Einige Straßenzüge vom Hafen entfernt, stellte ich den Trolley neben mir ab und setzte mich auf eine Mauer. Dann holte ich den Zettel hervor und entfaltete ihn. Es war dickes, leicht vergilbtes Papier und es schien sich wohl um die Seite eines Buchs zu handeln, eine, die hastig herausgerissen worden war. Ich betrachtete das Blatt. Mit Bleistift hatte die Rothaarige (oder auch jemand anderes, aber es war zunächst davon auszugehen, dass sie es war) etwas skizziert, das nach einer Siedlung aussah. Sie hatte durch Pfeile einen Weg angedeutet, hatte irgendwo an einem Haus, zumindest einem Gebäude, ein großes Kreuz gemacht und dort eine Ziffer hingeschrieben. Die 8. Es stand kein einziger Satz dort. Nur drei Worte. Atma. Und daneben: Son Gual.
Ich schaute bestürzt auf diese Bleistiftzeichnung. Sie hatte davon gesprochen, dass ich helfen musste. Es schien ihr sehr dringlich zu sein. Und ich hatte geschlossen, dass ihr Anliegen etwas mit dem Toten im Hafenbecken zu tun haben mochte. Ratte im Käfig hatte sie ihn genannt. Es lag wohl auf der Hand, warum sie sich nicht an die Polizei oder karitative Einrichtungen wendete. Wahrscheinlich hielt man sie für verrückt. Vielleicht tat ich es besser auch. Aus meiner Praxis, aus meinen Forschungen wusste ich nur zu gut, dass manche Menschen große Krisen nicht überstehen und ihre verletzten Seelen auf Wanderschaft gehen, um die kaum auszuhaltenden Lebensumstände irgendwie zu verarbeiten.
Allerdings zerknüllte ich diesen Lageplan nicht und warf ihn in den nächsten Papierkorb. Ich faltete ihn sorgfältig und steckte ihn in meine Tasche zurück. Der Impuls dazu lag im Akt der Menschlichkeit. Der Hilfe. Der Not. Und war eng mit meiner Vergangenheit verbunden. Die Schuldgefühle, meine erste Frau Katrin nicht vor dem Selbstmord bewahrt zu haben, meine Töchter nicht rechtzeitig vom Sport abgeholt und damit das Unglück vermieden zu haben, lasteten noch immer zu schwer auf mir. Wenn auch Walter mit mir seit Jahren daran arbeitete, es wollte mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich hatte etwas gutzumachen, es war also, wenn ich es recht überlegte, kein Reflex der Mitmenschlichkeit, sondern vielmehr die Beruhigung des eigenen schlechten Gewissens, die mich auf der Insel hielt.
Auf der Rückfahrt nach Andratx, die ich diesmal mit dem Bus bewältigte, ich wollte Peggy aufsuchen, sie um Rat bitten und ein Zimmer in dem von ihr empfohlenen Sea Beach Harbor beziehen, dachte ich über die Worte nach, die mir die Rothaarige als Hinweis mitgegeben hatte.
Atma, was sollte das bedeuten? Ich kannte es nur als Begriff aus dem indischen Sanskrit, der die Ergründung des Selbst beschrieb und in dieser Bedeutung eng mit einer Form der Meditation verbunden war. Was Son Gual anbetraf, hatte ich zumindest relativ schnell einen vagen Anhaltspunkt. Zwischen Palma und Llucmajor gelegen, gab es einen Golfplatz, umsäumt von mietbaren Luxusvillen. Sollte hier eine Villa mit der Nummer 8 gemeint sein? Und wen würde ich dort antreffen? – Bei allem Respekt, die Rothaarige passte, so wie ich sie kennengelernt hatte, gar nicht in dieses Ambiente.
Peggy freute sich sehr mich wiederzusehen. Sie umarmte mich stürmisch. „Das war die richtige Entscheidung“, sagte sie, als ich ihr berichtet hatte, und setzte sich sofort zu mir an den Tisch, um die Zeichnung der Rothaarigen zu studieren. Auf Atma konnte sie sich auch keinen Reim machen, aber was die Skizze und das Wort Son Gual anbetraf, hatte sie nach einigem Nachdenken eine Idee.
„Das hat nichts mit dem Golfplatz oder irgendwelchen Villen zu tun. Wenn ich mich nicht irre, dann ist hier auch ein bisschen Bucht eingezeichnet und der Golfplatz liegt nun ganz und gar nicht unmittelbar am Meer.“
Sie hielt inne, dann lächelte sie.
„Wenn ich die Personenbeschreibung deiner rothaarigen Bekannten mit einbeziehe, dann bin ich sogar ziemlich sicher, dass ich richtig liege.“
Sie ließ mich ganz schön zappeln. „Was meinst du?“, fragte ich.
