Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin. Isolde Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isolde Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737507196
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Diese sogenannte 'Referenz' kann aber falsche Daten liefern, wenn der Mensch den Rahmen geändert hat, wie zum Beispiel nächtens in Arizona zu stehen und nicht in Deutschland. Für das Gehirn ist es ein Anpassungsprozess zu erfahren, dass die Nacht in diesem Wüstenland genauso dunkel ist, aber nicht genauso kühl wie im Voralpenland. Was die hochsommerlichen nächtlichen Temperaturen in Arizona betraf, so brauchte mein Gedächtnis nur eine Erfahrung!

      Nichtsdestotrotz, nachdem ich meine ersten Lektionen in Sachen Wüstenleben absolviert hatte, passte ich mich schnell an. Ich hatte schon begonnen, dieses schöne und trockene Land zu mögen. Das Valley of the Sun verdiente diesen Namen wahrhaftig. Es war keine Frage, dass jeden Tag der Himmel gleich blau sein würde, ohne das geringste Zeichen einer Wolke. Die Umgebung schien wunderbar bizarr. Camelback Mountain war der herausragende Punkt der näheren Umgebung. Seine felsigen Berghänge waren mit Soguara-Kakteen übersät, die alle ihre stacheligen Arme in den Himmel reckten. Sie erinnerten mich an Orgelpfeifen. Von unserem Balkon aus konnte ich in der Ferne ebenfalls felsige Berge sehen. Sie sahen in der Tat blau aus, so wie ich es aus Cowboy- und Wildwestfilmen meiner Kindheit in Bayern kannte. Die Luft, so sagte man mir, war so klar, dass alles etwas näher zu sein schien, als es in Wirklichkeit war. Ob blau oder nicht, die Augusthitze ließ die Berge rundum flimmern.

      Diese Hitze war auch der Grund, weshalb wir sofort ein Auto brauchten, damit wir uns in einer kühlen Zelle dahin bewegen konnten, wo immer wir Dinge zu erledigen hatten. Bei über 40 Grad an einer Haltestelle auf einen Bus zu warten, war nicht meine Sache. Meine Schwägerin, die zu dieser Zeit in der Stadt wohnte, überlies uns eines ihrer Autos. Es war ein Buick Riviera und wieder fand ich es das größte Auto, das ich je gesehen hatte. Es brauchte nine miles to the gallon — etwa vier Liter Sprit für neun Meilen; nicht gerade ein Studentenbudget-Fahrzeug. Noch hatten wir nichts verdient. Aber wir akzeptierten es dankbar. Damit konnten wir im Komfort der Klimaanlage einkaufen gehen, unser Essen würde nicht auf dem Weg nach Hause verderben und mein Mann konnte seinen Arbeitsplatz in frischem Zustand erreichen.

      Dieses Problem war also gelöst. Die Antwort zu der Frage, wie ich die jeweils fünf Kilometer hin und zurück zum Scottsdale Community College bei etwa 40 Grad Hitze bewältigen konnte, stand noch offen. Wir hatten noch nicht einmal ein Auto, geschweige denn zwei, gekauft. Aber nachdem ich seit meinem siebten Lebensjahr eine passionierte Radfahrerin war, lag die Lösung offensichtlich im Zweirad- und nicht im Vierradantrieb: Wir kauften ein Fahrrad. Gottseidank bot das College ein sogenanntes Minisemester an, welches den Kurs Einführung in die Psychologie einschloss. Somit konnte ich bis zum ersten Oktober noch warten. Erleichtert und ohne Zögern lies ich mich eintragen und hoffte, dass die Temperaturen bis dahin etwas menschenfreundlicher werden würden.

      Am Morgen meiner ersten Vorlesung stand mein Mann als Erster auf. In alter Gewohnheit aus meiner regnerischen Heimat und dem dazugehörigen Rahmen der Referenz fragte ich: "Wie ist das Wetter heute?" Immerhin musste ich heute mit dem Fahrrad losfahren, was immer schon bedeutet hatte, dass man für das Wetter draußen richtig angezogen sein sollte. Mein Mann aber lachte und sagte: "Das Wetter ist heute genau wie es gestern war und genauso wie es morgen sein wird."

      Okay, ich hatte verstanden: Gewöhne dich an das Wüstenwetter und vergiss Wolken und Regen.

      Mit einer Mischung von Angst und Erwartungsfreude trat ich schließlich in die Pedale. Es ging in östliche Richtung ins Reservat der Hopi-Indianer, wo das College lag. Zwei Gedanken schwirrten mir ganz besonders im Kopf herum: Es war mir bewusst, welch seltener Anblick ich war, denn niemand sonst war mit dem Fahrrad unterwegs. Zweitens war ich nun tatsächlich auf dem Weg, meinen Traumberuf zu verwirklichen. Nichts würde mich jetzt noch davon abhalten können. Die besondere Ironie war, dass ich das alles in einer Fremdsprache machen sollte, die mich in Deutschland vor langer Zeit einmal daran gehindert hat, das Klassenziel zu erreichen. Mein Wörterbuch hatte 619 Seiten! Es war so dick, dass mein Gepäckträger es kaum halten konnte. Mein Mann hatte es an mich weitergegeben, nachdem es ihm marginale Dienste während seines Trimesters Deutsch geleistet hatte. Heute sieht das Buch sehr mitgenommen aus. Immerhin wurde das Copyright im Jahre 1958 erteilt. Aber es steht immer noch in unseren Diensten. Ein Ruhestand ist noch nicht abzusehen.

