„Sind denn die Medikamente nicht mit starken Nebenwirkungen verbunden? Und dann natürlich auch: Werden die Kosten von der Kasse übernommen? Sie hat wenig Geld, gut, wir könnten sie vielleicht unterstützen, aber es ist ja nicht gerade unproblematisch mit der sozialen Absicherung.“
Weniger räusperte sich. „Da brauchen Sie keine Sorge zu haben. Im Gegenteil. Sie ist dann Teil einer maximal drei Monate andauernden Forschungsreihe. Ihre Kosten übernehmen wir komplett und das Schöne daran ist – Sie bekommt auch noch viertausend Euro für ihre Teilnahme auf die Hand. Die neuesten Medikamente haben so gut wie keine Nebenwirkungen. Sie müssen bedenken, Ihre Nichte ist nicht die Einzige, die unter Ängsten leidet. Ängste oder depressive Verstimmungen sind Massenphänomene. Die neuen Medikamente müssen jedem Betroffenen einen ganz normalen Alltag ermöglichen.“
Das reichte mir. Ich erfragte noch, mit welchen Kliniken er zusammenarbeitet, aber er wollte nicht mit der Sprache heraus. Er sagte, dies hänge von der Diagnose ab. Ich bat um diese Broschüre. Er händigte mir ein Prospekt aus. Hochglanz, mit vielen warmen Rot- und Orangetönen gestaltet. Dann erhielt ich sein Kärtchen und er bot an, am besten bald einen Termin mit meiner Nichte gemeinsam zu machen, falls sie sich zu einer Behandlung entschließen könne. – Wie wollte man da „Nein“ sagen. Er wirkte überzeugend, abgeklärt und freundlich.
Ich überdachte die ganze Angelegenheit während meiner Rückfahrt nach Andratx und kam zu folgender Erkenntnis: Wenn eine Testreihe drei Monate dauerte, dann musste Ines, wenn sie am Forschungsprogramm teilgenommen hatte, eigentlich schon lange die Klinik verlassen haben. Vieles sprach dafür, dass sie sich aus dem Staub gemacht hatte. Aber durfte man annehmen, dass sie ihre Mutter kaltschnäuzig zurückließ?
Was macht man in einer solchen Situation? Mein Bauchgefühl sagte mir, ich musste mehr über Lux Pharma Industries herausfinden. Was war das für ein Unternehmen? Und welche Rolle spielte dort Lucius Weniger?
Es sah auf den ersten Blick so einfach wie gleichsam unglaublich aus: Dieser Tote im Hafenbecken, Xaver Henner Müller, und vielleicht auch Ines Atma waren – möglicherweise – aus unterschiedlichen Beweggründen an Lucius Weniger geraten. Xaver Henner Müller war daraufhin laut Alma verschwunden und auch Ines, was Alma ja nicht wissen konnte, hatte mit einiger Wahrscheinlichkeit Lucius Weniger aufgesucht. Es war anzunehmen, dass Ines das Honorar einstreichen wollte, bei Xaver Henner wusste man nicht, was seine Beweggründe waren. Ob er auch auf das leicht verdiente Geld scharf war, indem man ein paar Pillen schluckte, oder, ob er sich wegen ernsthafter psychischer Probleme behandeln ließ, darüber konnte ich bislang nur Vermutungen anstellen.
Als ich, zurück in Andratx, weiter nachforschte, staunte ich nicht schlecht. Lux Pharma Industries war ein etabliertes Unternehmen, das aus der Sparte Nahrungsergänzungsmittel kam und lange Zeit sehr erfolgreich Süßstoffe vertrieben hatte. Seit zwei Jahren, so las ich in der kleinen Randnotiz einer mallorquinischen Gazette, stellte die Firma auf Mallorca Arzneien her. Und zwar im Norden der Insel, nahe Pollenca.
Ich rief im Five White Stripes Deluxe an, erfragte den Namen des Portiers, der den Angor Kongress betreut hatte. Sein Name war Manuel Rodriguez. Diese Information reichte mir schon. Ich benutzte einen Vorwand um von meinem wahren Anliegen abzulenken und beendete das Gespräch. Dann erzählte ich Peggy von meinem Vorhaben nach Pollenca zu fahren. Sie gab mir ihren Jeep und ich machte mich am nächsten Vormittag auf den Weg. (Den Jeep ließ ich übrigens auf der Hinfahrt an einer Tankstelle waschen, tankte ihn auf und kaufte für Peggy eine Schachtel Pralinen.)
