Im Tonstudio von Bay FM hatte man die Leiche von Henry McMillan gefunden. Erwürgt mit dem Kabel seines eigenen Mikrofons, das sich laut Bericht wie eine Schlange um seinen Hals gezurrt hatte und seine Augen weit geöffnet hervorquollen ließ. Der Mund war aufgerissen, wie zu einem letzten Schrei. Hatte McMillan Suizid begangen? Dies war nicht auszuschließen, hätte den Beamten nicht eine andere Anomalie Rätsel aufgegeben. Denn der tote Körper von McMillan wies eine tiefe Wunde auf. Mit einem Messer, einer Schere oder einer anderen spitzen Waffe, die nicht am Tatort sichergestellt werden konnte, waren blutige Worte in seine Stirn geschlitzt. Sie lauteten:
Hanky Panky
Leander Milbrecht – Phelesto
In Nächten wie diesen hasste sie ihren Job. Kein einziger Gast mehr seit einer halben Stunde! Draußen regnete es, niemand wagte sich jetzt aus dem Haus. Zudem war es die Nacht zwischen Montag und Dienstag, unter der Woche verirrten sich um diese Zeit nur schlaflose Zocker in die Bar, die ein Bier trinken und an den Automaten spielen wollten. Immerhin Gesellschaft. Doch jetzt befand sich niemand dort, bloß sie und die Langeweile. Frustriert warf sie den Wischlappen in die Spüle. Sie hatte schon alles getan. Gläser gewaschen, abgetrocknet, die ganze Bar geputzt, die Kerzenbehälter gesäubert, die leeren Flaschen ins Lager gebracht, Flaschen aufgefüllt. Sie musste noch den Boden wischen, doch das tat sie, genau wie das Putzen der Toiletten, immer erst zum Schluss. Sonst schlief sie ein, bevor um sechs Uhr morgens ihre Ablöse kam.
Obwohl sie es eigentlich nicht tun durfte, schaltete sie schließlich die Musik aus und den Fernseher auf laut. Die Stimmen lenkten sie ab, nahmen ihr die Beklommenheit. Draußen vor den Fenstern diese Einsamkeit. Striche vom Regen, Autos, der verlassene Hinterhof, rechts die Mülltonnen. Hochhäuser. Nur das Licht einer einzelnen Straßenlaterne.
Sie lehnte sich an die Bar, die verspiegelte Wand im Rücken, und sah fern. Dabei suchte sie sich durch die Sender. Um zwei Uhr nachts gab es keine große Auswahl und so blieb sie schließlich wieder bei der Krimiserie hängen. Forensische Ermittler sprachen über die Aufklärung von realen Mordfällen, sie fand es recht unterhaltsam. Wenn auch manchmal wirklich gruselig. Vor allem, wenn man als Frau nachts völlig allein in einer Bar stand, die zwei Räume und zwei Eingänge besaß. Aber der angenehme Schauer, der ihr ein ums andere Mal über den Rücken rann, hielt sie wenigstens wach.
Sie goss sich noch ein Glas Cola ein und knabberte dabei die Erdnüsse, die sie eigentlich für die Gäste bereitstellten. Aber um diese Uhrzeit sah ihr Chef nicht mehr auf die Videos der vielen Kameras, die die Bar komplett überwachten. Ob sie sich einen Drink genehmigen sollte? Noch eine Hand voll Erdnüsse. Während Sandra überlegte, ob sie Lust auf Alkohol hatte, begann die Werbung. Rasch huschte sie auf die Damentoilette. Nur ein einziger Raum, abschließbar, mit einem riesigen Spiegel an der Wand. Überall in der Bar hingen diese Spiegel. Manchmal ärgerte es sie, vor allem in den Nachtschichten, wenn sie den Boden wischte. Aus den Augenwinkeln diese Schatten, diese Bewegungen. Regelmäßig stockte ihr das Herz, obwohl ihr Verstand wusste, dass sich nur ihr eigenes Spiegelbild dort bewegte.
Sie öffnete ihren Zopf und schüttelte ihr langes, dunkelblondes Haar aus. Ein paar Mal strich sie mit den Fingern hindurch, entfernte mit dem Finger die verwischten Spuren vom Kajal unter ihren müden Augen und trug schließlich noch ihren Lippenstift neu auf.
Dann öffnete sie die oberen Knöpfe von ihrer Bluse, sodass man nun das Amulett sehen konnte, das sie um den Hals trug. Ihr Chef verbot ihnen, Schmuck zu tragen und meistens hielt sie sich daran.
