Blut zu Blut. Janaina Geismar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Janaina Geismar
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847611301
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Tischbein hoch und hüpfte auf die Platte. Darauf lag ein viereckiges kleines Teil, das aus einem Material bestand, das sie zuvor noch nie beschnuppert hatte. Nur einzelne Teile darauf rochen nach Metall, den einzigen Geruch, den sie zuordnen konnte.

       Sie fand draußen mehrere Gegenstände, die nach diesem unnatürlichen Zeugs rochen. Wie ihre anderen Artgenossen glaubte sie, dass die Zweibeiner dieses Zeugs hergestellt hätten, von dem sie nur wussten, dass es nicht gut für Ratten war. Man konnte es nicht essen und wenn man es trotzdem probierte, bekam man fürchterliche Bauchschmerzen und krepierte wenig später. Sie nahm den Gegenstand in ihr Maul, sprang von der Platte hinunter und rannte schnell zu ihren Artgenossen. Sie sprangen wieder zurück in das weiße glatte Becken, das zuvor mit einem Deckel verschlossen gewesen war, und tauchten ab. Sie legten dieselbe Strecke zurück, die sie gekommen waren, bis sie schließlich wieder trockenen Boden unter ihren Pfoten fühlten.

       Nun rannten sie auf ihren gewohnten Wegen und hatten nun eine lange Strecke vor sich, lang, mühsam und voller Gefahren.

       Der Mann, den Ryu vor ihrem Fenster unter dem Baum gesehen hatte, stand nun im Raum, in dem die Ratten gewütet hatten. Er schaute sich um und bemerkte unzählige kleine rote Pfotenabdrücke, ein blutiges Muster, das die Bodenkacheln bedeckte. Sie schienen es gefunden zu haben. Er zählte die Leichen, es waren zwei, was bedeutete, dass einer entkommen war. Er biss sich auf die Lippe, den letzten musste er wohl selbst erledigen. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Er ging in das angrenzende Zimmer, schaute auf Bett und den kleinen Nachttisch, am Gitter vor dem Fenster hatte sich eine Krähe festgeklammert und schlug ihren Schnabel gegen das Eisen. Neben dem Bett lag eine kleine schwarze Feder. Er hob sie auf und drückte seine Faust um sie so fest zusammen, dass sich die Fasern trennten.

       Schnellen Schrittes durchquerte er die langen menschenleeren Flure des Krankenhauses und warf draußen im Freien die kaputte Feder böse lächelnd hinter sich.

      Kapitel 7

      Ryu schlug die Augen auf, die eintönige Zugfahrt hatte sie müde gemacht und eingeschläfert. Jetzt hatte der Zug angehalten. Er stand an einem verlassenen Bahnsteig.zwischen dessen verwitterten Betonplatten hohe Gräser wuchsen. Ein Windstoß wirbelte vergilbte Papierfetzen hoch auf. Eine blecherne Automatenstimme gellte durch die Abteile: „Endstation! Endstation!“ Eine Tür des Zuges war geöffnet. Ryu stand auf, schleppte den Koffer durch den leeren Gang und stieg aus. Eine einsame Lampe, die an einem Kabel über dem Ausgang hing, schickte ihr fahles Licht, gerade hell genug, um zu erkennen, was auf dem Zettel stand, den sie aus der Tasche gekramt hatte. Darauf standen eine Wegbeschreibung und eine kleine Abbildung. Ryu mutmaßte, die Abbildung könne ein Wappen darstellen, die Kreatur in der Mitte des Wappen hielt sie für einen dreiköpfigen Hund, aus dessen Mäulern lange Flammenzungen ragten. Als sie sich umsah, entdeckte sie ein kleines Mädchen, das am Ende des Bahnsteigs wartete. Jetzt schien das kleine Mädchen Ryu entdeckt zu haben und winkte ihr mit seiner Puppenhand heftig zu. Dann setzte sich das Kind in Bewegung, zuerst wie in Zeitlupe und unendlich langsam, dann nahm es Geschwindigkeit auf und stand wie im Nu vor ihr, wobei die Luft rings um sie flirrte, als sei sie elektrisch aufgeladen.

      Dieses Mädchen sah irgendwie putzig, aber auch furchteinflößend aus. Es hatte platinfarbene lange Haare, die Augen waren rotbraun und ungewöhnlich groß. Auf den ersten Blick fielen Ryu ihre langen, spitz gefeilten und stark gekrümmten Fingernägel auf. Es trug ein etwas altmodisches rotes Kleid mit weißen Rüschen, das sie komplett wie eine Puppe aussehen ließ. Ihre Haut war von extremer Blässe und ihr Mund war knallrot. In ihren Händen hielt sie ein Kuscheltier, das wie ein geflügelter Hund mit langen Ohren und gefletschten Zähnen aussah.

      So, wie das Kind dort stand, machte es einen hilflosen und verlorenen Eindruck, doch seine lauernden Blicke sprachen von Heimtücke und Verschlagenheit. Das Mädchen setzte eine kleine Tasche ab, die es in der linken Hand gehalten hatte, und streckte langsam einen ihrer unnatürlich langen, schneeweißen Finger aus und berührte Ryu vorsichtig, als wolle es sich überzeugen, ob Ryu auch echt und kein Trugbild war. Eine Spur von einem triumphierenden Grinsen huschte über sein Gesicht, das etwas so Böses und Verderbtes ausstrahlte, dass Ryu unwillkürlich zurück zuckte.

