Ich habe wirklich keine Kosten und Mühen gescheut. Ich bin zu den Obdachlosenheimen gefahren, die es auf Mallorca gab und habe nach Alma Atma gefragt. Sie wurde nirgends eingeliefert und niemand kannte sie. Ich war verzweifelt. Ich hoffte, dass ihr nichts zugestoßen war. Ich betete für sie an diesem Abend in meinem Hotel. Und ich hasste diese Welt, in der sie sich bewegte. Die sie zwang mit Erniedrigungen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn ich Ines gefunden hatte, so wusste ich, würde ich nach Alma Atma suchen. Ich würde nicht aufhören zu suchen, bis ich auch sie aufgetan hatte. Ich würde ihr eine Therapie anbieten. Selbstverständlich kostenlos. Und ich würde Mutter und Tochter wieder zusammenführen. Das war meine Aufgabe. Vielleicht eine von Gott gegebene.
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Ich hatte es mit dieser Rufnummer, die auf dieser Zeitungsseite gestanden hatte, probiert. Erreicht hatte ich niemanden. Es lief ein Anrufbeantworter. Die Praxis eines gewissen Herrn Doktor Lucius Weniger.
Sprechstunde halte er täglich von siebzehn bis neunzehn Uhr ab.
Natürlich würde ich ihn aufsuchen, um ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Um zu erfahren, ob Ines bei ihm gewesen war. Aber ich muss doch sagen, dass ich ziemlich überrascht war. Normalerweise setzte man sich als Proband zu Forschungszwecken direkt mit den Instituten oder Kliniken in Verbindung. Lucius Weniger wurde im Branchenbuch als Pharmakologe ausgewiesen. Ich entdeckte ihn aber auch in der Spalte Psychiater. Der einzige Deutsche dieser Profession übrigens auf der Insel, aber immerhin.
Niedergelassene deutsche Allgemeinmediziner gab es eine ganze Menge, wie ich herausfand. Fachärzte für beinahe jedes Zipperlein. Vom Augenarzt bis zum Hautarzt. Vom Chirurgen bis zum Gynäkologen. Und da ich gerade einmal dabei war, verschaffte ich mir einen Überblick über die Kliniken Mallorcas. Ich zählte etwa zwölf, die für Deutsche sicher als erste Anlaufstation galten. Mindestens fünf davon befanden sich in Palma, der Rest, soweit ich es überblicken konnte, in Alcudia, Manacor und Muro.
Darüber hinaus gab es das spanische Behandlungsangebot: Die Grundversorgung leisteten über zweitausend Ärzte in Gesundheitszentren, den Ambulatorios. Und wenn man ein Hospital aufsuchen musste, teilten sich den größten Anteil der Patienten drei staatliche Großkrankenhäuser, in denen man, ohne der spanischen Sprache mächtig zu sein, als Patient mit hoher Wahrscheinlichkeit schnell auf Probleme stieß. Hinzu kamen noch eine Handvoll Privatkliniken. Angesichts der Anzeige vermutete ich, dass dieser Lucius Weniger mit einem privaten Institut oder einer Privatklinik zusammenarbeitete.
Ich nahm die eingetragenen Privatkliniken unter die Lupe, konnte aber keine darunter entdecken, die derzeit in irgendeiner Weise Studien betrieb oder eine eigene Forschungsabteilung auswies.
Um die Zeit bis zum Nachmittag zu überbrücken, hatte mir Peggy empfohlen nach Es Trenc zu fahren. Der Strand sei malerisch, dort ein Bad zu nehmen herrlich. Sie meinte, ich solle ein bisschen Farbe bekommen, hatte mir eine Creme mit hohem Lichtschutzfaktor überlassen (Ich hatte gar keine auf die Reise mitgenommen, wie gedankenlos ich doch gewesen war.), und wieder den Jeep geborgt. Sie war so unkompliziert und freigiebig, wie ich es in der letzten Zeit nur selten bei anderen Zeitgenossen hatte feststellen können. Ich nahm, aus Richtung Palma kommend, die Straße von Campos nach Sa Rapita und stellte den Wagen auf einem der Parkplätze ab. Peggy hatte nicht zu viel versprochen. Weißer Sand, türkisfarbenes Meer. Ich legte meine Sachen nahe den Dünen ab und lief in das Wasser hinein. Das Bad erfrischte mich und belebte meine Muskeln. Ich schwamm ziemlich weit hinaus, bestimmt hundert Meter. Auch wenn ich nur ein mittelmäßiger Schwimmer bin, das Meer war ruhig und friedlich, ich fühlte mich im Wasser pudelwohl. Aber das änderte sich schlagartig mit hektischen Rufen von drei Jugendlichen, die vom Strand etwas herüberschrien. Ganz klar, sie meinten mich. Sie wollten mir etwas mitteilen. Ich kehrte um und schwamm ihnen entgegen, bis ich verstand was sie riefen.
