Stadt ohne Licht. Ernst Meder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernst Meder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737526371
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ihr suchen sollte.

      Alles, was sie bisher über die Ereignisse erzählt hatte, die in ihrem Leben maßgeblich waren, war derart unspektakulär, dass nicht die Anhäufung von Einbrüchen und Überfällen erklären konnte. Damit konnte die Ursache nur in ihrer Vergangenheit liegen, oder der Vergangenheit ihrer Mutter.

      Hatte sie nicht erwähnt, dass ihre Mutter diesen angeblichen Zeugen gekannt hatte, ja sogar wütend geworden war, wenn sie über ihn gesprochen hatte. Lag hier das Rätsel, gab es etwas, was dieser alte Mann bei ihr vermutete. Hatte dieser Vohberg all diese Einbrüche eingefädelt, war er der Drahtzieher hinter dem Ganzen.

      Johann ließ seinen Kopf auf den Tisch fallen, nichts von dem, was ihm gerade durch den Kopf geschossen war klang logisch. Zugleich hatte er so ein Gefühl, als wäre Logik bei der Lösung dieses Problems nicht gerade hilfreich. Nun ja, er hatte Zeit sich all die Gedanken noch viele Male durch den Kopf gehen zu lassen, schließlich brauchte er sich weder Gedanken über Weihnachten noch Silvester zu machen.

      4. Kapitel

      Sie lag in dem Bett und haderte mit ihrem Schicksal. Wie konnte man nur so dumm sein, nach all den Einbrüchen die Wohnungstüre nur einfach zuzuziehen. Natürlich hatte sie schon von diesen einschlägig bekannten Gaunern gelesen, die einfach mit einer Scheckkarte oder einem selbst gebogenen Haken die Türe öffnen konnten.

      Alle die schönen Pläne, die sich ausgemalt hatte, wie sie dem Jungen hatte helfen wollen, aus dem Gefängnis entlassen zu werden. Er war zu Unrecht eingesperrt worden, nur weil er einer alten Frau geholfen hatte, ohne darauf zu achten, ob ihm etwas geschieht. Alles zunichtegemacht durch ihre Unachtsamkeit.

      Jetzt überlegte sie verzweifelt, was hatte ihre Mutter ihr zu erzählen versucht, was hatte sie damit gemeint, als sie sagte „aber Kind dass ist doch Deine Vergangenheit, die kann Dir doch nicht gleichgültig sein“.

      Sie hatte ihr ziemlich eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie im Hier und Jetzt lebe und von ihrer andauernden Rückkehr in die Vergangenheit nichts wissen wolle. Sie solle sie ein für alle Mal nicht mehr damit belästigen. Außerdem könne sie solange in der Vergangenheit leben, wie sie wolle, wenn sie damit in Ruhe gelassen werde.

      Ihre Mutter hatte sie nur traurig angesehen, wenn Du in ferner Zukunft etwas darüber wissen möchtest, wo Deine Wurzeln liegen, dann kannst Du lesen was ich für Dich aufgeschrieben habe.

      Dieser Disput war der Letzte, den sie über die Vergangenheit geführt hatten, danach fiel nie wieder ein Wort darüber. Nun war sie in der Situation, dass sie gerne etwas über die Vergangenheit gewusst hätte, vor allem den Zusammenhang mit diesem Vohberg.

      Der Hass, mit dem ihre Mutter von dem damals vierzig- bis fünfzigjährigen Mann gesprochen hatte, musste so weit in der Vergangenheit liegen, dass sie sich nicht an ihn erinnern konnte. Seit dem Zeitpunkt an dem sie zu denken in der Lage war, hatte ihre Mutter nichts mit diesem Mann zu tun gehabt. Er war also kein ehemaliger Liebhaber, der sie verlassen hatte und den sie deshalb mit ihrer Wut verfolgte.

      Die Grübelei schien endlich zu etwas zu führen, was tief vergraben in ihrer Erinnerung verborgen war. Dieses Brüten erinnerte sie an Geschichten, die sie über Ausgrabungen gelesen hatte. Wie diese Vertreter der Wissenschaft, die sich ausschließlich mit der Vergangenheit befassten, diese Spuren durch archäologische oder paläontologische Freilegung verfolgten. Wie Archäologen Schichten von Erde oder Steinen beseitigten, um endlich zu dem gesuchten Artefakt zu gelangen.

      Genau so fühlte sie sich jetzt, sie versuchte die Schichten, die sich im Laufe der Jahre über die Erinnerungen gelegt hatten, Schicht für Schicht zu beseitigen. Es war wichtig mit der Vorsicht eines Archäologen vorzugehen, um nicht etwas zu zerstören, was den Zusammenhang der wiedergefundenen Erinnerungen trüben konnte.

      Jetzt war es zu spät sich Vorwürfe zu machen, dass sie sich nicht mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen wollte. Damals hatte sie sich jedoch nur für die Gegenwart interessiert. Das hatte sie auch versucht ihrer Mutter zu erklären, die Vergangenheit ist doch vorbei, nichts was ich tue, kann sie ändern. Die Zukunft ist noch nicht da, um sie zu ändern, müsste man sich in der Zukunft befinden. Wenn man sich jedoch in der Zukunft befände, wäre man in der Gegenwart.

