Wenn Blau im Schwarz ertrinkt. Sandra Andrea Huber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Andrea Huber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847639398
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sah tief in jene Augen, die sie die letzten acht Jahre so oft herbeigesehnt hatte, ließ sich von dem Glücksgefühl und der Freude durchfluten. Unwillkürlich löste sie die Finger vom Saum ihres Mantels, schlang sie in einer fließenden Bewegung um Nikolajs Hals und ließ sich mit ihrem gesamten Gewicht auf ihn fallen.

      Er umschloss die Hände hinter ihrem Rücken, drückte sie an seine Brust und strich ihr über das lange, von der nasskalten Luft leicht gekräuselte Haar. „Alles ist gut, Gweny. Ich bin hier. Ich bin bei dir.“

      „Ich dachte, ich sehe dich nie wieder! Ich dachte, ich habe dich für immer verloren! Ich habe dich so vermisst, jeden gottverdammten Tag seit damals!“ Sie schluchzte haltlos drauf los, ließ die Anspannung und Starre aus ihrem Körper weichen und nahm stattdessen die erlösende Wahrheit in sich auf. Vor ihr stand Nikolaj – ihr Nick. Er war zurückgekehrt. In ihr Leben. Zu ihr. Er war wirklich da.

      Nikolaj ließ ihr alle Zeit, die sich brauchte, hielt sie einfach nur im Arm und hüllte sie in schützende Geborgenheit. Alles Äußere ward vergessen. Einzig seine Hände um ihren Rücken, seine Anwesenheit und Wärme, sein Körper, der den Ihrigen berührte, waren von Bedeutung.

      Nach einer viel zu kurzen Zeit fiel ihr Blick abermals auf die regungslosen Körper der Männer, sodass sie sich keuchend aus der Umarmung löste und die Leichtigkeit einer drückenden, frostigen Last wich.

      Gedanken um Gedanken schossen in ihrem Kopf durcheinander, einem unkoordinierten und chaotischen Tanz gleich. Die Männer hatten sie beinahe vergewaltigt. Nick hatte sie daran gehindert. Nick hatte sie getötet. Nick war zurück. Er war wirklich hier. Das alles war zu viel für ihren Verstand. Er stand kurz vor einem Totalausfall.

      Nikolaj fasste sie an den Händen und fing ihren Blick ein, was einige Sekunden dauerte. „Komm, ich bring dich weg von hier. Du gehörst ins Warme. Lass uns gehen.“

      In Gwen focht ein Kampf zweier Stimmen:

      Nick hat gerade zwei Menschen getötet.

      Nick ist wieder bei mir.

      Sie mussten die Polizei rufen. Einen Arzt. Sie mussten irgendjemanden rufen – oder nicht?

      Nichts wollte sie lieber, als mit Nick von hier zu verschwinden und diesen unwirklichen Albtraum hinter sich zu lassen. Sie wollte von ihm im Arm gehalten werden, wollte alles erfahren, was er seit damals getan hatte, wo er gelebt hatte. Sie wollte einfach nur da weitermachen, wo man sie vor Jahren auseinandergezerrt hatte.

      Und doch konnte sie das Flüstern nicht zum Schweigen bringen, das ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken wollte, dass hier gerade ein Mord passiert war; dass zwei Menschen tot waren und Nick – ihr Nick – der Mörder dieser zwei Menschen war.

      Nikolaj umfasste ihr Kinn, hob es an und taxierte ihre Augen. „Gehen wir?“ Er drängte sie nicht, wartete stumm ihre Antwort ab, doch es schien ihn Mühe zu kosten. Sie konnte spüren, dass es so war. Sie konnte spüren, dass er wollte, dass sie mit ihm von hier verschwinden wollte.

      In ihrer Brust pochten die Sekunden Herzschlag um Herzschlag dahin, wie dröhnender Donner. „Okay … lass uns gehen“, sagte sie schließlich mit leiser Stimme, unfähig, sich dem zu stellen, was soeben geschehen war.

      Dicht an Nikolaj geschmiegt, seinen Arm um ihre Mitte, ließ sie sich aus der Gasse führen, fort von den Ereignissen dieser nasskalten Januarnacht, hin zu der Gegenwart und Zukunft, die Nick einschloss.

      * * *

      Aus seinem Versteck heraus sah er ihn und das Mädchen Arm in Arm aus der Gasse kommen.

      Ein Grinsen zog sich über seine schmalen Lippen, welche seine unregelmäßigen und gelbstichig gefärbten Zähne offenbarten. Dieses Zusammentreffen würde seinen Boss ohne Frage interessieren.

