Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin. Isolde Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737507196
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Schreie jener so bunten Vögel und menschliche Stimmen vom Schwimmbad, drangen allmählich in mein Bewusstsein. Vom Bett aus bemerkte ich einen Mann, der in den knietiefen Wellen wie verrückt hin und her lief. Könnte das mein Mann sein? In der Tat — was machte er? Verblüfft stellte ich fest, dass er einem Schwarm kleiner Fische nachlief. Bislang hatte ich ihn noch nicht bei so einem Kleine-Jungen-Spiel beobachten können. Ich kannte ihn als humorvollen Menschen, der selten verärgert war, der das Leben annahm wie es kam — realistisch. Seine so zielorientierte, hart arbeitende und analytische, auf Fakten bezogene Art, konnte ich nicht mit dieser spielerischen Aktivität in Verbindung bringen. Aber es war auch Tatsache, dass dieser Natur liebende Mensch selten die Gelegenheit hatte so loszulassen. Ich liebte, was ich sah!

      Nachdem ich gerade die riesige Landmasse Australiens und meine Klaustrophobie verlassen hatte, befand ich mich nun im oppositionellen Element. Ich war in der Mitte eines fast unvorstellbar großen Körpers von Wasser. Diese Tatsache wurde überwältigend klar, als wir auf dem höchsten Punkt der Insel, Rainmaker Mountain standen. Einheimische Mythologie besagt, dass dieser Berg eben eine Menge Regen macht. Meteorologischen Messungen zufolge regnet es 500 Zentimeter pro Jahr. Eine Gondel ließ uns sanft zum Gipfel schweben, wo sich eine wunderschöne Aussicht bot. Wenn man sich um die eigene Achse drehte, konnte man die gesamte Insel sehen. Ein weißer Ring schaumigen Wassers umgab das Atoll. Die Insel Western Samoa war allerdings im Dunst verschwunden. Nichts als Wasser traf sich mit dem Horizont. Auf vulkanischer Erde stehend, mit der Insel unter mir und um mich rum, hatte ich den amüsanten Gedanken, dass ich gerade noch mit den Füßen auf dem Trockenen stand. Die immensen Ausmaße des majestätischen Pazifiks konnte ich nur schwer begreifen. Diese Insel, so sinnierte ich, ist ein Geschenk eines Vulkans, bis zu dem Tag, an dem er mal wieder Lava ausspuckt. Interessanterweise riefen diese Gedanken keine Platzangst hervor, nicht einmal ihre Abwesenheit fiel mir auf. Immer noch spürte ich dieses friedliche Gefühl in mir, wie illusorisch es auch sein mochte, dass die Welt eben da draußen war und ich durch die gewaltige Entfernung von ihr geschützt wäre. Gleichzeitig aber war mir auch bewusst, dass wir in ein paar Tagen vor hier abgeholt werden würden.

      Die Gondelbahn wurde von einem einheimischen Mann geführt, der etwas gesprächiger war, als so manche seiner Landsleute. "Wo kommen sie her?", fragte er die Frage, die so sicher war wie das Amen in der Kirche, wie ich noch lernen sollte. Schon zu dieser Zeit in unserer internationalen Karriere, schauten mein Verlobter und ich uns an und bedachten die Antwort: Wo sind wir denn her? Deutschland, Australien, USA? "San Francisco", wählten wir, denn es war genauso wahr. Er habe einmal versucht in dieser Stadt zu leben, erzählte der Mann. Aber in all der Zeit, die er dort verbrachte, konnte er sich nicht an den Verkehrslärm und die hastenden Menschen gewöhnen. Die Vögel zwitscherten so anders, wenn man sie überhaupt hören konnte, und es gab nicht viele Farben im Leben. Und, um dem allem noch die Krone aufzusetzen, San Francisco wäre auf der falschen Seite des Pazifiks! "Nein, nein, ich kam wieder zurück nach Samoa", bestätigte er das Offensichtliche und grinste dabei wie jemand, der die richtige Entscheidung getroffen hatte.

      Eines Tages wurde mein Gefühl der Abgeschiedenheit von der Außenwelt und des Friedens jäh gestört. Moderne Technologie der 70er-Jahre zerstörte die Ruhe. Mein Verlobter und ich hielten uns in der Hotelhalle auf, sprachen mit einem netten Mann aus San Francisco. Er wartete auf einen PanAm-Flug. Seine Frau war als Stewardess auf diesem Flug dabei. Beide wollten sich für kurze Zeit treffen, bevor sie weiter musste, denn sie flog World Tours. Was für ein modernes Nomadenleben, dachte ich. Und plötzlich, während unseres leichten Geplauders, fing der Fernschreiber in der Hotelhalle, der dort für die Gäste die neuesten Nachrichten brachte, an zu rattern. Nachdem schon eine Länge Papier den Boden erreicht hatte, gingen wir nachsehen, was so wichtig war. Ich konnte nicht glauben was da stand: Die Olympischen Sommerspiele 1972 in München sind gestoppt worden. Bewaffnete Männer waren in das Quartier der israelischen Olympiamannschaft eingedrungen und hielten Athleten als Geiseln. Langsam setzten Schock und Trauer ein. Das war meine Stadt! Ich erinnerte mich an die sechs Jahre vorolympischer Vorbereitungen. Für uns Bürger hatte dies sechs Jahre Verkehrsprobleme, sich über Nacht ändernde Einbahnstraßen, Umleitungen, Baustellenschmutz und vom Regen begünstigten Schlamm bedeutet. Das Gefühl der Einstimmigkeit, dass die Olympiade dann die große Belohnung sein werde, hatte in der Luft gelegen. Die Jugend der Welt würde in unsere Stadt kommen, zu fairem sportlichem Wettbewerb. In jenen Tagen wusste ich natürlich noch nicht, dass ich dieses Spektakel völlig verpassen würde.

