Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin. Isolde Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737507196
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Klimaanlage und Wasserzuleitung aus weiter Entfernung. Das harte Leben der Pioniere faszinierte mich ebenfalls.

      Mein Mann und ich fuhren mit unserem kleinen VW-Käfer zu historischen Stätten in Arizona, um die Gegenden zu sehen, wo diese Menschen dereinst einmal vorbeikamen oder gelebt hatten. Die Frage, warum der Mensch willens ist, sich in solch untauglichen und für Leib und Leben feindlichen Gegenden niederzulassen, stand groß im Raum. In Tutzigoot, in einer leicht hügeligen Landschaft gelegen, befanden sich die Überreste einer typischen Behausung aus längst vergangenen Zeiten. Ein freundlicher, schweigsamer American Indian führte uns durch die Anlage. Nur der Wind, unsere Schritte und ein paar gesprochene Worte waren zu hören. Die ganze Landschaft ringsum schien menschenleer und strahlte Stille und Einsamkeit aus. Man konnte die eigenen Nerven hören. Der Horizont lag scheinbar endlos weit entfernt.

      Ähnlich waren die Verhältnisse in Jerome. Das war eine sogenannte Geisterstadt, die malerisch an steilen Hügeln ausgebreitet da lag. Eine ehemalige Kupfermine bewirkte die Ansiedlung der Menschen. Vor meinem geistigen Auge sah ich reges Leben, schuftende Männer, Frauen mit Kindern in der Mitte von nirgendwo. Ich war tief beeindruckt von der menschlichen Entschlossenheit, sich ein Leben sozusagen aus dem Boden zu stampfen, allen widrigen Umständen zum Trotz. Als Spezies sind wir sehr anpassungsfähig und willig, wenn Hoffnung die Motivation beflügelt, dachte ich. Meine eigene Situation belegte diese Theorie. Ich bekam noch viel Gelegenheit, diese zu testen.

      Diese bizarr-schöne Landschaft, die unglaubliche Stille und die Gelassenheit, die sie ausstrahlte, das Zeugnis der geologischen Evolution der Erde, das sie darstellte, schienen plötzlich meinen noch nicht vollendeten Anpassungsprozess leicht zu machen. Es schien kein Problem mehr zu sein, sondern nur noch eine Aufgabe. Diese Erkenntnis erstaunte mich und warf Fragen auf: Kann die natürliche Umgebung Ängste reduzieren, kann sie das Selbstwertgefühl heben, kann sie realistisches Denken fördern? Ich war geneigt diese Fragen zu bejahen. Der genaue Zusammenhang zwischen der kulturellen Anpassung und diesem scheinbar vorhandenen positiven Einfluss war mir damals jedoch noch unklar..

      Um die natürliche Schönheit Arizonas zu bewundern, zu genießen und auf sich wirken zu lassen, musste man eigentlich nur aus der Haustüre ins Freie treten. In diesem Sinne kam mein Mann eines Abends heim und stürmte aufgeregt in die Wohnung: "Schnell, schnell, komm raus und schau dir das an. Es hat geschneit!", rief er. Ich folgte ihm nach draußen, dachte aber dabei, dass er mich entweder auf den Arm nahm oder verrückt geworden sei. Es war mir doch gesagt worden, dass es hier in den letzten fünf Jahren keinen Niederschlag irgendwelcher Art gegeben hätte.

      Mein Mann aber zeigte nach Norden. "Schau", sagte er, "nimm es auf. Vielleicht siehst du das in der nächsten Dekade nicht wieder, oder in deinem restlichen Leben."

      Man konnte die ganze Bergkette um Flagstaff und Richtung Grand Canyon sehen. Alle Gipfel trugen weiße Kappen. Die abendliche Sonne hatte zudem alles in rosa Licht getaucht. Es war ein majestätisches und sicher seltenes Bild. Es war auch der Stimulus, der uns die Idee in den Kopf setzte, höher gelegenes Gebiet zu besuchen, wie zum Beispiel das Apachen-Reservat.

      "Wir gehen Skifahren in den weißen Bergen", verkündete mein Mann eines Tages.

      Ich konnte nicht glauben, dass es in den Bergen Arizonas genug Niederschlag gab, um ein Skigebiet auszuweisen. Noch nie hatte ich gehört, dass die Pueblos und Navajos skigefahren sind. Arizonas Image waren Steine, Kakteen, Dürre, Skorpione und Pferde. Aber ich war willens mich eines Besseren belehren zu lassen.

      Wir verließen Scottsdale nach Sonnenuntergang und fuhren ohne Unterbrechung etwa drei Stunden. Nach einer Stunde Fahrzeit gab es ringsum kein von Menschenhand eingeschaltetes Licht mehr. Es war stockdunkel. Es kamen uns nur sehr wenige Autos entgegen, keines folgte uns. Mein Mann war in guter Stimmung und sang sein Lied vom Wandering Star. Ich jedoch befand mich in einem Zustand wachsender Nervosität und fragte schließlich, ob wir uns verfahren hätten.

      Überrascht antwortete mein Mann: "Nein, wie kommst du denn auf diese Idee?"