„Ich schätze, die Skizze zeigt Terrapolis. Eine Geisterstadt. Über hundert leerstehende Wohnungen, die während des Baubooms entstanden sind. Diese Geisterstadt befindet sich in Sa Marina de Son Gual, das ist bei Manacor, genauer, an der Bucht Estany d’en Mas.“
Meine Gedanken schwirrten. Eine Geisterstadt voller leerstehender Wohnungen? Was sollte der Tote damit zu tun haben? War er ein Baulöwe, der sich bereichert hatte und den man jetzt aus irgendwelchen Gründen ins Jenseits befördert hatte?
Peggy ahnte meine Gedanken.
„Denk nicht kompliziert, denk einfach.“
„Wieso denke ich kompliziert“, sagte ich.
„Du hast immer mit komplizierten Menschen zu tun und du selbst bist ja auch nicht gerade einfach. Da denkt man gern mal kompliziert. Was ja auch gar nichts macht. Aber du solltest die einfachen Gründe dabei nicht übersehen.“
„Wie?“, fragte ich.
„Ich meine, das Naheliegende ist doch, dass die Rothaarige, wie sie selbst sagte, nicht ungestört mit dir reden konnte, aber sie wollte, dass du hilfst, wenn du ein Gewissen hast. Du hast mir beschrieben, dass sie ziemlich heruntergekommen aussah. Eine Frau, die keinen festen Wohnsitz hat, die, sagen wir mal, irgendwie eine Verliererin ist, wo kann die Unterschlupf finden? Sicher, es gibt die deutsche katholische Gemeinde in Palma, es gibt das spanische Rote Kreuz auf der Insel, es gibt Höhlen, es gibt leerstehenden Baracken, es gibt Parkbänke und Strände. Dort könnte man nächtigen. Was ist aber für eine Frau das Sicherste, um Schutz vor Übergriffen zu finden und nicht aufzufallen, falls man sich illegal auf der Insel aufhält oder vielleicht sogar von irgendwem gesucht wird?“
„Sie wohnt da – in einer dieser leerstehenden Wohnungen –, und will sich dort mit mir treffen?“
„Genau. Es ist mir zwar ein Rätsel“, sagte Peggy, „wie sie da unbemerkt hausen will, denn das Areal ist umzäunt und wird, so weit ich weiß, von einem Sicherheitsdienst überwacht, aber, wer weiß.“
„Obdachlos ...“, zweifelte ich.
Peggy schaute mich ernst an. „Warum nicht? Wusstest du nicht, dass es mehr als Hundert Obdachlose auf Mallorca gibt? Einer von ihnen, ein Deutscher, wurde in einem Kanalrohr tot aufgefunden, sein Leib war von Rattenbissen übersät. Hast du nichts davon gehört?“
Ich sagte ihr, dass ich mich noch um meine Bleibe kümmern müsse, ehe ich ihrem Vorschlag nachgehen könne. Peggy war mir eine große Hilfe, sie hatte zwar noch einige Vorbereitungen für den Tapas-Abend zu treffen, aber sie bot mir für die Fahrt zur Terrapolis ihren Jeep an. Das war mehr als großzügig.
Als ich in dem von ihr empfohlenen Hotel, dem Sea Beach Harbor, anrief, erklärte man mir, es sei alles ausgebucht. Peggy griff sofort ein, ließ nicht locker und bequatschte den Portier so lange, bis plötzlich – auf wundersame Weise –, doch noch ein Zimmer dort frei geworden war und neu belegt werden konnte. Als ich Peggy dankte, sagte sie strahlend: „Ja, so bin ich halt.“
Ich fuhr also zur Terrapolis. Der Jeep war alt und rostig, hatte bestimmt so viele Jahre auf dem Buckel wie mein Volvo, aber nicht so viele Wege hinter sich. Der Tacho zeigte 234.196 Kilometer. Peggy hatte mir erzählt, sie habe ihn für kleines Geld mit zweihunderttausend Kilometern auf dem Buckel gekauft und er habe sie bislang nie im Stich gelassen.
Ich erreichte die Geisterstadt nach einiger Sucherei. Das rostige Schild an der Hauptstraße mit der Aufschrift Cala Romantica hatte mich etwas verwirrt. Der malerische Strandabschnitt in der Bucht war nah, doch unmittelbar vorgelagert hatte der kapitalistisch gierende Beton die Natur zermartert, leblos gemacht und gesichtslose Zementmonster geboren, die nunmehr dahinsiechend das Landschaftsbild verödeten. Den Wagen stellte ich vorsichtshalber, man konnte nie wissen, was passieren würde, in einiger Entfernung vom Gelände ab und legte den Rest des Wegs zur Geisterstadt zu Fuß zurück.
Wie Peggy es mir vorausgesagt hatte, so verhielt es sich. Das Areal war mit Maschendraht umzäunt. An einer einzigen Stelle jedoch, der parallel verlaufenden Straße zugewandt, gab