Wenn Blau im Schwarz ertrinkt. Sandra Andrea Huber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Andrea Huber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847639398
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Mantel zu schälen.

      So nah vor ihr, in hellem Lichtschein stehend, konnte Gwen ihn zum ersten Mal klar und deutlich ins Auge fassen.

      Er war groß, etwa um die 1,80, trug schwarze Jeans, ein graues Langarmshirt, das sich straff an ihn schmiegte und die Konturen eines gut gebauten Oberkörpers abzeichnete. Sein Gesicht hatte jegliches pubertäre Aussehen verloren, war durch und durch männlich. Markante Wangen- und Kieferknochen umrandeten sein hellhäutiges Gesicht. Hellbraune Bartstoppeln, die man wohl als Dreitagebart bezeichnen konnte, bedeckten die Haut über der Oberlippe, runter zum Kinn und den seitlichen Rand der Wangen bis hinauf zum Ohrenansatz. Sein Haar war fingerlang, an den Seiten etwas kürzer, und leuchtete in einer Mischung aus braun mit dunkelblonden Strähnen. Am Ansatz war es ungestüm und wild nach oben gestylt. Neben den vollen Lippen, den breiten Brauen und der geraden Nase, waren es vor allem seine Augen, die einen nicht losließen, regelrecht hypnotisierend wirkten. Das magische Blauschwarz der Iris, das Gwen jedoch dunkler vorkam als sie es in Erinnerung hatte, zog einen unweigerlich in seinen Bann. Zusammengefasst sah er schlicht umwerfend aus. Sexy. Markant. Geheimnisvoll. Eine geheimnisvolle Aura, erinnerte Gwen sich, hatte ihn bereits als Kind umgeben – allerdings nicht in jener ausgeprägten Form.

      Sie stolperte, leicht überwältigt angesichts dieses Anblicks und seiner Wirkung auf sie, in Richtung Couch, ließ sich darauf fallen und schloss die Augen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so gefühlt hatte, was wohl daher kam, dass sie sich noch niemals so gefühlt hatte, wie in diesem Augenblick. Sie war erschöpft, konnte die Erschöpfung aber nicht in Gänze wahrnehmen, weil sie zugleich unter Strom stand. Es war vergleichbar mit einer gewaltigen Wassermasse, die gegen einen Damm drückte und von diesem am Durchbruch gehindert wurde. In ihrem Fall bestand der Damm aus freigesetztem Adrenalin, das immer noch in ihrem Blutkreislauf zirkulierte und die Erschöpfung von ihr fernhielt. All ihre Sinne waren geschärft, auf das Hier und Jetzt fokussiert, als ob damit zu rechnen wäre, dass jeden Moment etwas passieren könnte, auf das sie schnell reagieren musste. Sie war aufgedreht, hatte regelrecht Hummeln im Hintern und eine ziemlich lose Zunge. „Auf einem Trip sein“ – so würde es ein Drogenabhängiger diesen Zustand möglicherweise bezeichnen. Für sie war es jedoch einfach nur ungemütlich und zermürbend. Niemals würde sie dafür Geld bezahlen – niemals nicht!

      Das Klirren von Glas war zu hören, dann das typische Brummen eines Kühlschranks und ein glucksendes Geräusch. Kurz darauf spürte Gwen, dass Nikolaj sich neben sie gesetzt hatte. Sie drehte den Kopf und fing seinen Blick auf.

      „Hier, trink das.“ Er hielt ihr ein bauchiges Glas entgegen. „Das hilft gegen die Kälte und den Schock. Etwas mehr Farbe im Gesicht würde dir nicht schaden. Du bist fast so weiß, wie ich.“ Er lächelte.

      Gwen nahm ihm das Glas ab und roch Nase kräuselnd daran. „Was ist das? Scotch?“

      „Bourbon. Los, runter damit.“

      Außerstande sich dieser Aufforderung zu widersetzen, kippte sie das großzügig gefüllte Glas in einem Zug hinunter, sodass sich die Flüssigkeit in einer warmen Wolke in ihr ergoss. Der Alkohol brachte ein deutliches Gefühl für die Grenzen ihres Körpers zurück, drückte ihr aber zugleich Tränen in die Augen.

      „Die Freuden des Alkohols scheinen nicht die deinen zu sein.“ Nikolaj besah sie mit einem schiefen Grinsen. „Warum nur, habe ich so etwas geahnt? Sieh es einfach als gut potenzierte Medizin an. Gänzlich verschreibungsfrei.“

      Das Gesicht immer noch verzogen, mühte Gwen sich ein Lächeln ab. „Verschreibungsfrei vielleicht, aber wohl nicht gänzlich ohne Nebenwirkungen, oder?“

      Nikolaj strich ihr das Haar über die Schulter zurück. „Ist alles in Ordnung?“ Seine Stimme hatte einen unüberhörbar besorgten Tonfall inne. „Geht’s dir gut?“

      Gwen fokussierte ihn, dann verschwamm ihr Blick ins Leere. Das war eine gute Frage – nein, eigentlich waren es zwei wirklich gute Fragen. War alles in Ordnung? Ging es ihr gut?