      Ich meinte, dass es halt sehr verdächtig sei, wenn seit so langer Zeit kein Zeichen menschlichen Lebens erschien. Mein Mann meinte beruhigend, dass das natürlich nicht sein könnte, da wir uns ja auf dem Weg in das Apachenreservat befanden, ins Skigebiet eben. Eine Erinnerung flammte in meinem Gedächtnis auf. Das Australiensyndrom, dachte ich. Wiederum fühlte ich mich unbequem in weiter, endloser Landschaft — obwohl ich sie nicht sehen konnte. Ein interessanter Austausch über unsere Plätze der Kindheit erfolgte. Diesmal war es nicht kultureller Unterschied, der sich manifestierte sondern geografischer! Mein Mann erzählte, wie er sich in Europa beengt gefühlt hatte, ob der dichten Besiedelung dort. Genau diese einsamen Weiten, ohne Lichter sozusagen, hätte er vermisst. Für mich war genau das Gegenteil der Fall. Lachend beschlossen wir, dass wir trotz unserer unterschiedlichen Reaktionen auf Landschaft gut zusammenleben konnten. In späteren Jahren, wenn wir durch westliche oder mittelwestliche Staaten fuhren, wie Nevada, Kansas oder Oklahoma, zitierten wir, angesichts der nahezu leeren, endlosen Autobahnen, den deutschen Straßenverkehrsbericht des Bayerischen Rundfunks: "Dichter Verkehr in beide Richtungen, drei Autos in nördliche Richtung fahrend, zehn Kilometer vor uns wird ein weiteres Vehikel gesichtet, hinter uns erscheint am Horizont ein Lastwagen. Bitte vorsichtig fahren!"

      Am nächsten Tag in der Frühe standen wir auf den berühmten zwei Brettern am Lift, kurz nachdem er eingeschaltet worden war. Vom Gipfel aus konnte ich flaches, weites, weißes Land bis zum Horizont sehen. Es war wunderschön, wie konnte ich mich davon in der Nacht zuvor nervös machen lassen! Die Berge schienen angesichts des Flachlandes nicht sehr hoch zu sein. Überraschenderweise fühlte ich mich nach zwei Abfahrten so ausgepumpt, als ob ich zehn gefahren wäre. Meine Knie zitterten. Als mein Mann sich zu mir gesellte, gestand ich ihm, dass meine heutige Kondition beschämend schlecht wäre.

      "Well, du fühlst die Höhe und den Sauerstoffmangel", erklärte er.

      "Den Sauerstoffmangel? Diese Berge können nicht höher als 2.000 Meter sein!", rief ich.

      Nachdem ich mich vorher nicht weiter über das Skigebiet informiert hatte, musste ich wiederum feststellen, dass ich automatisch alpine Verhältnisse angewandt hatte, wo im Allgemeinen die Skigebiete 2.000 Höhenmeter niedriger lagen als hier.

      "Du fährst hier auf über 3.000 Metern", schätzte mein Mann.

      Am nächsten Tag fühlte ich Schmerzen in meinem Brustkasten, wenn ich auch nur Treppen hochstieg. Vielleicht hatte sich mein Mann ja verschätzt und ich bin eigentlich auf 5.000 Metern gefahren. Aber ein späterer Blick auf die Landkarte bestätigte ihn. Schon das Flachland lag auf 2.000 Metern Höhe.

      Was meinen Wissensdurst über indianisches Leben anbetraf, konnte ich ein weiteres Kapitel dazuschreiben. Es war ein zeitgenössisches Bild. Diese Apachen betrieben ihr Skigebiet effizient aber mit wenig Wärme dem Gast gegenüber. Verschlossenen Gesichtern stand ich gegenüber, ob ich einen Tee bestellte oder nach der Toilette fragte. Kein Lächeln und kaum Blickkontakt. Aber ihr Land war sehr schön.

      Eines Tages, allen gegenteiligen Vorhersagen zu Trotz, kam doch der lebensspendende Regen über das ausgetrocknete Land. Da es so unerwartet geschah, kam ich an jenem Tag mit ziemlich feuchtem Haar und nassen Kleidern zu meiner Vorlesung. Ich wurde bewundert, als ob ich eine Gefahr überstanden hätte. Einige Studenten bedauerten mich wegen meines schwierigen Lebens mit dem Fahrrad. Eine junge Frau, geboren und aufgewachsen im Valley of the Sun, bot mir an, mich nach Hause zu fahren. Das Fahrrad, schlug sie vor, sollte ich einfach auf dem Campus lassen. Niemand würde es stehlen. Am nächsten Tag würde sie mich wieder mit zum College nehmen. Eigentlich, meinte sie, sollte niemand mit dem Fahrrad unterwegs sein müssen, weder bei Regen noch bei Sonnenschein.

      "Schau", sagte sie, "von jetzt ab hole ich dich immer ab. Ich muss sowieso an deinem Wohnkomplex vorbeifahren."

      Ein großzügiges Angebot, fand ich, und nahm dankbar an. Daraus entstand eine wunderbare Freundschaft, die heute, nach 33 Jahren und durch alle Trennungen über Meere und Kontinente hinweg, noch anhält. Ich hatte Glück, dass sie ein Psychologiesemester belegte. Sie war eine Berufswechslerin. Ihre offene, wissbegierige Art und ihr großes Interesse an der Welt harmonierten mit meinem Lebensstil und meiner Denkweise. Meine ausländische Fremdartigkeit