Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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es ist derselbe, der erst vor kurzem als Weihnachtsmann unterwegs war und mir das Dreirad brachte, auf dem ich jetzt sitze. Der war auch so groß.

      Unter Tage, da ist man weg, unsichtbar wie ein Heinzelmännchen, wie ich in meinem Schubfach. Das macht ihn mir sympathisch. Verstehe genau, was er den ganzen Tag treibt: Er beschafft die Kohle für den Ofen, die früher in der Lade lag, wo ich lausche. Aber der Kohlenkasten ist mein. Der ist privat, passt außer mir niemand hinein. Da bin ich unter Tage, arbeite, sammele Informationen, höre, was in der Küche geschieht, verborgen für alle, insbesondere wenn ich den kleinen Kasten schließe und verschwunden bin. Simsalabim! Ich kann zaubern, ich kann zaubern.

      Die Faszination für die Schürfer des schwarzen Goldes bleibt für Jahre ungebrochen. Mit der Förderung von Kohle bezahlen die Deutschen ihre Kriegsschulden. Im Gegenzug versorgen die Siegermächte die Bergleute und ihre Angehörigen mit Nahrungsmitteln, damit sie ausreichend Kraft zum Schuften haben. Ohne die Förderer der Energie – das verstehe ich früh genug, säßen wir im Kalten. Kein Schnitzel am Sonntag.

      Doch erst später, wird mir klar, was das bedeutet für die Energieversorgung. Im Ruhrpott, im Pütt, entscheiden sich nach dem Krieg die Schicksale von Bergmannsfamilien unter der Erde. Da heißt es Obacht, ein unbedachter Schritt – und im Nu bist du gewesen. Mit der Grubenlampe auf der Stirn und weit geöffnetem dritten Auge erkunden sie die Schächte in der Tiefe, finden intuitiv den Weg. Die Schätze der Welt sollen dem sternenlosen Schoß des Untergrundes entrissen werden.

      Man kann nur ahnen, welche Risiken die Kumpel auf sich nehmen, wie weit sie in die Tiefe steigen müssen, um die Stollen zu bohren, die das schwarze Gold für uns verfügbar machen, das so hellorange im Ofen brennt. Niemand, der nicht dazu gehört, kennt die Art der Gemeinschaft, in der die Bergleute die drohenden Gefahren tragen, damit wir im Warmen sitzen. Noch vor dem Ölboom fertigt man probeweise alles Denk- und Kostbare aus Koks: Margarine, Öl, Treibstoff, Kunstdiamanten. Hast du Kohle, hast du alles. Mein Heinzelmännchen, mein Gott, morgens in Weiß, abends in Schwarz, das ist ein zwei Meter Hüne, ein Weihnachtsmann für alle Fälle, ein rußverschmierter Riese, auf dessen Schultern ich stehe.

      Bis die Figur aus dem Leben verschwindet. Da heizten wir im Winter schon mit Gas. Aber es gibt ja keine Zufälle, sagt man. Man sieht sich immer … wie oft eigentlich?

      Nach zwanzig Jahren bringt er sich auf schmerzhafte Weise zurück in die Erinnerung. Da hat es der Pimpf auf dem Dreirad zu einem Studenten des Fotojournalismus gebracht, der in den Semesterferien in einer Unfallklinik im Ruhrgebiet jobbt.

      In einem weißen Kittel helfe ich, wo ich kann und darf: Waschen, füttern, Patienten verbinden, sorge ich mich um Exkremente, setze Katheter, nehme Blut ab, bade Kinder und frisch Operierte, verabfolge Einläufe bei alten Männern, lege Gipsverbände an und säge sie später von den Knochen der – toi toi toi – Ausgeheilten.

      In den 70ern arbeite ich in den Ferien stolz als einer der letzten Laienpfleger des ausgehenden Wirtschaftswunders, angelernt von Medizinern und Nonnen – bevor die kommende Krankenhausreform nur noch geschulte Profis an die Kranken lassen wird. Der Job bereitet einen morbiden Spaß, entspricht gleichzeitig meinem empfindsamen Naturell, bekomme ich doch Gelegenheit, von Ärzten durch reines Beobachten zu lernen. Nach den Semesterferien werde ich mit Stift und Kamera das professionell institutionalisierte Grauen dokumentieren, dessen Zeuge ich sein durfte. Meine Spiegelreflex-Kamera registriert mit neutraler Sachlichkeit, was das nackte Auge des Betrachters nicht zu ertragen mag.

      Welche innere Haltung benötigt ein Mensch, um einem Verletzten den Bauch sachgerecht aufzuschneiden und anschließend in der Mittagspause in der Kantine Gefallen an einem Schweineschnitzel mit Pilzen zu finden? Das ist die frühe Tabuforschung, derer der Nachkriegsintellekt fähig sein muss. All dies findet lange vor den Arztserien im Fernsehen statt, dafür live und ungeschnitten.

