Wenn Blau im Schwarz ertrinkt. Sandra Andrea Huber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Andrea Huber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847639398
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kostete. Und trotzdem. Die Vorstellung, jeder Gedanke an das, was die Kerle mit Gwen vorgehabt hatten, jeder Blick, den er auf ihr schlafendes Gesicht warf, ließ sämtliche Gewissensbisse zu einem lodernden Feuer des Hasses und Zorns werden, das ihn sich wünschen ließ, er hätte noch ganz andere Dinge mit den beiden Männern angestellt.

      Er atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen und seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken. Er wollte nicht so denken, nicht so fühlen. Nicht in Gwens Nähe. Vor allem nicht in Gwens Nähe.

      Sanft, ohne spürbaren Druck, strich Nikolaj ihr über den Kopf. Ihr hellbraunes Haar war immer noch leicht feucht und krause. Seine Finger wanderten wie von allein zu ihrem Gesicht, glitten über Stirn, Schläfe und Wange. Dort, wo seine Fingerspitzen sie berührten, begann seine Haut zu kribbeln und zu pulsieren, als hätte jeder Nerv einen eigenen Pulsschlag. Er wanderte langsam weiter nach unten. Am Ende ihres Hals, am Übergang zum Schlüsselbein angelangt, zog er die Hand hastig zurück, als hätte er sich verbrannt. Als würde er Gwen verbrennen, wenn er sie weiter berührte.

      Er wollte sie nicht wecken, wollte nichts tun, das sie womöglich nicht wollte. Doch es kostete ihn viel Selbstbeherrschung sie nicht weiter zu berühren. Überall zu berühren.

      Sein Blick blieb an ihren fein geschwungenen Lippen hängen, verfing sich darin wie eine Fliege in einem Spinnennetz. Sie mussten sich weich und warm anfühlen, mussten süß schmecken. Er wollte nur zu gern seinen Mund darauf pressen, doch er widerstand auch diesem Drang.

      Stattdessen lehnte er sich zurück, zog ihren Körper enger an sich und schloss die Augen.

      * * *

      Es war Nacht. Milde Luft wogte im freien Raum.

      Das Gras unter Gwens nackten Füßen fühlte sich angenehm weich an und hinterließ ein sanftes Kitzeln auf ihrer Haut. Neugierig drehte sie sich um die eigene Achse, um ihr Umfeld vollständig in Augenschein nehmen zu können. Sie befand sich auf einer großen Rasenfläche, die von unterschiedlich großen Bäumen umschlossen wurde. Obwohl Nacht herrschte, war es nicht vollkommen dunkel. Der Vollmond und die Sterne leuchteten am Himmelszelt und tauchten den Erdboden in feines, silberglänzendes Licht.

      Plötzlich sah sie eine Person auf sich zukommen. Sie schien etwas in den Händen zu halten, denn ihre Silhouette machte um die Mitte herum einige Auswüchse, die eindeutig nicht zu ihrem Körper gehörten. Nach ein paar weiteren Schritten konnte Gwen erkennen, wer es war, der da auf sie zukam.

      Es war Nick. In den Händen hielt er eine große Decke. Dicht vor ihr blieb er stehen und lächelte sie an. „Eine schöne Nacht um Sterne zu beobachten, meinst du nicht auch?“

      Sie erwiderte sein Lächeln, freudig, aber auch eine Spur wehmütig. „Es ist so lange her, dass wir das gemacht haben.“

      Nikolaj begann die Decke auszubreiten, sie half ihm dabei. Gemeinsam legten sie sich rücklings darauf und blickten gen Himmel. Die Sterne funkelten hell und kräftig. Der Mond war ein leuchtender Rund, der magisches Licht verströmte.

      In Gwen stieg das Gefühl auf, sich unter einem riesigen Zelt zu befinden, welches sie sicher und geborgen umspannte.

      Nach einer Weile legte sich ein wohliger Druck um ihre Hand. Als sie den Kopf wandte, traf sie Nicks Blick. Er sah sie mit einem warmen und liebevollen Ausdruck an. Das silberne Licht des Himmels spiegelte sich in seinen Augen und malte ein wunderschönes Farbenspiel in das Blau und Schwarz hinein.

      Es war ein perfekter Moment, der nach Gwens Meinung für immer hätte andauern können. Alles, was von Bedeutung war, umgab sie. Freiheit. Geborgenheit. Stille. Frieden. Und Nick.

      DREI

Grafik 42

      Gwen erwachte mit einem feinen Lächeln auf den Lippen, etwas Weiches mit beiden Händen umklammert und an sich herangepresst. Ein großes Fenster, durch dessen Rolloschlitze zarte Sonnenstrahlen hereinfielen, tauchte den Raum in sanftes Licht. Er sah offenkundig nach einem Schlafzimmer aus, enthielt, neben dem breiten Bett, in dem sie lag, einen großen Kleiderschrank und eine Kommode. Seitlich davon befand sich eine Tür, die offensichtlich in den Rest der Wohnung führte.

