Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin. Isolde Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737507196
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den wir gemietet hatten.

      Am folgenden Morgen verließen wir Oakland, wo wir zuletzt gewohnt hatten, in Richtung Oakland Bay Brücke. Noch einmal fuhren wir zum Campus, zur Wurster Hall, dem College für Architektur, wo mein Mann insgesamt fünf Jahre verbracht und schließlich sein Diplom erhalten hat, sahen über das schöne, am Berghang gelegene Gelände, erinnerten uns an die Menschen, die wir getroffen hatten, die guten und die weniger guten Erlebnisse. Unsere Kirche, in deren Büro wir unzeremoniell geheiratet hatten, musste auch zurückbleiben. Es war ein signifikantes, turbulentes, reiches akademisches Jahr gewesen. Nun war es vorbei.

      Kurioserweise spürte ich ein Gefühl der Traurigkeit in mir. Es bezog sich auf das Ende eines bedeutungsvollen Lebensabschnittes, nicht auf das Verlassen einer Umgebung, die mir eine Menge Angst beschert hatte. Aber ich fühlte auch Traurigkeit stellvertretend für meinen Mann. Ich erinnerte mich an die vielen Erlebnisse, die er während seiner frühen Jahre erfahren musste, von denen er mir berichtet hatte. Da waren die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, die Rassenkrawalle, die Polizei, die Hubschrauber, der Stacheldraht, über den er hinweg steigen musste, um zu seinen Vorlesungen zu kommen. Die San Francisco Bay Area und diese Universität in der Stadt Berkeley waren seine geistige Heimat. Er hat hier, so empfinde ich es, weitere Jahre der Reifung durchwandert. Ich beobachtete sein Gesicht von meinem Beifahrersitz aus, suchte nach Anzeichen von Gefühlen. Er sah vorwärts, geradeaus. Die tiefe Bedeutung dieses Blickes hat seither mein Leben mit ihm begleitet.

      Viele Jahre später standen wir wieder einmal in einem Park in San Francisco. Mein Mann sagte, sollte er eine Stadt wählen müssen und München würde nicht existieren, dann würde es diese sein. Er hat damals eben viel mehr zurückgelassen als ich. Aber mein Mann war ein Entdecker. Er wollte immer wissen, was es um die Ecke gab.

      Es war Sonnenuntergangszeit, als wir Los Angeles erreichten. Dort trafen wir uns mit einem Freund aus Berkeley, der schon seinen ersten Arbeitsplatz in dieser Metropole angetreten hatte. Dieses Treffen tat meiner Seele gut, da es ein bisschen Kontinuität darstellte. Er hatte meinem Mann zu seinem ersten Arbeitsplatz in Phoenix, Arizona, verholfen. Nun besprachen beide die bevorstehende Durchquerung der Wüste während unseres Abendessens. Da wäre die gefährliche Strecke durch die Mojavewüste, wo weder Mensch, Baum, Strauch, Tankstelle oder Wasser zu finden seien. Wir müssten uns dementsprechend vorbereiten, meinte er. "Und vergesst die Ersatzreifen nicht!" Plötzlich verstummte er und blickte meinen Mann an. Aus den Augenwinkeln heraus nahm ich die Gesten meines Mannes war, nicht weiter die Schrecken der Wüste zu beschreiben. Ich sollte keine Angst bekommen. Eine feine, aber nutzlose Geste, da ich schon immer von der Wüste fasziniert war und viel darüber gelesen hatte. Ich freute mich auf das Abenteuer.

      Wir hatten vor, die Wüste während der Nacht zu durchqueren um die kühleren Stunden zu nutzen, denn unser Truck hatte keine Klimaanlage. Außerdem freuten wir uns, des Nachts den Sternenhimmel der Wüste beobachten zu können. Der Himmel würde mit blinkenden, leuchtenden Sternen übersät sein. Vielleicht konnte ich sogar mal wieder die Milchstraße sehen, wie ich sie seit meiner Kindheit in Bayern nicht mehr besichtigen konnte. Die klare Luft der Wüste und ein wolkenloser Himmel in einer stockdunklen Landschaft würden es möglich machen.

      Wir erklommen die San Bernardino Berge, die das Los Angeles Basin abgrenzten und fuhren in östlicher Richtung abwärts. Unten im Flachland würden uns ein paar kleinere Orte erwarten, bis wir dann die Mojavewüste erreichten. Wir fühlten uns gut, der Highway war fast leer, die Dunkelheit war schön. Mein Mann sang: "I was born unter a wandering star." Plötzlich wurden die Lichter des Autos dunkel. "Hoy!", rief mein Mann. "Stop!", rief ich unnötigerweise. Sofort nach unserem Geschrei gingen die Lichter wieder an. Dieses aufregende Spiel wiederholte sich noch ein paarmal.

      Etwas grantig erreichten wir Indio, eine kleine Stadt am westlichen Rand der Wüste. Dort riefen wir eine Reparaturwerkstatt an. Der Mann erklärte uns, wie wir zu seiner Werkstatt kommen würden und dass er dort auf uns warte. Als wir aber dann ankamen, war alles dunkel und die Tür abgeschlossen. Er hatte wohl die Geduld verloren und uns versetzt. Da es spät war, gab es keine andere Möglichkeit mehr, als in diesem Kaff zu übernachten. Guten Morgen, liebe Sterne, und grüßt mir die Milchstraße.