Aber das Amulett … es war so schön. Verknotete Enden aus schwerem Silber, in der Mitte ein schwarzer Stein. Er schien das Licht aufzusaugen, so schwarz war er. Und doch so wunderschön.
Warm lag das Amulett auf ihrer Haut. Gerade gestern erst hatte sie es gefunden. Durch puren Zufall, in den Mülltonnen auf dem Hinterhof. Bloß weil ihre Mitbewohnerin Meike die Kinotickets in den Müll geworfen hatte. Die Karten hatte sie nicht gefunden, doch dafür das Amulett.
In einem Pizzakarton am Boden des großen Containers, beschützt von dicken, surrenden Fliegen. Fast wäre sie hineingefallen bei dem Versuch, es aufzuheben. Die Schönheit des Anhängers faszinierte sie sofort! Und er erschien ihr eigenartig warm, nicht kalt genug für Metall. Sie hielt die Kette fest in den Händen. Noch nie hatte sie etwas so schönes gefunden! Auch nicht gewonnen. In solchen Dingen besaß sie für gewöhnlich kein Glück.
Sie betrachtete sich noch einen Moment im Spiegel, dann kehrte sie in die Bar zurück. Noch immer kein Gast. Nur das Flackern der Spielautomaten. Figuren und Bilder, die sich abwechselten. Auch die sah sie hin und wieder aus den Augenwinkeln in den Spiegeln und erschreckte sich jedes Mal.
Sie trat hinter die Bar und nahm den Wischlappen, um zusätzlich zu den Tischen auch noch die Stühle abzuwischen. Hauptsache, sie hatte etwas zu tun. Die Sendung ging weiter und sie hörte mit einem Ohr hin, bis etwas sie plötzlich aufmerken ließ. Die Stimme hatte ihren Namen genannt: „Sandra S.“
Gruselig. Sie nahm sich den nächsten der schwarzen Ledersessel vor und wischte gerade über die Lehne, als sie sich so erschreckte, dass ihre Hand abrutschte. Der Lappen fiel ihr aus der Hand.
„Außer der jungen Angestellten Sandra S. und ihrem Mörder befand sich zum Zeitpunkt ihres Todes nachts gegen zwei Uhr dreißig niemand in der Bar. Über den genauen Tatverlauf kann man noch immer bloß spekulieren“, sagte die monotone Stimme des Sprechers. Als sie den Kopf hob und auf einen der drei Bildschirme an der Wand starrte, kam ein Polizist ins Bild. Er hatte dunkle Augen, Glatze und schmale Lippen. Desillusioniert blickte er in die Kamera.
„Eine Kollegin fand am nächsten Morgen ihre Überreste. Ich war als einer der ersten Polizisten am Tatort. Vergessen werde ich diesen Tag niemals, diesen Anblick. Verstehen Sie …“, er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, „Sie sehen so viel Unglück in diesem Beruf. Aber es gibt für jeden Polizisten Tote, die er nicht vergisst. Unsere persönlichen Toten. Die uns heimsuchen. Für immer. Sandra S. ist mein ganz persönlicher Geist. Weil ich ihren Mörder niemals fand. Den Täter, der sie so verstümmelte. Ihren jungen, schönen Körper so zurichtete. Manchmal wache ich nachts auf, weil ich träume, dass er mich ruft, mich verhöhnt. Dass er anderen Mädchen das gleiche antut und dass es allein meine Schuld ist …“
Als er zu Boden blickte, wechselte das Bild. Fotos vom Tatort. Sandra taumelte, als hätte eine unsichtbare Hand ihr ins Gesicht geschlagen. Das Foto zeigte die Bar. Unverkennbar. Die künstlichen Palmen, die schwarzen Sessel, die roten Wände. Die Spiegel.
Die Stimme des Erzählers erklang: „Die Kollegin von Sandra S. erlitt einen Schock und musste infolgedessen mehrere Wochen auf der psychiatrischen Station verbringen.“
Das nächste Bild. Sandra wollte schreien, doch es gab keine Luft in ihren Lungen. Das Foto zeigte einen Körper, bedeckt von einem weißen Laken. Die Leiche lag in der Mitte des hinteren Raumes auf dem Boden. Die Tische und Stühle unordentlich zur Seite geschoben. Blutflecken auf dem Parkett. Und neben dem weißen Tuch auf dem Boden lag unverkennbar ihr Lippenstift. Die Hülle weiß, mit roter Schrift. Darunter eine kleine Kirsche.
Panik flutete durch ihren Körper wie eine Droge, rauschte wellenartig durch sie hindurch. Im Bruchteil einer Sekunde