Die Gäste hatten sich auf ihre Hotelzimmer zurückgezogen, oder lagen bereits schlafend in den Kajüten ihrer Boote, es war so gegen halb drei, da waren Peggy und ich beim Du angelangt. Bei einem Du, das nichts Manipulatives hatte. Peggy hatte die Bar geschlossen, ich hatte ihr meine Geschichte erzählt und davon, dass es mir zuwider war in dieses Five-White-Stripes-Deluxe-Hotel zurückzukehren. Ich wollte nicht mehr eingeladen werden, nicht bestochen, nicht benutzt. Ich wollte nicht Teil einer ausgeklügelten Marketingkampagne sein, denn, ließ ich den Kongress Revue passieren, so gab es doch wohl für niemanden aus der Gruppe ein entrinnen. Hatte man auch nur einige der wichtigsten Personen heimlich bei diesem Boots-Gelage mit dem Fotoapparat abgelichtet, so waren sie erpressbar, denn, wer findet sich gern als verheirateter erfolgreicher Geschäftsmann auf dem Titelblatt einer Illustrierten wieder, das zeigt, wie man gerade mit einer Hostess herummacht. Mitgefangen, mitgehangen. Aber all das war ja nur so ein Gefühl. Es könnte so sein. Es könnte auch alles anders sein.
Peggy hatte mich in meiner Haltung bestärkt. Sie fand es gut und richtig, dass ich meinem Instinkt gefolgt war und mich aus der Situation herausgezogen hatte. Sie stand in ihrem Leben mal vor einer ganz ähnlichen Situation, hatte sie erzählt, als ihr Ex-Mann in große Geldschwierigkeiten gekommen war und ihr einen Versicherungsbetrug vorgeschlagen hatte. Sie hatte abgelehnt, was gleichzeitig das Ende der Beziehung bedeutete. Der Ex-Mann zog die Masche trotzdem mit seiner neuen Geliebten durch, wurde geschnappt und saß – wahrscheinlich noch immer – in irgendeinem Knast seine Gefängnisstrafe ab. Peggy machte dagegen vermutlich alles richtig. Sie hatte ihr Fischrestaurant in Sankt Peter Ording aufgegeben und war nach Mallorca gezogen. Das lag schon einige Zeit zurück; Peggy gehörte inzwischen in Andratx zum Establishment. – Ich mochte sie, ich mochte einfach alles an ihr. Ihre schwarzlackierten kurzen Nägel, ihr kräftiges braunes langes Haar, ihr schwarzes Rippenshirt, ihre Perlenketten, ihre Armreife aus Perlmutt und die braune, schon etwas speckig gewordene Wildlederhose, die sie trug. Sie konnte einigen Alkohol vertragen. Und nachdem ihre Thekenbedienung Maria längst gegangen war, nachdem sie die Spülmaschine angestellt und den Tresen aufgeräumt hatte, da sagte Peggy zu mir, ich könne auf dem Sofa schlafen, ihre Wohnung befinde sich eine Etage höher. Ich könne dann morgen Mittag mit dem Taxi rüberfahren oder im Hotel anrufen und mir meinen Trolley einfach bringen lassen. Ich wusste, dass dies ein großer Vertrauensbeweis war, denn sie war keine, die irgendwelche Urlauber, die ihr gefielen, mit ins Bett nahm (so glaubte und hoffte ich es zumindest). Erst recht keine Lebowski-Lookalikes. Sie musste mich irgendwie mögen und wenn ich ganz ehrlich zu mir war, dann mochte ich Peggy ein bisschen mehr, als ich mir eingestehen wollte. Ich bedankte mich höflich. Kaum hatte ich mich auf der Couch ausgestreckt, da war ich auch schon eingeschlafen. Mich umzuschauen in ihrer kleinen Wohnung, dafür fehlte mir einfach die Kraft.
3
Peggy war ein Schatz. Sie hatte mir Frühstück gemacht (für das ich ordnungsgemäß zahlte, es waren Croissants mit Butter und Rührei mit Schinken, dazu starken Kaffee und Orangensaft), hatte mir ein Hotel empfohlen, falls ich noch auf Mallorca bleiben wollte. Aber irgendwie war ich nicht mehr recht in Stimmung dazu. Die Idee erholsamer Tage auf Mallorca war mit den Erlebnissen des Angor-Symposiums wie ausgelöscht. Ich hatte mich mit einer wirklich zärtlichen Umarmung von Peggy verabschiedet, wir hatten uns auf die Wangen geküsst und dann war ich mit dem Taxi zum Five White StripesDeluxe zurückgefahren, hatte meine Sachen geholt (von der Agenturdelegation oder den Tagungsgästen hatte ich niemanden mehr dort angetroffen) und mich gleich zum Hafen von Palma aufgemacht, um die nächste Fähre zurück nach Barcelona zu nehmen. Ich dachte an die fünftausend Euro, die ich mit diesem kurzen wissenschaftlichen Intermezzo verdient hatte, und deren Löwenanteil ich jetzt in die Gesundung meines todmüden Volvo investieren würde.
Aber es sollte ja alles ganz anders kommen, als ich mir gedacht und vorgenommen hatte. Wie also konnte es geschehen, dass ich doch auf der Insel blieb? Zwei mysteriöse Ereignisse stürzten auf mich ein.
