Blut zu Blut. Janaina Geismar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Janaina Geismar
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847611301
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ihre langen dunkel braunen Haare waren zu einem dicken Bauernzopf zusammen geflochten, was wieder in einem starken Kontrast zu ihrer blassen Haut und den eisblauen Augen stand.

      Sie lächelte Ryu an, es war kein herzliches Lächeln, fand Ryu, so würden Maschinen lächeln, wenn sie denn lächeln könnten, und ging auf sie zu. „Mein Name ist Anna Stein, ich bin die Nichte von Dr. Grabowski,“ sagte sie. „Ich dachte, wir könnten zusammen etwas unternehmen, du musst dich ja einsam fühlen. Ich habe ein paar Spiele dabei!“ Anna holte ein Brettspiel aus ihrer Tasche und baute es auf dem kleinen Tisch auf. Ryu setzte sich wieder aufs Bett und schaute auf das Brettspiel, sie hatte keine Lust zu spielen, zu viele Fragen, auf die sie keine Antwort hatte, bekümmerten sie.

      „Kennst du das Spiel Polkovodez?“, fragte Anna. Ryu schüttelte den Kopf, ein ungewöhnliches Spiel, vielleicht aus Russland.

       Ryu stand wieder auf und ging auf das Fenster zu, die Gitter hatten auf sie eine bedrückende Wirkung, die immer stärker wurde.

       Anna sah sie an und ging ebenfalls auf das Fenster zu. „Du bist allein, lass uns Freunde werden“, sagte sie und lächelte Ryu an. Annas Lächeln strahlte nun herzlich, aber ihr kalten Augen drückten etwas anderes aus, das Ryu Angst machte. „Ja, das denke ich auch, ich wüsste nicht, wen ich kennen und wem ich mein Herz ausschütten könnte“, flüsterte Ryu und lächelte halbherzig zurück. Draußen ging langsam die Sonne unter, die ersten Fledermäuse stiegen in die Luft, die Ratten huschten durch die Straßen und die Krähen breiteten ihr Gefieder aus und erhoben sich in die Lüfte.

       Von überall her ertönten Geräusche wie Rascheln und Fiepen kleiner Kreaturen.

       „Ratten, die sind überall!“, fauchte Anna und schüttelte angewidert den Kopf.

       Ryu schaute sie überrascht an.„Ratten sind intelligente und reinliche Tiere, ich verstehe überhaupt nicht, warum sie so gehasst werden.“

       Anna verdrehte die Augen und tippte sich vielsagend gegen die Stirn.

       „Vielleicht weil sie eklig sind?“

       „Das ist keine vernünftige Antwort auf meine Frage.“

       Anna verdrehte erneut ihre Augen und schaute Ryu so an, als sei die nicht ganz richtig im Kopf. Ryu war sicher, dass sie keine guten Freunde werden würden.

       „Anna, was macht man für gewöhnlich in meinem Alter?“

       „Warum fragst du?“ Anna zog eine Augenbraue hoch.

       „Weil ich nicht den Drang verspüre, irgendetwas zu tun.“

       „Das liegt wahrscheinlich daran, dass du so lange Zeit im Koma lagst. Aber jetzt kannst du wieder auf Partys gehen oder ins Kino.“

       „Was ist denn so besonders an Partys? Da schlägt man doch bloß die Zeit tot und betrinkt sich zum Schluss“. Ryu setzte sich ans Bett. So was verstand sie nicht, wie manche Leute Hunderte von Euros ausgeben, nur um sich mit Alkohol volllaufen zu lassen und sich dann anschließend an nichts zu erinnern.

       „Partys haben auch was Gutes, man lernt neue Menschen kennen“. Anna tanzte um Ryu herum, doch das überzeugte sie nicht.

       Viele Besoffene zusammengepfercht in einem Raum, bei dieser Vorstellung stellten sich ihre Nackenhaare auf.

       Ryu bemerkte, wie mehrere dunkle Fahrzeuge mit getönten Scheiben sich dem Krankenhaus näherten. Eines dieser Autos hupte.

       Anna schreckte zusammen. „Tut mir leid, ich muss jetzt los,“ sagte sie und packte hektisch ihr Spiel wieder ein. „Ich komme morgen wieder“, sagte sie, was wie eine Drohung klang, und hastete aus dem Raum.