      Wir schliefen in einem Motel bis in die frühen Morgenstunden. Bei Tagesanbruch waren wir schon unterwegs. Nachdem wir geradewegs aus etwas kühleren klimatischen Verhältnissen kamen, war uns klar, dass wir Phoenix erreichen mussten, bevor die Hitze unerträglich und gefährlich wurde. Außerdem hatte ich Kosmetikartikel aus Deutschland mitgebracht, die nicht schmelzen und damit unbrauchbar werden sollten. Ein Studentenbudget konnte das genauso wenig vertragen, wie meine nostalgischen Gefühle. Aus all diesen Gründen ließen wir unseren Wecker um 3:30 Uhr klingeln. Vor der Abfahrt erlaubten wir uns noch ein schnelles Frühstück.

      Als wir den kleinen Truck bestiegen, war die Welt um uns herum nahezu lautlos. Die Luft war kühl, verglichen mit den Temperaturen die da kommen sollten, und rein. Sogar etwas Tau lag auf den Kakteen. Die Stille um mich rief ein Gefühl des inneren Friedens in mir hervor. Mein Mann ließ den Motor an und schaltete die Lichter ein. Sie leuchteten unschuldig! Leicht und beschwingt verließen wir den Ort.

      Die Wüste präsentierte sich in all ihrer Schönheit und scheinbarer Sicherheit. In ein paar Stunden wird dieses Gelände mörderisch heiß und trocken sein, ging es mir durch den Kopf. Die Berge am Horizont bildeten im Morgengrauen eine wunderschöne, sanfte Kulisse. Kakteen zeigten über die ganze Landschaft verstreut wie Orgelpfeifen in den Himmel. Viele waren höher als jeder Busch, manche davon 100 Jahre alt. Später, als ich mein erstes Semester Biologie belegte, organisierte unser Professor sogenannte Fieldtrips in die Wüste, bei denen ich dann von der Verwundbarkeit dieses Ökosystems der Leichtigkeit, mit der man hier zerstören konnte, erfuhr.

      Es dauerte nicht lange, bis die Scheinwerfer wieder dunkel wurden und uns zum Anhalten zwangen, aber wir hatten Glück im Unglück: Ich hatte vorsichtshalber meine mir so teure Kosmetik in ein nasses Handtuch gewickelt. Dieses benutzte nun mein Mann, um einen Draht oder ein Kabel unter dem Steuerrad zu kühlen. Nach einem kurzen, schlangenartigen Zischen hatten wir wieder Licht und konnten unsere Reise fortsetzen. Da wir zu diesem Zeitpunkt schon in der Mitte von Nirgendwo waren, mussten wir uns ranhalten. Diese Verdunkelungsszene wiederholte sich noch einmal, denn obwohl der erste Sonnenstrahl bereits über den Horizont lugte, ließen wir die Lichter zur Sicherheit noch eingeschaltet.

      Gegen zehn Uhr morgens erreichten wir Phoenix. Unsere Kleider klebten bereits auf der Haut. Ein leichter Kopfschmerz plagte mich und ich fühlte mich seltsam schwach. Etwa 30 Minuten später konnten wir endlich in ein Motel einchecken. Die Hitze war bereits unerträglich.

      Ich musste mich hinlegen. Mein Mann sah auf mich herunter und sagte: "Okay, ich bin gleich wieder da."

      Ich hatte dem nicht viel Beachtung geschenkt, aber er kam tatsächlich schnell zurück. Er fütterte mich mit einer gesalzenen Honigmelone — eine Kombination, die mich fast zum Würgen brachte. Nach einer halben Stunde fühlte ich mich aber schon besser. Ich hatte meine Lektion gelernt: In der sommerlichen Wüste sollte man Salz zu sich nehmen, Vitamin C und Elektrolytpulvergetränke schlucken und viel Wasser trinken! Während der nächsten zwei Jahre, die ich im Valley of the Sun verbrachte, ermahnte mich jeder Arzt, den ich besuchen musste, genug Flüssigkeit zu mir zu nehmen.

      Die folgenden zwei Wochen verließ ich unser Appartement nur, um über den Parkplatz zum Auto oder vom Parkplatz in ein Geschäft zu rennen. Um neun Uhr abends konnte ich zum Schwimmbad des Appartementkomplexes gehen. Aber auch da nahm mir die heiße Luft noch den Atem, wenn ich ins Freie trat. Ich hatte das Gefühl, als ob ich den heißen Backofen geöffnet hätte. Die Hitze zu dieser Tageszeit überraschte mich. Ich nehme an, dass mein Gehirn 21 Uhr mit mitteleuropäischer Kühle assoziierte. Die Wirklichkeit brachte mich aber schnell zum Umlernen.

       Ein Wort zur mentalen Referenz

       Jeder von uns, der sich einer neuen Situation gegenübersieht — sei es ein unbekanntes Land, eine neue Kultur oder ein anderes Klima — bringt ein Set von vorheriger Erfahrung und damit diesbezügliche Erwartungen mit. Beides benutzen wir, oft unbewusst, zur Einschätzung einer neuen, vermeintlich gleichen Situation. Das