatte er damals nicht gegen Boltersdorf durchsetzen können, aber jetzt... „Der Herr Doktor Brahm“, schnurrte Rainer. „Kann ich Ihnen dienlich sein?“ „Um das herauszufinden, bin ich hier“, antwortete der Pädagoge a.D., „aber so, wie Sie sich mir präsentieren, bezweifle ich es fast.“ Wir sehen, der Herr Doktor hatte sich inzwischen auf das ‚Sie‘ verlegt. Es gab ihm die Möglichkeit, Rainer sachlich und in aller Form auf den Sack zu gehen. Er musste irgendwie einen Riecher dafür haben, wann er Rainer im Laden antreffen würde. Es klappte nicht immer, aber doch recht oft. „Eigentlich wollte ich ein paar Abendbrötchen haben. Aber wagen Sie es nicht, die Ware mit Ihren verschmutzten Händen anzufassen.“ „Entschuldigen Sie, Herr Doktor“, murmelte Rainer. Er ging in die Küche, wo er Lotte zurechtstutzte, während er sich die Hände säuberte. Dann kam er zurück in den Laden. Demonstrativ hob er die Hände und drehte sie. „Sauber genug, Herr Doktor?“ „Lassen Sie das. Packen Sie mir lieber sechs Brötchen ein. Sind die auch frisch?“ „Ich bitte Sie, Herr Doktor.“ „Und noch ein Roggenbrot, falls es von heute sein sollte.“ „Ist es, Herr Doktor.“ Rainer legte die Tüte mit Brötchen auf die Theke und nahm ein Brot aus dem Regal, als die Tür wieder aufgestoßen wurde. Rainer sah nicht, wer der Kunde war, bis er das Brot in Papier eingeschlagen hatte und sich wieder umdrehte. „Das macht dann...“ Der Preis blieb ihm im Halse stecken, als er den späten Kunden sah, der gerade abfällig von Doktor Brahm gemustert wurde. Rainer schluckte und versuchte, ein Grinsen zurechtzubiegen, konnte jedoch nicht verhindern, dass sein Gesicht die Nuancen einer Tomate annahm. „...sechsmarkzwanzig“, krächzte er schließlich. „Hallo Paps.“ Ein Kuss schlüpfte ihm auf die Wange, als Annette an ihm vorbei in die Küche hüpfte, gefolgt von - Jockel. Dr. Brahm schaute den beiden nach, sodass er vergaß, das Kleingeld aus seinem Portemonnaie herauszuzählen. „Ein schönes Paar“, krähte er. Rainer spürte die Ironie, die sich über ihn ergoss wie ein Eimer Pampe. Sie zauberte eine Gänsehaut auf seinen Nacken. „Wächst diesem Individuum auch noch was anderes als Haare?“ „Sie sind in der Tat etwas üppig“, bemerkte Rainer. „Und pechschwarz, wie seine ausgeflippte Lederkleidung. Ich sag’ Ihnen was, Herr Boltersdorf. Wenn dieses Wesen in Ihrer Backstube arbeiten würde, dann müssten Sie auf mich als Kunden verzichten. Guten Tag.“ „Sechsmarkzwanzig“, rief Rainer dem Kunden in Erinnerung. „Ja doch“, sagte der Doktor knapp und mürrisch und zählte das Geld auf den Pfennig genau ab, bevor er es auf die Theke legte und gehen wollte. „Herr Doktor Brahm?“ Brahm stoppte seinen Schritt, zögerte und drehte sich noch einmal um, bevor er die Glöckchen rappeln ließ. „Was!?“ Dieses Gesicht hatte Rainer schon damals, vor 25 Jahren in der Schule immer aufsitzen gehabt, wenn er pampig werden wollte. „Sie beurteilen einen jungen Mann nach seinem Äußeren, ohne ihn zu kennen“, sagte Rainer. „Dabei sind Sie ein studierter Mensch.“ Das war schon heftig genug. Und als er dann noch draufpflückte: „Aber Gott sei Dank sind Sie nicht mein einziger Kunde“, da wurde Brahm blass im Gesicht. Sein mobilisierte sämtliche Energiereserven, brachte den Kreislauf in Schwung und füllte seine Lunge mit einer Portion Luft, die für zwei lapidare Worte wie: „Bodenlose Frechheit!“ eigentlich zu reichlich war, so dass er den Rest in die Lautstärke investierte. Aber das war noch nicht alles. „Noch was, Herr Doktor. Jockel hat keinen Haarausfall, wie Sie sehen, was man von Ihnen nicht behaupten kann. Ich würde also lieber ihn in der Backstube beschäftigen als Sie. Bei ihm fällt kein Haar in den Teig.“ Das reichte. Brahm hatte den Kick erhalten, den er dreimal die Woche brauchte. Rainer blickte ihm nach, wie er sich mit seinem Spazierstock die Ladentreppe hinunter tastete. Er wusste selbst nicht, warum er diesen Jockel verteidigt hatte. Oder hatte er seinen Laden in Schutz genommen? Egal. Er rannte in die Küche, wo Jockel neben Karsten saß und ihm das Pascal’sche Dreieck und die Polynomdivision erklärte. Er tat es auf eine Weise, die der Junge schluckte wie Limonade. Er hat was drauf, musste Rainer sich murrend eingestehen. Dieses fellbewachsene Monstrum schaffte es tatsächlich mit Leichtigkeit, Karsten ein Stück Mathe nahezubringen, das seinem Sohn immense Schwierigkeiten bereitete. Und als Jockel sah, dass Karsten es gerafft hatte, schlug er ihm auf die Schulter. „Klasse, Boy.“ Dann drehte er sich zu Rainer und Lotte um und meinte: „Eh, Mann, er hat’s intus. Wow eh.“ Rainer musste sich mühsam ein Lob abringen. „Nicht schlecht“, brachte er heraus. „Aber würdest du mir einen Gefallen tun?“ „Keine Frage, Mann.“ „Komm in Zukunft nicht mehr durch den Laden, ja?“ Jockel grinste. „Der ist wohl nur für die Kundschaft, was?“ „So könnte man es umschreiben, Jockel. Und du bist kein Kunde. Bis heute hast du noch nicht ein einziges Brötchen bei mir gekauft, was nicht heißen soll, dass du keine verzehrt hast.“ Karsten, der zwischen Jockel und seinem Vater saß, erhob sich vom Stuhl und beendete das Streitgespräch. „Danke für die Hilfe, Jockel“, sagte er, und als er den Namen aussprach, duckte er sich unwillkürlich, weil er mit der kräftigen Hand seines Vaters rechnete. Aber sie kam nicht. Er klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Spielst du mir was auf der Gitarre vor?“ „Klar, Boy.“ Annette trat mit dem Fuß auf. „Nicht schon wieder. Jockel, wir wollten doch die Kataloge durchblättern. Das hast du mir versprochen. Ich brauche noch ein neues Kleid für den Herbst. Also komm jetzt.“ Sie fasste ihn am Pferdeschwanz und zog ihn hinter sich her. „Du bist eh zu fett für ein Kleid“, rief Karsten seiner Schwester nach. „Bin ich nicht“, rief sie zurück. „Mama, sag ihm, dass ich nicht fett bin.“ „Müsst ihr euch denn immer streiten?“ schimpfte Lotte. „Für eine, die Model werden will, bist du zu fett“, stichelte Karsten. „Tolle Figur“, sagte Jockel und hob den rechten Daumen. „Gefällt mir echt, eh.“ „Lass den