       Ryu erschien Annas Abschied wie eine Art Flucht. Sie wandte nun ihre ganze Aufmerksamkeit den vielen kleinen Kreaturen draußen vor dem Fenster zu, die im Schutz der Dunkelheit herumkrochen. Nach einer geraumen Weile legte sich Ryu ins Bett und versuchte Schlaf zu finden, morgen war ein neuer Tag wie jeder andere auch. Sie fühlte sich, als würde sie dahin vegetieren, als fehle ihr jeder Grund, am Leben teilzuhaben.

       Sie schloss die Augen und versuchte an nichts zu denken, bis sie einschlief.

      Kapitel 4

       In der Kanalisation türmten sich die Ratten wie pelzige Legosteine aufeinander. Sie mussten einen Weg finden, um durch das Abflussrohr zu krabbeln. Das Rohr war an der Decke und sie mussten eine Strategie haben, damit sie hinein klettern konnten. Die stärksten Ratten standen eng beieinander, damit die leichteren Ratten auf sie klettern konnten. Das Rohr war nun erreichbar. Eine Ratte schaffte es hinein, sie kratze mit ihren Krallen an der Innenseite des Rohrs und ein knirschendes Geräusch machte sich breit. Sie versuchte Senkrecht nach oben zu klettern und rutschte jedes Mal wieder ab, so dass ihre scharfen Krallen noch mehr furchtbare Geräusche produzierten. Sie sprang mehrmals, doch vergeblich und rutschte immer wieder ab.

       Ryu wachte auf und hörte ein Geräusch, das aus dem Bad drang. Sie ging ins Bad und lauschte. Jetzt war alles still, sie wartete noch einen Moment und beschloss, wieder ins Zimmer zu gehen und sich hinzulegen.

       Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie ihre Eltern waren, wie sie aussahen, doch da war nichts, das Einzige, was sie wusste, war, dass ihre Mutter langes blondes Haar hatte, aber an ihr Gesicht konnte sie sich nicht erinnern.

       Ryu schloss die Augen und stellte sich wieder die Autofahrt vor, der dumpfe Aufschlag, der Unfall, es waren nur wirre Bruchstücke, die wie Teile eines Puzzles in ihr auftauchten und verschwanden. Sie öffnete ihre Augen und starrte die Decke an, etwas stimmte nicht, selbst wenn sie sich ständig an Teile des schrecklichen Unfalls erinnern konnte, fühlte sie dabei weder Freude noch Leid, nur eine große innere Leere.

       Keine Trauer, keine Angst, waren es vielleicht gar nicht ihre Eltern? Und die Polizei hatte sich vertan und sie lebten noch? Wenn sie noch am Leben waren, dann musste sie ihre Eltern finden und um sie finden zu können, musste sie hier raus.

       Ihr Arm fing an zu jucken und sie kratze sich dort, sie fühlte ein kleines Stechen und Ziehen. Als sie auf ihren Arm blickte, bemerkte sie eine Narbe.

       Die Narbe war genau an der Stelle, an der Frau. Sorokin die Spritze angesetzt hatte. Die Narbe sah sehr ungewöhnlich aus, da sie ein Beule nach außen hin besaß.

       Sie drückte darauf und fühlte unter dem Fleisch etwas Eckiges. Sofort fing die Narbe wieder an zu brennen. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag Frau Sorokin zu fragen, was es mit der Beule und dem Eckigen im Fleisch darunter auf sich hatte, und schlief ein.

       In der Kanalisation türmten sich erneut die Ratten, diesmal würden sie es anders anstellen. Sie würden aufeinander klettern, so dass die unteren fetten Ratten als Fundament dienten und die schlankeren und jüngeren Ratten nach und nach darüber einen Turm bilden konnten. Ein Turm aus vielen kleinen pelzigen Tierchen entstand und wuchs immer höher. Eine Ratte fand Halt und nutzte kleinere Unebenheiten des Rohrs, an denen ihre Krallen Halt fanden, und kletterte hinauf.

       Sie musste sich diesmal auf ihre Schnurrhaare verlassen, denn hier war es dunkel, Ratten können allgemein nur sehr schlecht sehen, aber hier gab es noch nicht einmal eine Duftspur, an der sie sich orientieren konnte.

       Es wurde nass an den Pfoten und sie bemerkte, dass sie den Rest des Weges tauchend zurücklegen musste.

       Zum Glück konnte sie bis zu zehn Minuten die Luft anhalten und vertraute darauf, dass die Strecke, die sie zurücklegen musste, nicht mehr Zeit benötigen würde.

       Nach etwas mehr als fünf Minuten konnte sie tatsächlich auftauchen und