      Ihre Mutter hatte sich geweigert ihren, wie sie immer sagte, verqueren Gedankengängen zu folgen. Sie behauptete immer, nur wer seine Wurzeln kennt, kann seine Zukunft beeinflussen. Hier begann die Diskussion aufs Neue, es war ihnen nie gelungen, Konsens bei der Auseinandersetzung zu erzielen.

      Auf der Suche nach dem Vergessenen hatte sie eine Spur entdeckt, sie hatte sich an etwas erinnert, was ihre Mutter über Vohberg gesagt hatte. Auch wenn es nur Schlagworte waren, so waren diese doch bezeichnend für ihr Verhältnis zu ihm. Sie hatte ihn einen Dieb und Mörder genannt, hatte allerdings nie ausgeführt, weshalb sie der Meinung war, dass er ein Dieb und Mörder war.

      Langsam kamen in ihren Erinnerungen diverse Gesprächsfetzen oder vereinzelte Aussagen zum Vorschein, an die sie sich nicht erinnern konnte, sie bewusst gehört zu haben. Es hatte genau an jenem Tag begonnen, als sie Johann im Gefängnis besuchte, als er so verloren vor ihr gesessen hatte. Dann dieser ungläubige Ausdruck in seinem Gesicht, als er das aussprach, was sie bisher erfolgreich verdrängt hatte. Als er zu der Erkenntnis gelangt war, dass die Einbrüche und der Überfall ausschließlich mit ihr zu tun hatten.

      Dieser Vorwurf war es, der dazu geführt hatte, dass sie begann, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Es war sein Gesichtsausdruck, der sie antrieb in ihrer Vergangenheit zu wühlen, obwohl sie sich nie dafür interessiert hatte. Irgendwann war es in ihr Bewusstsein gedrungen, wie Nadelstiche die mit immer größer werdender Intensität auf sie einstachen.

      Es ging nicht um ihre Vergangenheit, es ging um die Vergangenheit ihrer Mutter. Weshalb sie so sicher war, dass es um ihre Mutter ging, das war ziemlich einfach, ihr Vater war in den letzten Kriegstagen bei einem Unfall ums Leben gekommen. Das war das Einzige, was sie über ihren Vater wusste, ihre Mutter hatte sich immer geweigert, über ihren Vater zu reden.

      Weshalb eigentlich, jetzt wo diese Fragen entstanden, war niemand mehr da um ihre Fragen zu beantworten. Hatte sie ihn totgeschwiegen, weil er einer jener Kriegsverbrecher war, über die man nach dem Krieg den Mantel des Vergessens ausgebreitet hatte. Er hatte an diesem Krieg teilgenommen, wo und in welcher Funktion er beteiligt war, darüber wurde geschwiegen.

      Sie hatte angenommen, dass es, wie in anderen Familien auch, dieses seltsame Schweigen gegeben hatte. So als hätte es ein kollektives Schweigegelübde unter den Schuldigen, oder selbst ernannten Unschuldigen gegeben. Die Abwehr bei unangenehmen Fragen war immer gleich, „man wolle endlich vergessen“, oder „es liegt schon so lange zurück“, und wenn all dies nicht half, „auch die Anderen haben Verbrechen begangen“. Damit hatte man sich reingewaschen, neben dem kollektiven Schweigegelübde gab es dann ein kollektives Verdrängen.

      Auch ihre Mutter hatte ähnlich reagiert, sie hatte sich geweigert, über bestimmte Dinge zu reden. Wenn sie etwas zu der Vergangenheit sagen sollte, dann nur, wenn sie die Themen bestimmen konnte, über die gesprochen werden sollte. Vielleicht war dies einer der Gründe, weshalb sie sich geweigert hatte, mit ihrer Mutter über die Vergangenheit zu reden.

      Es machte sie von Tag zu Tag trauriger, als sie feststellte, dass die Fragmente aus ihrer Erinnerung zu keinem Ergebnis führten, welche diese unsägliche Haft von Johann beendete. Gegen den Rat ihres Arztes und trotz ihrer Beschwerden fuhr sie nach den Weihnachtsfeiertagen nach Kiel. Sie würde sich bei ihrer Freundin einquartieren, mit ihr in das neue Jahr feiern und in den ersten Tagen des neuen Jahres zur Bank gehen.

      Sie ärgerte sich über ihre Dummheit, das Bankschließfach nicht aufgelöst zu haben, als sie ihren Lebensmittelpunkt nach Berlin verlegte. Aber sie hatte es schlichtweg vergessen. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie deren Unterlagen, mit nach Kiel genommen. Um nicht täglich mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden, hatte sie es in einem Schließfach untergebracht. Sie wollte diese Objekte ihres permanenten Streits mit ihrer Mutter nicht in ihrer Nähe haben.

      Das Schließfach war günstig, die Gebühr wurde einmal im Jahr direkt ihrem Konto belastet,