Die Fähre legte nicht ab. Ich konnte sie nicht einmal besteigen. Sie wurde ersatzlos gestrichen. Am Hafenterminal herrschte großer Tumult. Mit rotem Absperrband wurden die Reisenden von einem großen Teilbereich des Hafenbeckens zurückgehalten. Es wimmelte nur so von uniformierter Polizei. Nachdem ich mich durch die Reihen der Gaffer weiter nach vorn gedrängelt hatte, konnte ich alles aus nächster Nähe miterleben. Im grünlich schimmernden Wasser trieb ein aufgedunsener massiger Leichnam. Taucher bargen den Toten, Polizisten bugsierten ihn in einer Plastikwanne auf den Pier. Die Ordnungshüter errichteten einen Sichtschutz für die Schaulustigen und lamentierten lautstark. Direkt neben mir stand ein deutscher Hörfunkjournalist. Er war mein Souffleur, übersetzte simultan alles, was da auf Spanisch gesprochen wurde in sein Handy hinein. Er war schnell wie ein Sportreporter.
„Das ist eine Sensation“, sagte er zu mir. „Seitdem vor Jahren ein Restaurantbesitzer in Porto Christo erschossen aufgefunden wurde, ist das hier die aufregendste Meldung seit langem.“
Wie ich erspähen konnte, handelte es sich bei dem Toten um keinen Spanier und auch keinen Flüchtling. Es war allem Anschein nach ein Deutscher, den man da aus dem Wasser gefischt hatte. Zumindest legte das auf sein weißes T-Shirt aufgedruckte Wort Frieden diese Vermutung nahe. Mein kurzer Blick auf den leblosen Körper reichte aus, um das Alter des Mannes abzuschätzen. Er dürfte etwa sechzig Jahre alt gewesen sein. Bekleidet war er neben dem weißen T-Shirt mit dunklen Shorts. Was mit ihm angeblich passiert war, erfuhr ich aus erster Hand. Der Reporter hielt einem vorbeikommenden Polizisten dreist sein Handy unter die Nase und versuchte ihm ein Statement zu entlocken. Der Polizist blieb kurz stehen und antwortete zu meiner Überraschung. Er vermutete, es handele sich um einen Jachtbesitzer, der von Bord gestürzt sei und wahrscheinlich einen über den Durst getrunken habe. Nachfragen des Reporters, ob es sich um einen Raubmord gehandelt haben könnte, wobei der oder die Täter die Leiche über Bord geworfen hätten und dann mit der Jacht auf und davon seien, konnte und wollte der Polizist nicht bestätigen. Aber eine weitere denkbare Möglichkeit sei ein Freitod, gab er an.
Eigentlich hatte ich genug gehört, ich sah, wie sie die Plastikwanne mit der Leiche in einen Mannschaftswagen der Polizei hievten, abfuhren und die zurückgebliebenen Kräfte den Tatort weiter auf Spuren prüften. Die Taucher suchten das Becken ab. Anscheinend gab es keinen Anhaltspunkt über die Identität des Toten. Die Mundwinkel des Reporters zuckten. „Die werden das schon rauskriegen, wer er ist, und was ihm zugestoßen ist. Vielleicht ist er wirklich angetrieben worden. Also wenn Sie meine Meinung hören wollen, ist er irgendwo zufällig von Bord gefallen. Fragt sich nur, von welchem Schiff oder Boot.“
Ich hätte mich umdrehen und zum zweiten Kai hinübergehen können. Dort legten die anderen Fähren ab. Ich brauchte nur ein neues Ticket zu lösen und mich dann aus dem Staub zu machen. Aber ich blieb einen Moment länger in der Menge stehen, dachte über die Worte des Radioreporters nach, das war das Fatale, denn kurz darauf spürte ich die schweißfeuchte Hand dieser Frau an meinem Arm. Es war so eng, ich konnte mich kaum zu ihr umdrehen. Sie stand unmittelbar hinter mir, aber ich erkannte sie sofort, als ich meinen Kopf zur Seite drehte und ihr Profil erblickte. Es war die Rothaarige, die ich gestern zeternd am Gemeindezentrum von Peguera gesehen hatte. Kein Zweifel: Sie trug dieselbe orangefarbene Bluse, dazu die kurzen Shorts, ganz genau so wie gestern. Ich spürte, ihre freie Hand klopfte in Hüfthöhe gegen mein Sakko, dann steckte sie mir etwas in die Jackentasche. Die Rothaarige wisperte, ich solle kein Aufsehen erregen. Die würden sie gefangen nehmen und dann wären alle Chancen dahin. Der Mann sei ein Opfer. Er sei nichts anderes als eine Ratte gewesen. Eine Ratte im Käfig. Ich solle helfen, wenn ich ein Gewissen hätte. – Nur diese wenigen Sätze sagte sie und ehe ich sie ansprechen konnte, ehe ich mich in der Menge vollends zu ihr umwenden konnte, hinter ihr herlaufen, da war sie auch schon verschwunden. Sie war gewesen wie ein Geist, ätherisch; sie hatte sich einfach in Luft aufgelöst.
Ich blieb noch eine Weile in der Menge stehen und schaute weiter auf die Aktionen der Polizisten, die angestrengt, aber ziemlich lustlos nach Hinweisen suchten.
Während ich über diese mysteriöse Frau nachdachte, ob sie von einer Wanderlust befallen war, den Verstand verloren hatte