      Verborgen im Schatten folgte er Nikolaj und dem Mädchen bis zu einem rötlichen Backsteingebäude. Er beobachtete noch, wie sie durch die doppeltürige Eingangstür ins Innere verschwanden, ehe er selbst durch den vibrierenden Schleier trat, die nächtliche Dunkelheit der Menschenwelt hinter sich ließ und stattdessen in die durchdringende, vertraute Dunkelheit seiner Welt heimkehrte.

      ZWEI

Grafik 41

      Gwens Fuß verfehlte die nächste Treppenstufe, sodass sie nach hinten taumelte. Glücklicherweise war ein Paar kräftiger Hände zur Stelle, die ihren Rücken stützten und sie in einen festen, sicheren Stand zurückbrachten.

      „Verdammt noch mal, Nick! Auch wenn du einen eingebauten Nachtsichtblick hast oder die Umgebung inzwischen so gut kennst, dass du sie im Schlaf gehen kannst: Auf mich trifft weder das eine noch das andere zu! Ich bin blind wie ein Maulwurf und orientierungslos wie eine im Nebel versumpfte Mücke. Gemessen daran, wäre es überaus taktvoll, wenn du zumindest für mich das Licht anmachen könntest.“

      Ein samtenes Lachen drang hinter ihr hervor und umfing sie mit Vertrautheit. Zwar klang es nun tiefer, männlicher und rauchiger als früher, aber dennoch klang es immer noch nach ihm.

      „In Zukunft werde ich, in Respekt dem Maulwurf gegenüber, das Licht anmachen. Trotz der Tatsache, dass er das nicht nötig hat. Er hat ja schließlich mich, seinen treuen Blindenführer.“

      Tiefe Vertrautheit und gleichzeitige Surrealität tanzten durch Gwens Brust. Nick war wirklich da, es war kein Traum, sondern Realität. Es war fast so, als ob die Jahre der Trennung nur eine Illusion gewesen wären und sie in Wirklichkeit niemals voneinander getrennt worden waren. Aber eben nur fast. Denn das waren sie. Sie waren auseinandergezerrt worden. Von Gwens Eltern, was es umso schlimmer machte.

      Trotz ihrer Bitte ließ Nikolaj kein Licht aufglimmen. Stattdessen umfasste er ihre Taille, führte sie Stufe um Stufe die Treppe hinauf, dann einen Gang entlang, ehe er vor einer Tür Halt machte.

      Gwen konnte hören, wie er in seiner Tasche nach einem Schlüssel kramte. Ein überaus unangenehmes Gefühl von Aufgedrehtheit und Hibbeligkeit pulsierte durch ihren Körper. Um diesem auf irgendeine Art und Weise entgegenzuwirken, begann sie, unsinniges Zeug vor sich herzuplappern. „Ich vermute, alleine würde ich eine ganze Weile vor verschlossener Türe stehen. Vorausgesetzt ich wäre scharf darauf herauszufinden, wie lange ich brauche das Loch zu treffen – also so im Dunkeln. Aber ich würde wohl einfach Licht anmachen. Sag mal, habt ihr Männer dieses Problem etwa ständig? Ich meine, ihr könnt im Schlafzimmer ja nicht mal eben Licht anmachen, wenn ihr…“

      Das Schloss klackte und unterbrach ihren peinlichen Worterguss, wofür sie dankbar war. Mehr als sie jemals zugeben würde.

      Nikolaj wandte sich zu ihr um und sagte, nicht gänzlich ohne die Spur amüsierter Belustigung in der Stimme: „Madame, immer hereinspaziert.“

      Mit dem Gedanken, dass es in diesem Moment doch recht günstig war, dass kein Licht brannte, tat Gwen einige Schritte in die, wie sie vermutete, Wohnung von Nikolaj. Der folgte ihr dicht auf den Versen und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

      Zögerlich ging sie noch ein paar Längen weiter in den Raum hinein, ehe sie sich räusperte. „Äh, Nick? Wie wäre es jetzt mit ein wenig Licht für deinen Maulwurf? Sonst-“

      Ein dumpfes Geräusch, gefolgt von ihrem eigenen Aufschrei, unterbrach sie. „Autsch! Verdammt!!“

      Binnen einiger Sekunden flutete Licht den Raum.

      Gwen kniff die Augen zusammen, um ihnen die plötzliche Helligkeit schonend näher zu bringen. War Licht tatsächlich schon immer so hell gewesen? Ihren schmerzenden Fuß reibend, betrachtete sie das soeben umgerannte Möbelstück, das sich als Couchtisch outete.

      Nikolaj stand immer noch ein paar Meter entfernt von ihr, nahe der Tür, und sah sie halb musternd, halb grinsend an. „Was mach ich nur mit meinem Maulwurf?“

      „Ihm ein neues Bein schenken …“, murmelte sie mit zusammengepressten Zähnen und auf einem Bein humpelnd.

      Nikolaj