Blut zu Blut. Janaina Geismar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Janaina Geismar
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847611301
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vor ihren Augen, doch sie konnte es nicht erkennen, was es bedeutete. In einem kurzen hellen Augenblick erschien ihr Annas Gesicht sehr nah. Vielleicht war sie zu ihr gerannt. Anna bewegte ihre Lippen, als würde sie etwas sagen, doch Ryu hörte nichts. Sie wollte etwas zu Anna sagen, doch sie brachte nur von Schmerz zerfressene Laute zustande. Ihre Kopfschmerzen wurden immer unerträglicher und Ryu fing an zu schreien, sie fühlte noch nicht einmal den Aufprall ihres Kopfes, der unsanft gegen den Betonboden knallte. Sie litt wahre Höllenqualen und wünschte schon insgeheim, nicht länger am Leben zu sein. Dann glaubte sie, vor Schmerz verrückt zu werden.

      Erst als die letzte Krähenfeder zu Boden gesunken war, verschwanden der pochende Schmerz und die schwarzen Blitze aus ihrem Kopf.

      Ryu nahm die Hände herunter, ihre Haare waren zerzaust und schweißnass. Als sie aufblickte, sah sie, dass sich eine Menschenmenge um sie versammelt hatte. Die Leute steckten die Köpfe zusammen, tuschelten miteinander und starrten sie mit angstvollen Blicken an. Aber niemand machte Anstalten, ihr zu helfen.

      Manche kicherten auch nur und grinsten vor Schadenfreude. Kleine Kinder starrten sie mit großen Augen an und registrierten jede Bewegung, die Ryu machte. Das Gedrängel um sie herum wurde an einer Stelle unruhig, die Menschen drehten sich um und gaben eine schmale Gasse frei. Ein Polizist versuchte sich durch die Menge zu schieben, er drückte und stieß die Menschen zur Seite, denn freiwillig gaben sie kaum Raum. Als er zu Ryu durchgedrungen war, guckte er ziemlich überrascht. Dann legte er den Arm um Ryus Schulter, um sie aus der Menge zu führen. „Geht es Ihnen gut? Soll ich einen Krankenwagen holen?“, fragte der Polizist. Doch Ryu schüttelte den Kopf, wohin sie auf keinen Fall wollte, war in ein Krankenhaus!

      Der Polizist schaute sie misstrauisch an, dann zuckte er mit den Achseln und ging langsam davon, wobei er sich mehrmals nach Ryu umschaute. Ryu wollte sich gerade davon stehlen, doch schon stand Anna neben ihr, packte ihren Arm und zog sie von der Menschenmenge, die sich zu ihnen umgedreht hatte, weg und über den Platz davon.

      Diesmal wollte Ryu wissen, wo es hingehen sollte, und schrie Anna an: „Was hast du vor? Wohin willst du mich verschleppen?“

      Doch Anna zeigte keine Reaktion, sie liefen durch Büsche und und unter tief herabhängenden Ästen durch, die Ryu ins Gesicht peitschten und blutenden Kratzer hinterließen.

      Später, als sie einen verlassenen Bahnhof erreicht hatten, hielt sie Anna fest, so dass sie ihren atemlosen Lauf stoppen musste. Ryu holte tief Luft und ordnete ihre Gedanken. „Also, noch mal, wo bringst du mich hin? Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. und du bist mir nun endgültig eine Antwort schuldig!“, schrie sie Anna an.

      Anna zeigte keine Reaktion. Ryu zweifelte, ob sie ihr überhaupt zugehört hatte. Ihre Blicke waren völlig ausdruckslos und leer. Sie stand einfach nur da wie ein Elektrogerät, dessen Stecker man aus der Steckdose gezogen hatte. Ihr Haar war zerzaust, ihre Kleidung war schmutzig, sie machte einen ziemlich verwahrlosten Eindruck und nur wenig erinnerte an das ziemlich herausgeputzte Mädchen, das sie gestern zum ersten Mal in ihrem Krankenzimmer besucht hatte. Als Anna ihre Hand sinken ließ, fielen ein paar schwarze Federn aus ihrem Ärmel. Ryu wich erschrocken einen Schritt zurück, doch Anna packte sie wieder am Arm und zog sie mit. Wortlos gingen sie weiter. Als sie an einem der Bahnsteige ankamen, warf die herauf dämmernde Nacht schon lange Schatten. Auf den Gleisen wartete ein Zug, seine Waggons waren schmutzig, die Fenster blind vor Staub, die Eisenbeschläge rostig. Er machte den Eindruck, als habe man ihn aus dem Schuppen eines Eisenbahnmuseums geradewegs hier hin gebracht. Als sie sich den ersten Wagen näherten, bemerkte Ryu, dass in den Zugabteilen kein Licht brannte. Anna ging zur Einstiegstür eines der altertümlichen Waggons und drückte mit beiden Händen die große rostige Klinken hinunter. Die Tür schwang schwerfällig und knarrend auf.

      Sie drückte Ryu wortlos einen Zettel in die Hand und schubste sie in den Zug. Ein Krachen wie ein Donnerschlag hallte durch den Zug, als hinter Ryo die Tür ins Schloss fiel.

