Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin. Isolde Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737507196
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mich daran, dass Berkeley auch der Platz der Studentenunruhen und Proteste gegen alles Mögliche war und eine aggressive Subkultur hatte. Als wir gerade an einem wartenden Citybus vorbeigingen, kamen drei junge Männer angestürmt, die schnell in den Bus sprangen, bevor er die Türen schloss. Danach wischte mein Mann mit seiner Hand den Ärmel meines Mantels ab. Ich realisierte, dass ich gerade angespuckt worden war. Erst am nächsten Morgen aber, als mein Mann schon zur Uni gegangen war, wurde mir die Bedeutung des Vorfalls klar. Ein Schock setzte ein. Ich hatte einen Patchwork-Ledermantel getragen, den ich mir vor Jahren in München gekauft hatte. Solche Kleidung signalisierte die Zugehörigkeit zum Establishment. Zu dieser Zeit war Understatement gefragt. Arm und etwas schmutzig musste man aussehen. Ich hatte meine Lektion gelernt!

      Dem Schock folgte panikartiges Verhalten: In diesem Land kann ich nicht leben. Während mein Mann in der Universität war, suchte ich die Telefonnummer der Lufthansa, um einen Flug nach Hause zu buchen. Der Gedanke, dass ich mich mit meinem Mann besprechen sollte, kam mir nicht in den Sinn. Glücklicherweise war die Lufthansanummer ständig besetzt. Auf solche Weise blockiert, beruhigte ich mich so weit, dass realistisches Denken zurückkehren konnte: Ich muss meinen Mann von meinem Vorhaben informieren, ich kann ihn nicht einfach verlassen … gerade bei ihm möchte ich auf jeden Fall bleiben, wir sind ja eigentlich noch nicht mal verheiratet … Langsam bekam ich wieder stabilen Boden unter meine Füße.

      Am Abend bemühte sich mein Mann, mir die lange Geschichte zwischen der schwarzen und der weißen Bevölkerung in seinem Land detailliert nahezubringen. Es half mir, den Vorfall im Zusammenhang zu sehen. Aber die Erkenntnis, dass ich nun als weiß galt, sozusagen eine Rasse hatte, musste ich erst verdauen. Noch nie hatte ich mich so gesehen.

      Letztlich nahm ich eine abwartende Haltung ein. Schock und Panik verflüchtigten sich. Jedoch ein Rest von paranoidem Verhalten, welches ich mit Vorsicht umschrieb, blieb das ganze Jahr bestehen. Ich trug meinen Patchworkmantel mutig weiter, aber nie mehr ohne Angst. Er ist noch heute in meinem Besitz.

      Ein weiteres Indiz meiner unbewältigten, neuesten Vergangenheit, war mein Bemühen nicht gut auszusehen, wenn ich auf die Straße ging. Jedes Mal, bevor ich die Wohnung verließ, prüfte ich mich in diesem Sinne. Die sicherlich richtige Erklärung, dass solche Dinge überall passieren könnten und der statistische Faktor der Wiederholung gering war, hielt ich mir zur Bewältigung der Angst auf der Straße immer wieder vor Augen. Es half sehr im täglichen Trott. Aber auf einer anderen, emotionalen Ebene, vertraute ich der Theorie nicht. Dieses Gefühl wurde noch durch Dinge, die ich beobachtete, bestärkt.

      Nachdem unser Studentenbudget den Besitz eines Autos ausschloss, musste ich täglich zu Fuß gehen oder den Bus benutzen, um zu meinem College zu gelangen oder einzukaufen. Oft wurde ich mit der Frage, ob ich zehn Cents übrig hätte, angepöbelt. Einmal rief mir eine junge Frau aus etwa fünf Metern Entfernung etwas zu. Prompt verstand ich den Zuruf nicht. Naiverweise blieb ich vor ihr stehen, entschuldigte mich für mein ungenügendes Englisch und bat sie zu wiederholen, was sie gerufen hatte. Sie sah mich aus glasig glänzenden Augen an und ging dann schweigend weiter. Auf meinem Weg zur Bushaltestelle dämmerte mir, dass sie wahrscheinlich unter Drogeneinfluss gestanden hatte und mich provozieren wollte. Ein andermal, als ich über den Uni-Campus lief, sagte mir ein junger Mann im Vorbeigehen, dass er vermute, ich käme aus einer Klasse für Models. Das war dort damals nahezu verachtenswert.

      Durch solch stete Erlebnisse erfuhr mein paranoides Verhalten immer wieder neue Daseinsberechtigung. Einmal, als ich schon auf dem Weg zum Bus war, ging ich noch mal zurück zu unserer Wohnung, um mich umzuziehen. Ich trug einen Kunstfellmantel und meinte, dass er zu viel beachtet wurde. Somit tauschte ich ihn gegen eine wesentlich leichtere Jacke aus, in der ich fror. Wenigstens aber sah sie etwas schlabbriger aus.