      Nachdem ich die letzten Häuser der Wohngegend auf dem Fußgängerweg durchradelt und hinter mir gelassen hatte, erreichte ich die Felder, die das College umgaben. Nun musste ich auf einer schmalen, zweispurigen, buckligen Straße radeln. Die anderen College-Kids fuhren mit ihren Autos schnell und gefährlich nahe an mir vorbei. Von den Feldern her winkten mir die Arbeiter. Sofort kamen die Erinnerung an Berkeley und damit unangenehme Gefühle in mir hoch. Würde sich Berkeley wiederholen oder war eine radelnde Frau in der Wüste einfach ein ungewöhnlicher Anblick? Würden diese Arbeiter mich morgen nach Dimes fragen?

      Meine Bedenken stellten sich als grundlos heraus. Die nächsten Wochen winkten die Hopi-Feldarbeiter jedes Mal freundlich, wenn ich vorbeiradelte. Bald fing ich an ihnen zu vertrauen und winkte zurück. Schon als Kind in Deutschland las ich Indianergeschichten mit Begeisterung. Es führte zu tieferem Interesse an diesen Menschen, die in Gegenden wie der Arizonawüste leben und überleben konnten. Die freundliche Geste des Winkens schien unverbindlich und ermutigend. Mein Wissensdurst über sogenannte Indianer des Südwestens wuchs.

      Ziemlich bald bekam ich Gelegenheit noch mehr über sie zu erfahren. Eines Sonntags, während dieses ersten, schicksalhaften Semesters Psychologie 101, kamen meine Schwiegereltern zu Besuch. Die gesamte Familie, organisiert von meiner Schwägerin, machte einen kleinen Ausflug. Sie meinte, dass da etwas wäre, was mich interessieren würde. Es sollte der erste Trading Post sein, den ich je betrat. Dort gab es authentische Hopi-Waren und relevante Literatur. Ich war begeistert. Eine junge, hübsche Hopi-Frau mit langem, schwarzem Haar stand hinter dem Tresen. Ihr Gesichtsausdruck war unverbindlich und nicht leserlich, vielleicht indianisch? Es war sehr still im Geschäft, wie in der Landschaft draußen. Nur meine Familie war da. Aufgeregt sprach ich mit meinem Mann und zeigte auf verschiedene Dinge.

      Plötzlich drehte sich die Indianerfrau zu mir und fragte mich in fehlerfreiem Deutsch: "Sie kommen aus Deutschland?"

      "Ja, sie kommt aus Deutschland", antwortete mein Mann für mich, da ich für den Moment sprachlos dastand.

      "Wo haben Sie diese Sprache gelernt", fragte ich sie schließlich.

      "Im College", sagte sie mit einem Hauch von Selbstverständlichkeit. Ihr Grinsen, obwohl freundlich, zeigte deutlich, dass sie wusste, dass ich das nicht erwartet hatte und eine vorgefertigte Meinung bezüglich der akademischen Ausbildung ihres Stammes hatte.

      Aber das war noch nicht das Ende meines Umdenkens. Schon von Anfang an fiel mir in meinen Psychologievorlesungen ein indianisch aussehender Mann auf. In der nächsten Vorlesung nach meinem Besuch im Trading Post brachte ich den Mut auf, diesen Mann nach seiner ethnischen Zugehörigkeit zu fragen. Ja, er wäre vom Stamme der Hopi, sagte er freundlich und ruhig. Meine Neugierde und Voreingenommenheit ließ mich noch weiter erkunden, warum er denn einen Kurs in einführender Psychologie brauchte. Es wäre notwendig für seine Arbeit als aktives Mitglied von American Indian Movement. Wiederum musste ich eine Lektion einstecken.

      Zu Hause, sozusagen im stillen Kämmerlein, versuchte ich mein Selbstbild mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Für zwei bis drei Trimester im Merritt College in Oakland, Kalifornien, ging ich mit einigen Black-Panther-Mitgliedern in die Vorlesungen. Nun saß ich mit Hopi-Indianern in einem Klassenzimmer in einem College in ihrer Reservation. Das war nicht Fernsehen, das war real. Würden die zu Hause in Bayern mir das glauben?

      Für die nächsten zwei Jahre las und lernte ich über die Indianer des amerikanischen Südwestens. Ich bewunderte die hoch entwickelte Arbeit der Navajo-Silberschmiede. Ich bestaunte die Webkunst und Teppiche der Hopi. Natürlich war ihr Preis nicht in meiner Liga. Dasselbe galt für die Töpferarbeiten. Eine meiner geschätzten Errungenschaften aus dieser Zeit war ein Sandbild, das mit den verschiedenfarbigen Sandarten der Wüste hergestellt worden war. Es hatte den Titel Rainmaker. Ich schickte es meiner Mutter mit ein paar erklärenden Zeilen.

      Seit meinem Besuch dieses Trading Posts, tiefer im Reservat gelegen, war mein Wunsch, die Geschichte und das Leben der Indianer in den Wüstengebieten