Als ich mich von ihr verabschiedete, drückte Alma mich so fest, dass ich kaum mehr atmen konnte. Ich spürte, wie sehr ihr Dank mir guttat. Wenn auch sie verschwitzt war, ausgezehrt und am ganzen Leib zitterte, es war, als ob ich seit langer Zeit wieder aufrichtige Nähe und Verbundenheit zu spüren bekam. Dieses Gefühl ging mir durch Mark und Bein.
Auf dem Rückweg hatte Alma mir den Weg mit ihrer Taschenlampe geleuchtet (keine Wache war diesmal weit und breit zu sehen – ich hatte Alma die Chorizos überlassen und ihr all mein Geld gegeben, das ich bei mir trug), sie war bis zum Loch im Zaun mit mir gegangen, hatte mein Gesicht gestreichelt. Und ich hatte es geschehen lassen. War ich von Sinnen, dass ich mich mit einer Frau wie Alma abgab? Dass ich nun ein verknittertes Foto von Ines in meiner Hosentasche trug. Der hübschen jungen Frau, die ganz nach ihrer Mutter kam.
Peggy hatte besorgt geschaut, als ich in ihrer Bar auftauchte. Tapas waren lange aus. Man trank Bier und Tequila. Es war brechend voll, dennoch nahm sich Peggy Zeit. Sie sagte nur, ich solle tun, was ich für richtig halte. Ich habe noch zwei doppelte Whiskys getrunken, dann bin ich hinüber ins Hotel gegangen. Ich konnte lange nicht einschlafen.
Am nächsten Morgen durchforstete ich das Internet nach Meldungen. In der Tat gab es keine einzige Nachricht darüber, dass eine junge Frau namens Ines Atma (Alma hatte mir Ines’ entwerteten Studentenausweis gezeigt, Atma war tatsächlich ihr Nachname.) vermisst werde.
Ich machte mich auf nach Palma. Zur Polizeidienststelle. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dem diensthabenden Ordnungshüter mit höflicher Korrektheit zu begegnen, aber als ich zwanzig Minuten an seinem Tresen verbrachte, ohne dass er mir überhaupt Beachtung schenkte, sondern stattdessen ein Formular studierte, als ob er es auswendig lernen müsste, war ich bereits erzürnt.
Ich hatte ihm auf Deutsch gesagt, dass dies kein Notfall sei, ich aber dringend Hilfe bräuchte. Er hatte die Hände gehoben und signalisiert, Ruhe zu bewahren. Dann hatte er das Formular irgendwann endlich zur Seite gelegt und war hinter seinem Sekretär hervorgekommen.
Er hatte sich mit einer Hand an der Theke festgehalten und mit der anderen Hand über die spiegelglatte Oberfläche des Tresens geputzt, als ob er dort vorhandenen Staub wegwischen würde. Dann hatte er aufgeschaut und mich provozierend angestarrt.
„Hablamos Espanol!“, sagte er.
„Ich nicht“, sagte ich.
Er grinste. Dann sprach er plötzlich deutsch mit mir.
„Wie sagt man, kleiner Scherzklecks, was?“
„Scherzkeks“, erwiderte ich. „Das bin ich keineswegs. Albert Wallmann ist mein Name. Ich bin wegen einer jungen Frau hier, um die ich mich sorge. Ines Atma. Sie ist seit sechs Monaten unauffindbar, wie mir ihre Mutter sagte.“
Der Polizist schaute plötzlich an mir vorbei, als ob ich Luft für ihn wäre. „Wie heißt sie?
„Ines Atma.“
„Moment.“ Er ging zurück zu seinem Schreibtisch, schaute auf seinen Computerbildschirm, tippte etwas auf der Tastatur ein. Nach einer vielleicht halben Minute des Suchens kam er zurück.
„Ist nicht gemeldet.“
„Was heißt das?“, sagte ich. „Wohnsitz oder Vermisstenanzeige?“
„Beides“, sagte der Polizist.
Mir reichte es, aber ich nahm mich zusammen. „Die Mutter ist bei Ihnen gewesen und hat sie als vermisst gemeldet. Aber wie ich höre, gibt es keine Vermisstenanzeige. Wie kommt das?“
Er räusperte sich. „Wissen Sie, Herr Wallmann, dies ist Mallorca. Vermisste sind vielleicht mal eine Weile vermisst, tauchen aber immer wieder auf. Man will auch mal ungestört sein. Sie verstehen ...“
„In diesem Falle macht sich die Mutter aber Sorgen, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen sein könnte.“
Ich unterstrich die Dringlichkeit meines Anliegens und erzählte ihm in groben Zügen die Geschichte, die Alma mir erzählt hatte.