      Ein weiteres Gefühl, auf das ich erst langsam aufmerksam wurde, mischte sich in mein Entsetzen: Ich sollte dort sein, mit meinen Leuten, und helfen die Gefühle zu tragen, zu beruhigen, zu trauern. Es war nicht fair, dass ich so weit weg war und mich vergnügte. Aber zur gleichen Zeit schätzte ich mich glücklich, nicht involviert zu sein. Ich war hin und her gerissen, aber schließlich kam ich zu dem Schluss, dass ich am besten doch diesen einmaligen Kurzurlaub genießen sollte. Zusätzlich sollte er ja auch dazu dienen, mich auf mein neues Leben in den USA und die Dinge, die mich dort erwarteten, vorzubereiten. Am Ende — seltsamerweise — half die Technik, meine Gefühle zu beruhigen: Dieser Streifen Papier aus dem Fernschreiber war die einzige Information, die wir erhielten. Als die Maschine verstummte schien es, als ob der Rest der Welt abgeschaltet worden wäre, zumindest während des Tages. Die Stille der Nacht war eine andere Sache.

      Schließlich richteten wir unsere Aufmerksamkeit wieder auf unsere unmittelbare soziale und natürliche Umgebung. Wir ließen die Farben, die Seebrise, die Düfte der Tropen und die Eidechse, die uns beim Essen beobachtete, unsere Sinne ins Gleichgewicht bringen. Ich schwelgte in dem Bewusstsein, gerade mal rechtsseitig der internationalen Datumsgrenze zu sein. Wenn ich sie hin und her überqueren würde, könnte ich einen Tag mehr oder weniger haben, je nachdem, ob ich westlich oder östlich davon stand — ein faszinierender Gedanke. Ich beobachtete mit Spannung meinen Verlobten, der ein Dateline Sandwich zum Lunch bestellte. Die Speisekarte empfahl, die gewünschte Länge Stangenbrot zu bestellen, jedwede Länge könne serviert werden. Aber wie viele Zentimeter konnte man essen? Die Bedienung lächelte mysteriös und bot keine Hilfe an.

      Der Tag war gekommen, an dem uns der PanAm-Flug wieder von der paradiesischen Insel in der Mitte des Pazifischen Ozeans abholte. Ein letzter Blick zurück: Es sah alles genauso aus, wie vom Gipfel des Rainmaker Mountains, klein und schutzlos (oder beschützt?) inmitten des größten Wassers der Erde und als Atoll auch auf vulkanische Art bedroht. Die positiven Seiten aber überwogen die negativen weit, ich war dort glücklich gewesen. Die notwendige Heilung meiner inneren Wunden hatte stattgefunden und ich fühlte Wärme und Dankbarkeit für diese Insel. Wieder bedachte ich, dass dies ein Abschied für immer sein würde. Bislang ist das der Fall.

      Wie lange sind wir nun schon in der Luft? Kann sich denn ein Ozean so weit erstrecken? Wie kann jemand in dieser grauen Suppe unter uns Hawaii finden? Endlich erschien ein dunkler Fleck im Grau. Was ist das dort im Nebel? "Das ist Oahu", sagte er. Was? "Das ist die Insel, auf der wir landen werden, Honolulu, verstehst du?" Plötzlich wäre ich doch gerne noch etwas länger geflogen, für den kleinen Preis von steifen Gliedern und ein paar Thrombosen vielleicht, denn es wurde ernst. Das da unten waren die Vereinigten Staaten von Amerika, das Powerhouse mit den Power-Menschen. Und ich wollte dort heiraten und meine Zukunft beginnen. Angst rollte wie eine heiße Welle durch mich hindurch und Schuldgefühle zerrten an mir. Ich würde nicht nach Hause gehen, zu meiner Mutter. Sie musste noch warten.

      Honolulu begrüßte erschöpfte Passagiere mit den stimulierenden Düften der Tropen, genau wie Samoa. Wenn das kein vielversprechender Anfang war! Das Passieren des Zolls dauerte etwas, da ich ein spezielles Visum hatte: "Sie haben drei Monate Zeit, um zu heiraten", sagte der Zollbeamte.

      Der beeindruckendste, stimmungsaufhellendste Moment aber kam von meinem zukünftigen Ehemann, als er ein Lei um meinen Hals hing. Ich weiß nicht wo er es erworben hatte, denn ich hatte nicht gemerkt, dass er auch nur einmal von meiner Seite gewichen wäre. Immer noch kann ich den kühlen Touch der Blumen auf meiner Haut fühlen. Ihren Duft rieche ich bis heute. "Willkommen in den USA", sagte er.

      Diese liebevolle Geste ließ Tränen in meine Augen treten und zauberte gleichzeitig ein Lächeln auf meine Lippen. Ein paar dieser Tränen lagen aber auch an meiner Erschöpfung. In diesem Moment fühlte ich nicht die notwendige