      Diese Nacht war verrückt – auf unzählige Arten. Die Männer hatten sich an ihr vergehen wollen – hatten es jedoch nicht. Sie war heil davongekommen, war in Sicherheit. Die Männer hatten mit ihrem Leben bezahlt. Konnte man das als in Ordnung bezeichnen? Sie hatte keine Wunden oder Verletzungen davongetragen, fühlte sie aber dennoch wie niedergeprügelt und auseinandergenommen. Und gerade jetzt, in diesem Augenblick, befand sie sich eine Handbreit von Nick entfernt, hielt sich in dessen Wohnung auf. Bedeutete das, dass es ihr gut ging? Dass alles in Ordnung war?

      Gwen wusste nicht, was sie antworten sollte, daher sprach sie die ungefilterten Bruchstücke einzelner Gedanken aus. „Das war viel heute Nacht, sehr viel auf einmal. Ich hatte eine anstrengende Schicht im Krankenhaus. Frau Clarkson von Zimmer 347 hat mal wieder gegen ihre Medikamente rebelliert. Hat die halbe Station damit aufgeweckt. Und auf dem Heimweg, diese Kerle, ich habe es geahnt, aber ich dachte, ich schiebe nur Paranoia. Er war so stark, ich konnte ihn nicht von mir schieben. Wenn du nicht gekommen wärst, dann … Und jetzt, du sitzt wirklich neben mir und ich bilde mir das nicht nur ein.“ Sie hielt kurz inne und suchte Nikolajs Blick. „Und die Männer, Nick. Sie sind tot. Du hast sie getötet.“

      „Ich weiß.“ Mehr sagte er nicht, doch lag hinter diesen beiden Worten weit mehr verborgen. In diesem Moment konnte Gwen nicht greifen, was es war, das in ihm vorging. Außer, dass es weit mehr war, als er ihr offenbarte.

      Schweigend, den Kopf voller Fragen und Stimmen, musterte sie den Mann, der ihr trotz der Trennung so vertraut vorkam, als würde allein seine Anwesenheit allen Zellen ihres Körpers ein Update verpassen und eine Verbindung herstellen, die sie beide im gleichen Takt ankommen ließ.

      Zwar war Nikolaj schon immer jemand gewesen, der nicht freizügig mit seinen Gefühlen und Gedanken hausieren ging, sondern viel mit sich selbst ausmachte, doch hatte sie trotzdem oft zu sagen gewusst, was er gefühlt oder gedacht hatte. Oder mehr, dass er nicht gedacht und gefühlt hatte, was er nach außen hin preisgegeben hatte. Möglicherweise rührte dieses Wissen aus jener Verbindung und vielleicht konnte nicht nur sie, sondern auch Nikolaj es empfinden. Auch er schien oftmals gewusst zu haben, was sie gedacht hatte, noch ehe sie es laut ausgesprochen hatte.

      Seit jenem Tag auf dem Spielplatz war es so gewesen. Von diesem Tag an, hatten sich ihre Leben miteinander verwoben und das ließ sich nicht mehr rückgängig machen, auch wenn ihre Eltern genau das versucht hatten. Sich darum bemüht hatten, das Band zwischen ihnen zu zerschneiden, indem sie Gwen von Nikolaj fernhielten – versuchten, sie von ihm fernzuhalten. Sie hatten ihre Freundschaft, ihre besondere Verbindung, nie verstanden. Sie hatten Angst vor ihm gehabt.

      Da sie bei diesem Kontaktverbot nicht mitgespielt hatte, war sie durch einen Urlaub, der sich schließlich als getäuschter Umzug entpuppt hatte, aus der Stadt gebracht worden. Eine Entführung gewissermaßen. Arrangiert von den eigenen Eltern.

      Gwen hatte keinerlei Möglichkeit gehabt, sich von Nikolaj zu verabschieden oder ihm zu sagen, wo sie hinfuhr. Sie hatte überhaupt keine Möglichkeiten gehabt. Damals war sie gerade Mal sechzehn gewesen und da ihre Eltern die überspitzte Überzeugung geteilt hatten, ihre Tochter in Sicherheit bringen zu müssen, war es ihre Meinung gewesen, die durchgesetzt worden war. Es hatte zu ihrem Besten sein sollen, das wusste Gwen. Doch das Beste hatte für jeden eine andere Bedeutung.

      Als sie endlich volljährig geworden war, hatte sie ihre Sachen gepackt und war gegen die Bitten ihrer Eltern ausgezogen, um sich auf die Suche nach Nick zu machen. Sie war zurück in ihre einstige Heimatstadt gefahren, in der sie so viele gemeinsame Stunden mit Nick verbracht hatte. Doch weit und breit hatte sie kein Lebenszeichen von ihm finden können. Niemand hatte ihr eine Adresse oder irgendeinen Hinweis auf seinen Verbleib geben können. Niemand hatte von einem Jungen namens Nick oder Nikolaj gewusst. Die Tatsache, dass sie keinen Nachnamen hatte nennen können, war nicht sonderlich hilfreich gewesen.

      Nicht, dass sie ihn niemals danach gefragt hatte. Nach seiner Familie, seinem Nachnamen, seinem Zuhause. Allein schon deshalb, weil ihre Eltern sie mit diesen Fragen bedrängt hatten, hatte sie es getan. Doch in dieser Hinsicht hatte Nikolaj eine klare und unüberwindbare Grenze gezogen. Anfangs hatte sie gedacht, sie würden sich noch zu wenig kennen und er würde es ihr nicht sagen, weil er ihr