      Solches Verhalten meinerseits war meiner emotionalen Stabilität nicht förderlich. Mir war klar, dass meine Selbstverleugnung, um Konfrontationen auf der Straße zu vermeiden, begrenzt werden musste. Jedoch schien ich reichlich empirische Daten zu sammeln, die zu bestätigen schienen, dass ich in dieser Umgebung vorsichtig sein musste. Ein paar solcher Bestätigungen sind mir noch lebhaft in Erinnerung:

      Ich sah zwei junge Mädchen ein anderes Mädchen die Straße hinunterjagen, um sie dann an ihren langen Haaren zu ziehen. Minuten später fragte ich das Opfer nach der Ursache. Sie erzählte mir, dass die beiden sie um Geld gebeten hatten, was sie ihnen verweigerte. Die beiden traten dann mit aggressivem Gesichtsausdruck auch an mich heran. Mein Nein ließ sie aber friedlich abziehen. Glück gehabt, dachte ich erleichtert.

      Weiter beobachtete ich einmal im Bus einen jungen Mann, der aus einer Tüte Klebstoffdunst inhalierte. Obwohl ich den typischen Geruch eines solchen Stoffes schon beim Einstieg wahrnahm, war ich doch unbedarft genug, keinen Argwohn zu schöpfen. Aber mein Mann kannte Berkeley schon seit langen Jahren und klärte mich auf.

      Ein andermal saß mir ein Mann gegenüber, ebenfalls im Bus, der einen silbrigen Koffer auf seinem Schoss hielt. Er hatte an beiden Seiten Vasen angeklebt, aus denen Kunstblumen ragten. Er selbst trug einen goldenen Helm und machte einen verstörten Eindruck.

      Als ich mit meinem Mann in einem Restaurant zu Abend aß, saßen am Nachbartisch zwei Frauen, die eine Menge süßer Speisen aßen und sich dann über den Tisch erbrachen. Zu der Zeit nahm man an, dass sie Drogensüchtige waren.

      München war damals auch nicht immun gegen die Hippiezeit, die Anti-Establishment-Einstellung der Jugend oder Drogen, aber in dieser Intensität hatte ich das noch nie erlebt. Ich stand sozusagen unter Subkulturschock.

      Die meisten dieser Erlebnisse erzählte ich unserem langsam wachsenden Freundeskreis. Als Einheimische gaben sie mir diverse Ratschläge: ignoriere die Menschen, sieh ihnen nicht ins Gesicht, sei nicht schüchtern, sieh nicht europäisch aus … Daraus entwickelte ich ein Konzept, das es mir ermöglichte mich anzupassen und mein Selbstwertgefühl zu erhalten. Obwohl ich meinen Kleidungsstil im Understatement-Bereich hielt, konnte ich meine Integrität halbwegs bewahren. Ich hatte auch eine Grenze der Anpassung gesetzt. Sie hielt mich davon ab, Löcher in meine Jeans zu schneiden. Das tägliche Dilemma, gut aussehen zu wollen, wie jede normale Frau, aber es nicht zu dürfen, blieb bestehen. Aber ich konnte es mit Humor und Fassung tragen. Mit anderen Worten: Ich habe die Grenzen meiner Anpassungsfähigkeit erkannt, habe eine Strategie und Philosophie erstellt, die es mir ermöglichte, meine Integrität und damit auch meinen Respekt vor mir selbst zu bewahren.

       Ein Wort über innere Spannung und Konfliktlösung

       Ambivalenz, Ungewissheit und innere Konflikte sind unvermeidliche Teile des menschlichen Lebens. Jeder von uns hat seine individuellen Methoden damit umzugehen. Auf die Dauer aber, sind sie schwer zu ertragen und müssen bewältigt werden, wollen wir bei emotionaler Gesundheit bleiben. Der Sozialpsychologe Leon Festinger erforschte diese Phänomene und stellte 1975 folgende Theorie der 'kognitiven Dissonanz' auf: "Um diese Dissonanz zu reduzieren, muss man die Geisteshaltung in einem gegebenen Fall so verändern, dass sie mit dem Verhalten oder Benehmen übereinstimmt." Mit anderen Worten: Man ändere entweder sein Verhalten, damit es mit der Ansicht oder Meinung übereinstimmt, oder man ändere das Denken, um es dem Verhalten anzupassen. In meinem Fall, passte ich bis zu einem gewissen Maß mein Verhalten an, aber mein innerer Widerstand dazu blieb weitgehend erhalten. In einem Leben in fremden Kulturen muss man sich dieser Herausforderung häufig stellen.

      Als das zweite akademische Quartal nahte, war es Zeit für meine Immatrikulation. Mein Mann erfüllte sein Versprechen, mit mir zum erstenClass Sign-up zu gehen. Mit dem Bus fuhren wir zum Merritt College, welches malerisch auf dem Gipfel eines der Hügel um die San Francisco Bay lag und eine herrliche Aussicht über die Bay Area bot.

      In der Halle fanden wir den Tisch für Englisch als Fremdsprache.

      "Haben Sie noch etwas frei für diesen Kurs?", fragte mein Mann den Professor.

      Ich stand in sicherer Entfernung, etwas schräg hinter ihm.

      "Welcher Berater hat ihnen diesen Kurs empfohlen?", wunderte sich der Professor.

      "Es ist nicht für mich", sagte mein Mann. "Es ist für sie!" Er schob