Pollenca sollte ein hübsches Städtchen mit engen Gassen und einer romantischen Bucht sein. So besagte es zumindest mein auf dem Nachttisch zurückgebliebener Reiseführer. Aber ein Blick auf Pollenca blieb mir verwehrt, denn Lux Pharma Industries lag einige Kilometer südlich von der Stadt entfernt, direkt an der MA-10, umgeben von kahlen Bergen.
Den Wagen ließ ich an der Straße stehen und ging die lange Zufahrt entlang, bis ich den großen Parkplatz vor den Werkstoren erreichte. Eine Schranke versperrte mir den Weg zum Verwaltungsgebäude des Unternehmens. Ich musste beim Pförtnerhaus um Einlass bitten. Der Pförtner war Ende fünfzig, ein Mann, dem sicher großes Leid widerfahren war. Auf seiner Glatze prangte eine breite lilafarbene Narbe, sein linkes Auge war mit einem abgeklebten Wattebausch verschlossen. Wenn er sprach, öffnete er den Mund so wenig wie möglich. Aber dennoch blieb mir nicht verborgen, dass nur noch zwei Zähne in seinem Oberkiefer und zwei Zähne in seinem Unterkiefer steckten. Sein Zahnfleisch war schrecklich gerötet und mir kam der Gedanke, dass er unter einer schweren Parodontitis leiden musste. Als er mich nuschelnd fragte, selbstverständlich auf Spanisch, was ich hier wolle, sagte ich ihm in seiner Landessprache, ich sei ein Besucher. Er wusste gleich, dass ich Deutscher war, sagte, etwas deutlicher, „Warten“ und rief per Handy einen Kollegen herbei. Der hieß Christiano und war vielleicht neunzehn Jahre alt. Ein stolzer Spanier, hocherhobenes Haupt, geschwellte Brust. Er sprach mich auf Deutsch an.
„Was wünschen Sie?“
„Ich bin Albert Wallmann, Universitätsprofessor der Psychologie (das außer Dienst ließ ich unter den Tisch fallen). Ich war einer der Redner in Peguera. Beim abgehaltenen Angor Kongress. Und da wir auf diesem Kongress darüber sprachen, dass es dringend innovativer Medikamente zur Behandlung von Ängsten bedarf, wollte ich mich bei Ihnen informieren, also, entschuldigen Sie, bei Lux Pharma Industries erkundigen, ob Sie nicht tätig werden könnten. Ich habe vom Five White Stripes Hotel einen Tipp erhalten, ich könne mir mal die Produktionsstätten ansehen.“
Christiano schaute mich durchdringend an.
„Führungen werden nur selten gemacht und man muss diese anmelden!“
Ich tat ein bisschen verlegen.
„Manuel Rodriguez hatte mir gesagt, dass eine Besichtigung ohne großes Aufsehen möglich wäre. Es ist ja äußerst vertraulich und geheim.“
Christiano zögerte. „Manuel Rodriguez sagten Sie?“
„Ja, das sagte ich.“
„Manuel Rodriguez?“
„Genau der.“
Christiano hob die rechte Hand. „Einen Moment. Warten Sie hier. Ich frage nach.“
Jetzt galt es. Entweder fiel ich mit meiner Finte auf und würde mir schnell eine Ausrede einfallen lassen müssen, wenn ich der Lüge bezichtigt werden würde. Oder aber ich hatte ins Schwarze getroffen.
Minuten vergingen. Ich schaute dem Zahnlosen ein wenig dabei zu, wie er Bleistifte anspitzte und Besucherformulare zurechtlegte.
Es dauerte und dauerte. Christiano kam nicht zurück. Dann, nach einer gefühlten halben Stunde, ich wollte schon wieder gehen, erhielt der Pförtner einen Anruf vom Hauptgebäude. Er hob den Telefonhörer ab, lauschte den Worten aus dem Apparat, legte auf und schob mir ein Anmeldeformular hin. Er zeigte auf die Stellen, die ich ausfüllen musste. Dann wollte er meinen Ausweis sehen. Ich händigte ihm mein Personaldokument aus. Er notierte sich alles und telefonierte nochmals. Kaum war er fertig geworden, kam vom Haupthaus jemand zum Pförtnergebäude herüber. Es war ein mittelgroßer Mann. Grauer Anzug. Weißes Hemd. Gescheiteltes, geöltes Haar. Ein Spanier. Glattrasiert. Ein Schönling.
Er begrüßte mich und stellte sich mir als Ricardo Ruiz, Mitglied der Entwicklungsabteilung, vor. Er lächelte.
„Herr Professor Wallmann, es freut mich sehr. Kommen Sie, es ist sehr spontan, aber wenn Sie ein bisschen Werbung für uns in Deutschland machen, so sind wir Ihnen sehr verbunden. Wir haben zehn Minuten, ist das was für einen Besuch ohne Anmeldung?“
Ich