Er hörte aufmerksam zu, dann sagte er: „Es gibt keinen Anlass zur Vermisstenanzeige. Das werden auch meine Kollegen der Mutter gesagt haben. Wo wohnt sie überhaupt und warum haben Sie die Mutter nicht mitgebracht? Wie ich höre, stehen Sie in keiner Beziehung zu der unauffindbaren Frau.“
„Das ist doch unerheblich, ob ich ein persönliches Verhältnis zu dieser Ines habe. Sie ist seit sechs Monaten verschwunden!“
„Und? Herr Wallmann, ich kann nichts für Sie tun. Und jetzt entschuldigen Sie mich.“
Der Polizist trat vom Tresen zurück und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Ich schluckte meinen Ärger herunter, ich vernichtete ihn mit meinem Blick. Grußlos verließ ich die Station.
Im Grunde hatte ich es mir ausrechnen können. Warum sollten Sie mir mehr Glauben schenken als Alma Atma?
Die Polizei konnte ich, wenn überhaupt, nur auf den Plan rufen, wenn ich nachwies, dass Ines’ Leben in Gefahr war. Und diesen Nachweis konnte ich leider nicht erbringen.
Ich fuhr weiter. Zum Palma Strand. Ich fragte mich durch, ging von Lokal zu Lokal, erklärte, dass ich einen gewissen Pepe suche, der meiner Nichte Ines einen Job versprochen hatte. Da Ines wieder bei ihm arbeiten wolle, aber im Moment verhindert sei, frage ich für sie an. Klang ein bisschen komisch, aber den meisten, denen ich begegnete, war das egal. Ich bekam nach langer Fragerei heraus, dass Pepe wohl jetzt im Restaurant „Laterne leuchtet“ auf der Strandpromenade arbeite. Der junge Mann, der mir das sagte, ein Barkeeper, war froh, dass ich mich wieder davonmachte und zuerst glaubte ich, er hätte mir eine Lüge aufgetischt, um mich loszuwerden. Aber dem war nicht so.
Pepe, ein breiter Spanier mit langem, lockigem Haar, war gerade dabei, die Tische vor dem Restaurant mit einem kleinen Handbesen abzufegen, als ich ihn auf Ines ansprach.
„Die war hier“, sagte er, „ich erinnere mich dunkel. Ist aber lange her.“
„Wie lange?“
„Kann ich nicht mehr sagen. Mehrere Monate auf jeden Fall. Sie hat gefragt, ich habe ihr gesagt, ich hätte vielleicht mal irgendwann was für sie. Ich habe ihr unser Kassensystem erklärt. Aber sie hat es einfach nicht kapiert. Die war mit den Nerven runter. Und da habe ich ihr gesagt, sie soll erst mal wieder fit werden und dann könne sie es vielleicht mal probieren.“
„Hat sie Drogen genommen?“, fragte ich.
„Nein, die war einfach fertig. Konnte sich nicht konzentrieren, behielt nichts, sorry, das kann ich nicht brauchen.“
Ich ließ Pepes Worte in mir nachklingen. Ich wollte spüren, ob er mich nicht anlog. Ich glaubte ihm. Ich verabschiedete mich höflich und ging. Kam aber nochmal zu ihm zurück. „Eine Idee, wo sie was finden könnte?“, fragte ich. Pepe schaute mich ärgerlich an, als stehle ich ihm seine Zeit. „Go-Go vielleicht. Denk doch mal selber nach.“
Das reichte. Ich wendete mich wortlos um, angesichts der einfühlsamen Art, die er mir angedeihen ließ.
Cora, so hieß die einzige Tänzerin, die mit dem Namen Ines etwas anfangen konnte. Ich hatte alle Etablissements abgeklappert, war auf Widerstände gestoßen, auf Abwehr, wahrscheinlich auch auf Verleugnung. Aber diese Cora, deren Telefonnummer ich von einem deutschen Wirt bekommen hatte, machte mir jedoch wenig Hoffnung. An der Stange oder auf dem Würfel sei die Ines eine Niete gewesen. Sie sei dann verschwunden, aber so vor ungefähr einem halben Jahr habe sie Ines zuletzt in einem Supermarkt angetroffen. Dort hätte sie um Essen gebettelt. Sie nannte mir den Namen des Ladens, es handelte sich um einen der größten Supermärkte von Palma, wie ich später entdecken durfte, und meinte, vielleicht käme Ines ja an diesen Ort zurück oder habe ganz in der Nähe Unterschlupf gefunden.
Ich bin dorthin kutschiert und habe den Kassiererinnen das Bild von Ines gezeigt. Sie konnten sich tatsächlich