      Draußen auf dem Bahnsteig kam plötzlich Leben in Anna, erst schlug sie voller Panik die Hände vors Gesicht, dann hämmerte sie gegen die Waggontür und schrie etwas, was Ryu nicht verstand. Ihre Worte hallten seltsam verzerrt und zerhackt durch den Zug. Auch Annas Augen waren wieder voller Leben und sie schien wieder sie selbst zu sein. Doch wie sehr sie sich auch anstrengte, es gelang ihr nicht, die Einstiegstür zu öffnen. Dann gellte ein langgezogener Pfiff durch den Bahnhof, der Zug setzte sich ruckelnd und quietschend in Bewegung und nahm Geschwindigkeit auf. Die Waggons schlingerten auf den Schienen hin und her wie ein Boot in einer starken Dünung. Bald war der Bahnsteig nur noch ein schmaler Strich und Anna darauf ein winziger Punkt. Dann ging das Licht an, es flackerte erst, dann brannte es fahl und gleichmäßig.

      Ryu bemerkte, dass neben ihr ein Koffer stand, sie nahm ihn, trug ihn in ein Abteil und setzte sich auf einem Viererplatz. Jede Kurve und jede Unebenheit der Schienen machten sich durch kreischendes Quietschen und heftige Stöße lautstark bemerkbar. Ryu wischte mit dem Ärmel etwas Staub vom Fenster, schaute hinaus an den Himmel und ließ sich vom Glitzern der Sterne durchrieseln. Kleine schwarze Flecke huschten durch den Himmel, als würden sie den Zug verfolgen.

      Ryu schloss die Augen, das beängstigende Gefühl beschlich sie, in einer Falle zu sitzen. Sie ahnte, der Zug würde nicht eher anhalten, bis er sein Ziel erreicht hatte. Und dieses Ziel erschien ihr bedrohlich und voller Schrecken.

      Kapitel 6

       Die Ratte im Bad traute sich hervor, sie huschte über den glatten Boden zurück in den Raum, in dem der Zweibeiner gewesen war.

       Ein neuer Duft breitete sich aus, es näherten sich andere Zweibeiner. Sie witterte drei von ihnen. Einer war männlich und zwei waren weiblich. Das erkannte sie anhand des Testosterongehaltes der Duftwolken. Die weibliche Gestalt stand direkt hinter ihr, sie stieß spitze Schreie aus , ergriff einen langen Gegenstand und schlug nach ihr.

       Die Ratte flüchtete zurück in dem Raum, in dem sie sich versteckt hatte, aber der kreischende Zweibeiner folgte ihr. Sie hörte, wie deren Artgenossen sich lautstark äußerten, aber sie wagten sich nicht ins Bad. Der weibliche Zweibeiner schien ihr Versteck nicht entdeckt zu haben und öffnete den Deckel, unter dem ihre Artgenossen noch eingeschlossen waren. Kaum hatte der weibliche Zweibeiner den Deckel hoch geklappt, sprangen, kugelten und purzelte ein nicht versiegen wollender Strom pelziger Leiber hervor. Ihre Überzahl war erdrückend, der weibliche Zweibeiner würde keine Chance haben. Sie sprangen auf sie und gruben ihre Zähne in ihr warmes Fleisch. Sie trat und schlug nach ihnen, aber das half nicht, ihr Schicksal war besiegelt. Die Zweibeinerin stürzte und machte es ihnen leicht, über sie herzufallen. In Sekundenschnelle war ihr ganzer Leib von ihnen bedeckt. Sogar ihre Schreie wurden erstickt. Dann hörte sie auch zu zappeln auf. Blutiges Muskelfleisch wurde Stück für Stück abtransportiert, Knochen wurden abgeschabt, nichts wurde verschwendet, alles wurde verschlungen. Der glatte Boden war mit warmem Blut getränkt.

       Das alles war in Sekundenschnelle geschehen. Erst jetzt drangen die beiden anderen Zweibeiner ins Badezimmer. Als sie das abgenagte Gerippe und das Blutbad bemerkten, erstarrten sie vor Grauen. Nach dieser Schrecksekunde wollten sie flüchten, doch es war schon zu spät. Der zweite Zweibeiner rutschte auf dem glitschigen Fliesenboden aus und fiel der Länge nach hin. Aus allen Ecken sprangen die Ratten auf den Gestürzten und begannen sofort ihr blutiges Werk. Doch diesmal trafen sie auf heftigere Gegenwehr. Wild schlug der Gestürzte mit langen kräftigen Armen um sich, seine großen Hände zerquetschten ihre kleinen Leiber, seine großen Füße zertraten sie, doch ihren Platz nahmen sofort andere ihrer Artgenossen ein und gruben ihre spitzen Beißer durch seine Kleidung in sein Fleisch. Wer einen Fetzen aus seiner Kleidung heraus gerissen hatte, trug ihn beiseite, um damit später, wenn ihr Werk vollendet war, damit eines ihrer Nester auszupolstern. Auf den freien Fleck stürzte sich sofort eine andere Ratte, die nun freien Zugang zu dem hatte, was das Wichtigste war: neue frische Nahrung, die für das Opfer den Tod, für die Angreifer aber Leben bedeutete. Sie stritten sich um das saftige Muskelfleisch, doch es war genug für alle da.

       Dem dritten Zweibeiner gelang die Flucht, seine Duftspur wurde vom Blutgeruch überdeckt. Die Kundschafterratte hatte ihr Mahl schon gehalten und lief zurück