      Was pragmatische Konditionierung bedeutet – mit der Unbill des Lebens und des Sterbens zurecht zu kommen – erlerne ich als Hilfspfleger von zwei befreundeten Unfallchirurgen. Während einer Amputation ruft mir einer von ihnen unter dem Kreischen der Knochensäge zu, dass er ursprünglich vorhatte, eine Holzhandlung zu eröffnen. Der Job als Operateur in einer Unfallklinik sei ganz ähnlich, nur miserabler bezahlt. Merke: Nur die Harten kommen in den Garten. Diese Männer meinen es tatsächlich ernst.

      Das Krankenhaus liegt genau zwischen drei noch aktiven Zechen am Nordrand von Dortmund. Hier, in das Zentrum diakonischer Härte kehren Bergmänner heim, wenn sie das Schicksal am Schlafittchen packt.

      Wenigstens zweimal pro Woche bringen die Sanitäter mit Alarmsirenen und Blaulicht einen Verunfallten in den sogenannten Durchgang, die Notfall-Aufnahmestation; in der Regel auf einer Bahre, häufig genug bewusstlos und mit gebrochenen Weißnichtwas. Die unheilige Allianz aus Ruß, Blut und Tränen gestaltet die Arbeit als Hilfspfleger nicht gerade als eine triviale Tätigkeit. In Wahrheit wird hier versuchsweise das finale Chaos von Leib und Seele geordnet. Brüche und Frakturen führt man mir vor, bei denen ich zum ersten Mal aus dem Körper herausragende Knochen zur Kenntnis nehme, abstrus verdrehte Extremitäten, schmerzverzerrte Gesichter, Fleisch an der äußersten Kante seiner biologischen Existenz. Das bedeutet Mitgefühl im Dauertraining. Hoffe, dass irgendwo immer ein paar Engel sind, die mir helfen werden, zu ertragen, was ich sehen muss, um das Leben zu verstehen. Wirklich schwach machen mich die Krankenschwestern, die ihren Beruf mit so viel Liebe und Hingabe verrichten und die eingelieferten halben Leichen auf den Weg der Besserung bringen. Man lernt nie aus.

      In makellos weißem Kittel empfange ich die Notfälle, notiere als erster Ansprechpartner die Vorgeschichte des Geschehens, schreibe so präzis wie kurz die medizinische Vorgeschichte auf: Patient sei unter Tage unter Bruch geraten, steht da lakonisch auf den Formularen. Das Personal ist gehalten, die Angaben von Unfallopfern und ihrer Angehörigen nur im Konjunktiv, der Möglichkeitsform, zu dokumentieren. Die Berufsgenossenschaft wird später die Notizen prüfen, um keine falschen Rentenhoffnungen bei den Verunglückten aufkommen zu lassen.

      Anschließend entfernen der Stationsarzt, die Schwestern und ich mithilfe von Schere und Skalpell die staubigen Kleider von den Opfern der Tiefe. Meine Helden, die Boten von Glück und Energie, hier sind sie an ihr vorläufiges Ende gelangt.

      Eines Tages liegt er da, in unserer weiß gekachelten Durchgangsstation, dem Aufnahmebereich des Hospitals. Er fällt mir gleich auf, durch seine Größe und die scheinbare entspannte Lässigkeit, mit der er sich auf der Trage eingerichtet hat. Fragmente des einst goldenen Teddybären baumeln resigniert am Schnürsenkel seines Stiefels, verbogen und verkratzt. Der Lack und ein Ohr sind ab. Grauweiß sind die Haare des Steigers geworden, heller als ich sie kannte. Ruß klebt an den Schläfen. Er schaut aus wie eine schlecht geschminkte Leiche aus einem Film von Fellini, eine erstarrte Puppe, die gerade der Rest von Leben zu verlassen scheint.

      Noch während ich mich neben ihn stelle, tritt Stationsarzt Trilling hinzu. Beiläufig erwähne ich die verdrehte Haltung meines ehemaligen Nachbarn auf der Bahre. Und dass ich ihn kenne.

      «Und, Ascher? Fällt dir was auf?»

      Trilling, mit dem ich einmal pro Woche früh morgens in den Waldgebieten um Dortmund herum laufen gehe, funkelt mich an, stets gewillt, jedem etwas medizinische Bildung beizubringen, der danach verlangt. Seine Augen sprühen vor Tatendrang.

      Nein, gar nichts fällt mir auf. «Der atmet ziemlich flach», versuche ich es, doch Trilling wirft mir nur einen müden Blick zu, resigniert ob meiner Ignoranz.

      «Der atmet überhaupt nicht mehr», seufzt er.

      «Aber man sieht ja gar nichts. Wieso ist der tot?» Als Hilfspfleger und Laie darf ich mir erlauben, eine Diagnose nicht unmittelbar zu erkennen. Trilling streift ein Paar Gummihandschuhe über und weist mich an, es ihm gleichzutun.

      «Hilf mir, ich werde dir die Todesursache zeigen.» Er ergreift den regungslosen Leib des Bergmanns und richtet ihn stöhnend auf. Schwer, der Mann. «Ah, mein Rücken! Das blöde Alter, verflixt. Komm, halt ihn gerad mal für einen Moment.»

      Während ich noch mit Blicken auf den frischen weißen Kittel verweise, höre ich sein unwirsches «Kittel haben wir genug, nu halt gefälligst!»

      Eh ich mich versehe, befinde ich mich