„Tiburon, Tiburon“, riefen sie, und fuchtelten aufgebracht mit ihren Armen in der Luft herum. Erst als sie in die englische Sprache wechselten, verstand ich, was sie meinten. Sie brüllten es dreimal kurz nacheinander: „Shark!“
Mich erfasste Panik. Ein Hai. Ich drehte mich, auf der Stelle paddelnd, im Kreis. Ich tauchte, ob ich eine Finne erspähen oder einen Schatten entdecken konnte. Kleine Riffs bildeten vereinzelt unter Wasser dunkle Flecken, aber einen Hai konnte ich nicht ausmachen. Trotzdem, ich war und blieb panisch; kraulte was meine Arme hergaben. Es mochte noch vierzig Meter vom Strand entfernt gewesen sein, da berührte mich etwas am Fuß. Ich schrie auf, stoppte, trat wild um mich, voller Entsetzen. Ich ging unter, schluckte eine Menge Salzwasser, tauchte wieder auf, spuckte, erbrach mich fast. Ich suchte das Wasser mit den Augen ab. Aber da war nichts. Vielleicht war es eine Qualle gewesen oder ein kleinerer Fisch. Oder auch nur Tang. Keine Spur von dieser wilden Bestie, diesem Menschenfresser. Ein Hai im Mittelmeer. Man hörte von Haiunfällen des Öfteren an den Küsten Südafrikas oder Australiens, aber am Strand von Mallorca?
Ich versuchte mich zu beruhigen, aber es gelang nicht. Mein Herz raste. Ich kraulte hektisch weiter und je näher ich dem Strand kam, das rettende Ufer immer fest im Blick, bemerkte ich, mehr zufällig, wie die drei Jungs, meine vermeintlichen Retter, sich davonmachten. Sie bogen sich vor Lachen, dann rannten sie. Den Strand hinauf, über die Dünen hinweg und zwischen den Büschen hindurch.
Diese Arschgeigen.
Ich versuchte meine Schwimmzüge zu verlangsamen, versuchte zu Atem zu kommen. Aber es war eigentümlich. Obwohl ich mir darüber bewusst war, dass der Hai nicht existierte, dass er nicht auf mich lauerte, um mich wie ein Seehund zu seiner Beute zu machen und mich in Stücke zu reißen, er war in meinem Kopf, und diese gesäte Angst – diese innere Hysterie – war nicht auszumerzen. Ich beschleunigte meine Schwimmstöße, meine Beine durchquirlten das Meer wie ein fleischgewordener Mixer. Fast an Land angekommen, watete ich das letzte Stück schnell hinaus und ließ mich völlig erschöpft in den Sand fallen. Gut, dass ich nicht hyperventiliert hatte. Hätte ich im Wasser die Besinnung verloren, es wäre leicht möglich gewesen, dass ich aus meinem hysterischen Anfall heraus zu Tode gekommen wäre. Und das nur durch einen üblen Streich von drei spanischen Jugendlichen, die einen deutschen Urlauber ein bisschen an der Nase herumführen wollten. Als ich wieder klarer denken konnte, festigte sich in mir ein Vorsatz: Hier, am Strand von Es Trenc war ich das Opfer gewesen. Auf der Suche nach Ines würde ich mich nicht täuschen lassen.
Lucius Weniger entpuppte sich als windiger Zeitgenosse. Er war groß, schlank, braungebrannt, trug unter seinem weißen Kittel sandfarbene Shorts und ein sandfarbenes Polohemd. An seinem Arm prangte eine sportliche Rolex. Und wenn er mich ansah, durch seine blaugetönte Brille, kniff er immer die Augen. – Sein Büro war eher ein Zimmerchen. Ein Totenschädel lag auf dem Schreibtisch, ein Laptop, ein Stethoskop. Ein Blutdruckmessgerät. Eine Personenwaage stand neben dem Schreibtisch. Das war es auch schon. An der Wand: Zwei grafische Nachdrucke von Munch Bildern und die übergroße Kernspinaufnahme eines Gehirns. Sehr dubios, das alles. Er hatte mich hineingebeten und mich gefragt, wie er mir helfen könne. Ich hatte ihm verschwiegen, dass ich diesen Zeitungsausschnitt kannte. Ich hatte mir eine kleine Geschichte zurechtgelegt und mit dieser wollte ich es bei ihm probieren.
„Es ist so, ich bin vor drei Tagen hergekommen, um meine Nichte, Mia Wallmann, zu besuchen. Sie lebt hier, sie ist ein kluges Mädchen, sie studiert und brauchte ein wenig Pause vom Lernstress. Ich habe erfahren, dass sie in eine Lebenskrise geraten ist, weil, nicht nur im Studium lief es nicht so gut, sondern, sie hat sich zwischenzeitlich auch unsterblich in einen Mallorquiner verliebt. Ich weiß zwar nicht, wie der gute Mann heißt, aber da gibt es wohl Auseinandersetzungen. Sie hat mir gesagt, dass sie, um all das wieder ins reine zu kriegen, psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen möchte. Sie ist für gewöhnlich eine fröhliche junge Frau und sie hörte sich am Telefon ziemlich niedergeschlagen an. Sie hat Angst ihr Studium nicht zu schaffen und will aber auch ihren Freund nicht verlieren. Deshalb wollte ich mich mit Ihnen beraten.“
Wenigers Lider flatterten. Er fuhr sich mit der Zunge über die schmalen Lippen.
„Ich bin in erster Linie Pharmakologe, also jemand, der sich mit medikamentösen Wirkungen auf Menschen beschäftigt. Ich arbeite hier