Wenn Blau im Schwarz ertrinkt. Sandra Andrea Huber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sandra Andrea Huber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847639398
Скачать книгу
und gesagt, dass seine Familie speziell sei und dass eine Begegnung für beide Seiten nicht positiv wäre. Irgendwann hatte sie aufgehört ihm Fragen darüber zu stellen, wo er hinging, wenn er fort war oder was er tat, wenn er nicht bei ihr war. Er hätte ohnehin nicht geantwortet und darüber hinaus war es für sie nicht so wichtig gewesen. Als sie jedoch nach ihm gesucht und ihren Gegenübern zu beschreiben versucht hatte, nach wem sie suchte, hatte die Erkenntnis über ihre Unwissenheit sie mit einer Welle von Unverständnis und Enttäuschung überrollt.

      Für einen kurzen Augenblick blitzte die Frage, ob ihre Eltern angesichts der jüngsten Ereignisse mit ihrer vermeintlichen Vorsicht Nikolaj gegenüber richtig gelegen hatten, in ihrem Geist auf. Bereits im nächsten Augenblick konnte sie nicht fassen, dass sie das auch nur gedacht hatte. Ja, Nikolaj hatte die beiden Männer getötet, aber nicht grundlos oder vorsätzlich. Er war ihr zu Hilfe gekommen. Er hatte es getan, um sie zu retten. Er hätte sie nicht töten müssen, aber er war kein kaltblütiger Mörder aus Spaß an der Tat. Die Kerle hätten nicht gezögert ihn mit dem Messer zu bearbeiten. Er hatte sich nur selbst verteidigt. Das hatte er doch?

      Derart in Gedanken versunken hatte Gwen nicht mitbekommen, dass Nick nochmals aufgestanden und ihre Gläser neu aufgefüllt hatte. Erst jetzt, als er ihr ein weiteres volles Glas entgegenhielt, kam sie wieder im Hier und Jetzt an.

      Auf ein aufmunterndes Nicken von Nikolaj hin, kippte sie auch dieses Glas in einem Zug hinunter, was ihre Speiseröhre mit einem ätzenden Hustenanfall quittierte.

      Er klopfte ihr auf den Rücken, sodass sie wieder zu Atem kam. „Wie wär’s, wenn du dich etwas hinlegst? Schlaf würde dir sicherlich gut tun und mein Bett ist wirklich bequem.“

      In Absicht rasch zu antworten folgte ein neuerlicher Hustenanfall. „Nein, ich will jetzt nicht schlafen. Wie sollte ich jetzt schlafen, Nick? Jetzt, wo du mir nichts, dir nichts, neben mir sitzt?“

      Gwen atmete mehrmals durch, ehe sie leiser und weniger aufgebracht fortfuhr. „Es tut mir leid, Nick. Ich habe es nicht gewusst. Meine Eltern … ich konnte dir nichts sagen, ich konnte nicht-“

      „Ich weiß“, unterbrach er sie sanft. „Ich habe rausbekommen, dass sie dich weggebracht haben. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie nicht wollten, dass du dich mit mir abgibst.“ Obwohl er in ruhigem Tonfall sprach, lag deutlich wahrnehmbarer Zorn unter seinen Worten verborgen, den er mit Mühe zu verstecken versuchte.

      Gwen registrierte es nur am Rande. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt als dass sie ihn darauf ansprechen konnte. Stattdessen gab sie ihrem Drang sich zu erklären und Antworten zu erhalten nach und verfiel dabei in einen immer energischeren Tonfall. „Nie hätte ich gedacht, dass sie so etwas tun würden! Ich habe ihnen gesagt, dass sie blanken Irrsinn reden, dass du nicht gefährlich bist und mir nie etwas antun würdest. Ich hab ihnen gesagt, wie wichtig du mir bist, aber das ging alles glatt durch sie hindurch. Vor sechs Jahren bin ich zurück in unsere alte Straße, hab nach dir gesucht, hab überall herumgefragt, aber niemand konnte mir irgendetwas sagen. Ich konnte ihnen ja nicht mal genau erklären, wen ich suche, weil ich es ja genau genommen selbst nicht gewusst habe. Ich kenne weder deinen Nachnamen noch deine Familie oder weiß, wo du zu Hause bist – oder warst. Warum weiß ich das alles nicht, Nick?“ Sie beendete ihre Wörterflut mit einem verzweifelten und flehentlichen Tonfall, der ihre innere Aufgewühltheit widerspiegelte.

      Nikolaj sah sie mit einem durchdringendem Blick an, ehe er zögernd, so, als würde er jedes Wort genau abwägen, erwiderte: „Ich war nicht mehr dort. Nachdem deine Eltern mit dir verschwunden sind und klar war, dass du nicht wiederkommst, habe auch ich der Stadt den Rücken zugekehrt. Was hätte mich noch dort halten sollen?“ Es war eine rhetorische Frage, die durch seinen ernsten und durchdringenden Tonfall beantwortet wurde.

      Gwen sah ihn mit leicht geöffneten Lippen an.