      Nun fiel Ryu auf, wie klein das Mädchen in Wirklichkeit war, jedoch bewegte und benahm es sich wie eine Erwachsene.

      „Mein Name ist Larea Rot, nett dich kennen zu lernen“, sagte das Mädchen mit einer süßen, aber festen und fordernden Stimme und hielt Ryu ihre Hand mit den ungewöhnlich langen Fingern und den spitzen gebogenen Fingernägeln hin.

      Ryu schüttelte die Hand, sie war angenehm glatt und kühl. „Ich heiße Ryu Etoile und bin froh, dass ich nicht ganz allein auf diesem öden Bahnsteig bin. Ähm... weißt du vielleicht, wo wir hier sind?“, fragte Ryu.

      Larea legte ihren Kopf ein wenig zur Seite und schielte treuherzig zu Ryu hinauf wie ein Hund, der nicht genau weiß, was er anstellen soll. „Du weißt nicht, wo wir sind? Und doch hast du das Siegel der Schule dabei? Komisch, na ja, wir sind in Ostdeutschland. Genau in Nienhagen, die Schule, die wir besuchen werden, befindet sich im Geisterwald.“ Larea beugte sich zur Seite und wies mit einem ihrer unendlich langen Finger in die Ferne, in der man gegen den nachtblauen Himmel die düstere Silhouette eines Waldes erkennen konnte.

      „Leider kann man sich in diesem Wald sehr leicht verlaufen und es ist für uns unmöglich, das Sicherheitssystem der Schule zu durchbrechen“, sagte Larea. Ryu fragte sich, was Larea mit der Schule meinte und warum eine Schule überhaupt so ein Sicherheitssystem brauche, doch sie traute sich nicht, dem kleinen Mädchen irgendwelche weiteren Fragen zu stellen, denn Lea hatte leise zu knurren begonnen und hieb wie selbstvergessen ihre spitz gefeilten Fingernägel in die Luft, wobei sie ihren Oberkörper hin und her wiegte. Mal wirkte sie auf Ryu wie ein ungeduldiges Kind, im nächsten Moment aber wie ein gefährliches kleines Monster. Ryu wartete ab und setzte sich auf ihren Koffer.

      Nach einer Weile beruhigte sich Larea wieder, holte aus ihrer Tasche eine Aluminium- Trinkflasche hervor und nippte daran. Ryu fiel ein, dass sie das letzte Mal vor mehr als einem Tag etwas getrunken hatte, ihre Lippen waren schon spröde und eingerissen und ihr Rachen war ganz trocken und kratzte schlimm. Als könne sie Gedanken lesen, hielt Larea ihr die Flasche hin. Ryu lächelte sie an und nahm dankend die Flasche an. Schnell nahm sie einen kräftigen Schluck, um ihren Rachen zu befeuchten und zuckte voller Ekel zusammen. Die Flüssigkeit schmeckte metallisch und schleimig und als sie sich instinktiv über den Mund wischte, war ihre Innenhandfläche mit blutroten Schlieren bedeckt.

      Hastig und mit einer Geste des Abscheus gab sie Larea die Flasche zurück, worauf das Mädchen sie ungläubig anstarrte.

      Sie legte wieder ihren Kopf schräg auf die Schulter. „Weißt du, du benimmst dich ziemlich komisch“, sagte sie vorwurfsvoll und starrte Ryu kopfschüttelnd an. „Alle mögen mein Lieblingsgetränk und finden es köstlich.“

      Ryu wandte sich ab und presste die Hand vor den Mund. Ihr war schlecht und sie brauchte ihre ganze Überwindungskraft, um sich nicht zu übergeben.

      Ein fernes Donnergrollen kündete von einem Gewitter, Wetterleuchten geisterte über dem Wald, starke Windstöße jaulten um das düstere verlassene Bahnhofsgebäude. Ryu starrte zum Himmel. Der Mond hatte sich blutrot gefärbt, Sturmgewölk jagte herbei, in der Nähe schlug ein Blitz ein. Als der ohrenbetäubende Donnerschlag verhallt war, vernahm Ryu ein vielstimmigen Fiepen und unter dem Zug sprang eine Schar Ratten hervor und rannte auf sie zu. Larea machte ein paar Schritte auf die Nager zu und streckte ihre weiße Puppenhand mit den unendlich langen Fingern gegen sie aus. Die Ratten hielten inne und duckten sich. Dann machten sie kehrt und verschwanden wieder unter dem Zug.

      Der Wind wurde zum Sturm, der die Wipfel der Bäume tief nach unten drückte. Dann setzte sich der schmutzstarrende rostige Zug quietschend und rasselnd in Bewegung und holperte auf den Gleisen davon. Als die Gleise frei waren, krabbelten unzählige Ratten über den Schienenstrang, der sich in Sekundenschnelle in einen Fluss aus pelzigem braunem Fell verwandelte.

      Ein langgezogenes schauriges Geheul schallte vom nahen Wald herüber. Larea war genauso überrascht wie Ryu. Im gleißenden