      Mit einem leisen Seufzten ließ Gwen sich wieder in die Kissen fallen. Zwar tanzte der schöne Traum noch immer in ihr, doch fühlte sie sich trotzdem seltsam zerrissen und uneins. Ganz so, als ob einige Teile von ihr in weiter Ferne verstreut worden wären. Ihr war klar, dass ihre Psyche immer noch an einem Schock knabberte und ihre Gefühle vor ihr abschirmte. Eine Selbstschutzmaßnahme, die verhindern sollte, dass sie einen totalen Nervenzusammenbruch erlitt. Gehäuft hatte sie darüber gelesen, gehäuft hatte sie in der Notaufnahme miterlebt, wie traumatisierte und unter Schock stehende Patienten eingeliefert wurden, desorientiert und verwirrt, regelrecht neben sich selbst stehend. Sie gaben dann eine Menge irrsinniges Zeug von sich. Beispielsweise, dass sie unbedingt noch den Knopf am Hemd ihres Mannes annähen oder am nächsten Morgen dringend Lunchpakete für die Kinder herrichten mussten. Der Verstand legte erstmals einen schwarzen Schleier über die traumatischen Erinnerungen, um der Psyche die Möglichkeit zur Erholung einzuräumen, ehe man sich mit dem vollen Ausmaß konfrontieren musste. Gwen hatte diese Symptome bisher noch nie am eigenen Leib erfahren – und es war ein himmelweiter Unterschied etwas bei anderen beobachtet zu haben oder es selbst zu erfahren. Mittendrin zu stecken, verlieh all dem einen gänzlich neuen Horizont von Verstehen.

      Gwen wusste, dass es nichts bringen würde gegen ihre derzeitige Verfassung anzukämpfen, daher versuchte sie nicht die Bilder der letzten Nacht in sich wachzurufen oder darüber nachzudenken.

      Auf dem Bauch liegend, grub sie ihr Gesicht in das Kopfkissen und sog dessen Duft tief in sich ein. Es war ein erdiger, moschusartiger Geruch mit einer kühlen und frischen Nuance versetzt, der dort schwebte. Ein Aroma, das sowohl ein Gefühl von Beständigkeit als auch von Weite in ihr aufkommen ließ.

      Eine Weile überließ sie sich diesem Sinnesgenuss, dann rekelte sie sich aus dem Bett und steuerte die Tür an. Was sie nun dringend brauchte, war eine große Tasse Kaffee und nach Möglichkeit auch etwas zu essen.

      Die Tür führte sie in einen hohen Wohn- und Essraum, der sie der breiten Holzbalken an der Decke und der gemauerten Wände wegen auf ein Loft schließen ließ. Der Boden war aus honigfarbenen Dielen getäfelt, die rechte Wandseite bestand aus einer riesigen Fensterfront, durch die sanftes Sonnenlicht hereinfiel. In der vorderen Mitte des Raums standen eine braune Couch und ein Sessel, ein quadratischer Holztisch und ein schmales Bord, auf dem ein Flachbildfernseher prangte. Die offene Schränke und Kommoden, ebenfalls aus dunklem Holz, enthielten größtenteils Bücher. Die Küche lag schräg zum Eingang und bestand aus einer kleinen Küchenzeile und einer Theke, vor der drei Barhocker standen.

      Schließlich blieb Gwens Blick an Nikolaj kleben, der, mit durchgesteckten Armen, den Oberkörper nach vorne gebeugt, hinter der Küchentheke stand und sie mit einem verschmitzten Lächeln ansah.

      „Morgen, Murmeltier. Gut geschlafen?“

      „Ich denke schon. Jedenfalls bin ich gerade zum ersten Mal wach geworden. Vielleicht lag es auch an meinem Traum, dass ich durchgeschlafen habe“, überlegte sie laut und rief sich abermals die nächtliche Szenerie ins Gedächtnis.

      „Traum?“

      „Ein wunderschöner Traum“, ergänzte sie lächelnd.

      „Hm, tatsächlich?“ Ein schelmischer Zug stahl sich auf Nikolajs Züge. „Um was ging’s denn?“

      „Es war Nacht und wir waren auf einer riesigen Wiese in einem Park. Wir haben uns auf eine Decke gelegt und Sterne beobachtet – so wie früher.“

      „Tja, dann hast wohl nicht nur du schön geträumt. Ich hatte nämlich den gleichen Traum.“

      „Den gleichen Traum? Sie zog die Stirn in Falten. „Das geht doch gar nicht. Außerdem weißt du überhaupt nicht, wie es in meinem Traum ausgesehen hat. Du könntest also höchstens spekulieren, dass du etwas