      „Mir war sehr wohl bewusst, dass du einiges von mir nicht gewusst hast, schließlich war ich derjenige, der dir absichtlich nichts davon erzählt hat. Alles, was“, er hielt kurz inne, „von Bedeutung war, das wusstest du.“

      „Was soll das heißen? Absichtlich nichts davon erzählt? Alles erzählt, was von Bedeutung war? Wer deine Familie ist, wo du lebst, wer du bist – das ist nicht wichtig?!“ Sie rang um Gewalt über ihre Gedanken und ihre Stimme. Das hier war ein weiterer Tropfen, in dem ohnehin schon vollen und aufgewühlten Gewässer ihres Geistes.

      Nikolaj taxierte sie abermals voller Intensität, dann sagte er bestimmend: „Ich glaube, du solltest dich jetzt wirklich hinlegen. Du brauchst Ruhe. Du brauchst-“

      Gwen sprang energisch von der Couch auf, schrie ihn lauter als beabsichtigt und mit überspitztem Timbre in der Stimme an. „Ich will mich jetzt nicht hinlegen, Nick! Ich will eine Antwort! Ich will verstehen, warum meine Eltern das gemacht haben! Ich will, dass es niemals passiert ist! Ich will wissen, warum du etwas vor mir verheimlicht hast! Ich will Antworten! Ich will die Wahrheit!“ In ihr wirbelte ein Orkan aus Taubheit, Verwirrung und Hysterie, dessen sie nicht Herrin war.

      Nikolaj griff sie am Arm, zog sie zurück aufs Sofa, an seine Brust. „Schschsch, alles ist gut, es ist gut. Beruhig dich. Ich werde alle Fragen beantworten, die du hast. Alle, auf die ich antworten kann. Das verspreche ich dir.“

      Noch nicht besänftigt drückte sie sich ein Stück von ihm weg. „Du hast mir damals die Wahrheit vorenthalten. Warum?“

      Als er antwortete, lag ein müder und zermürbter Ausdruck in Nikolajs Augen. „Ich weiß, dass ich das getan habe. Ich wollte nicht, dass sich die Wahrheit zwischen uns drängt. Denn das kann sie – so wie vieles andere. Deine Eltern sind das beste Beispiel. Aber von jetzt an werde ich ehrlich und offen dir gegenüber sein. Keine Geheimnisse mehr. Du hast mein Wort.“

      Sie registrierte, dass etwas in ihm tobte und ließ ihre Stimme sanfter werden. „Und warum? Was ist jetzt anders als früher? Gibt es nun keinen Grund mehr die Wahrheit zu verbergen?“

      „Nichts ist anders“, erwiderte Nikolaj hohl lächelnd und mit einem Hauch von Zynismus in der Stimme. „Nichts hat sich verändert. Wenn überhaupt, ist alles noch verworrener und schlimmer, als es früher der Fall gewesen ist. Aber …“, er sah ins Leere, als ob er dort etwas sehen könne, was sie nicht sah, „ich will dir nichts mehr verschweigen oder dich belügen. Die Wahrheit ist womöglich das Einzige, was ich dir geben kann. Alles andere liegt nicht in meinen Händen.“

      Er richtete sich etwas auf, als er weitersprach. „Tu mir nur einen Gefallen. Denk gut darüber nach, ob du die Wahrheit wirklich wissen möchtest. Einmal ausgesprochen ist sie nicht mehr zu widerrufen oder zu vergessen.“

      Gwen musterte ihn noch einen Augenblick lang nachdenklich, ehe sie sich erneut an seine Brust schmiegte und die Lider senkte. Wie hatte sie die Augen seither nur offenhalten können? So schwer, wie sie waren?

      Als sich ihre Atmung beruhig und eingependelt hatte, hauchte er in ihr Ohr: „Ich werde dir alle Antworten geben, die du haben möchtest - aber das muss nicht jetzt sein.“

      Gwen blieb ihm eine Erwiderung schuldig, grub sich enger in seine Umarmung, genoss den immer noch unwirklichen Moment seiner Nähe und das wundervolle Gefühl, das damit einherging.

      Es dauerte nicht lange, bis sich das herrliche Gefühl in einen herrlichen Traum verlief, der ihrem Körper und Geist endlich die dringend ersehnte Pause verschaffte.

      * * *

      Nikolaj war sich darüber bewusst, was er in der Gasse getan hatte und dass mehr als in dem Moment, als er es getan hatte. In der Gasse war er nicht bei klarem Verstand gewesen, hatte sich vielmehr in einer Art Rauschzustand befunden, der ihn einfach hatte handeln lassen. Instinktiv. Egoistisch. Ohne Rücksicht auf Verluste. Er hatte neben sich gestanden, allerdings ohne sich bei seinem Handeln beobachten zu können. Er war einfach nur beiseitegetreten.

      Ein Teil von ihm hasste all das. Diesen Rausch und das, was er dann tat. Was er heute getan hatte. Der andere Teil verachtete ihn, weil er sich davon derart mitgenommen fühlte, sich den Kopf darüber zerbrach. Diesem Teil war es schlichtweg egal, was er tat. Was er mit den beiden Männern getan hatte. Was er irgendwann mit irgendjemandem