Blut zu Blut. Janaina Geismar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Janaina Geismar
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847611301
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richtigen Weg zeigte, hätte sich Ryu hoffnungslos verlaufen. Unterwegs trat Ryu absichtlich mehrmals mit dem Absatz Kronos auf die Zehen, damit er etwas wacher wurde, und sie befürchtete, dass er zu müde war und ihre Verabredung verschlafen könne.

      „Vergiss nicht, was wir vorhaben“, flüsterte Ryu zum Abschied.

      „Keine Sorge, ich werde pünktlich sein“, versprach Kronos.

      Ryu betrat ihr Zimmer und blickte sich um. Larea war nicht anwesend. Bestimmt trieb sie sich die halbe Nacht irgendwo in der Schule herum und wäre am nächsten Morgen wieder so müde, dass sie im Bett bliebe und den Unterricht verschliefe. Ryu dachte, dass ihr dies nur recht sein könne, denn so würde Larea ihren mitternächtlichen Aufbruch nicht mitbekommen. Ryu bemerkte, dass ihr Koffer immer noch unausgepackt in einer Ecke stand, er wäre ihr auf der Flucht bestimmt nur hinderlich, sie würde ihn einfach hier lassen. Sie setzte sich auf die Bettkante und stellte sich ein normales Leben vor, ein Leben ohne Bedrohungen wie auf dieser Schule. Sie schaute auf die Uhr. Es blieben ihr noch drei lange Stunden. Dann meldete sich der Hunger immer quälender, schließlich hatte sie seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken über den Hunger hinweg, draußen, in der normalen Welt, sich etwas zu essen zu organisieren, vor dem sie sich nicht ekeln würde und bei dem eine schwere Magenvergiftung nicht vorprogrammiert war.

      Kapitel 11

      Als der Mond aufging, hörte Ryu die Wölfe heulen, bald näher, bald ferner. Ryu hatte sie total vergessen. Was würde geschehen, wenn sie diesen Bestien begegneten? Ryu hatte ihre Zweifel, dass diese grauen Monster die Freundlichkeit besäßen und ihnen den schnellsten Weg nach draußen zeigen würden. Sie schaute nach draußen. Dort, wo das Licht aus den Fenstern hinfiel, sah sie kleine Tiere durchs Gras huschen. Auf der Suche nach Nahrung verließen sie ihre Verstecke, in denen sie sich tagsüber verborgen hielten. Die meisten suchten wohl Samen und Früchte, andere Insekten, aber es gab bestimmt auch solche unter ihnen, die Menschen suchten, um sie zu vertilgen, glaubte Ryu. Jedenfalls erschien ihr das nicht mehr undenkbar und so unwahrscheinlich.

      Dunkle Vorahnungen bedrängten sie. Und wenn es auch Hexen und Zauberer gäbe oder gar Götter? Vielleicht gab es ja wirklich einen wütenden Rachegott namens Thor, der seinen Hammer schwang und damit alles vernichten konnte. Oder Katzen in Ägypten mit übernatürlichen Fähigkeiten. Sie dachte über sämtliche mythologische Gestalten nach, die ihr in den Sinn kamen. War es nicht seltsam, dass sie sich daran erinnern konnte, nicht aber an ihre Eltern oder Freunde, die sie früher bestimmt gehabt hatte?

      Sie blickte hinauf zum Mond, der riesig und rund am Himmel aufging. Er erschien ihr größer und näher, als sie ihn je zuvor gesehen hatte. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Vielleicht kündigte er ja eine Nacht der Werwölfe an, denn wenn es schon Greife wie Kronos gab, dann bestimmt auch so blutrünstige Wesen wie Werwölfe. Und wenn es Werwölfe gab, dann bestimmt auch Trolle und Vampire.

      Je mehr sie sich in diese Gedanken steigerte, desto größer wurde ihre Furcht vor der bevorstehenden Flucht. Wenn es in diesem Wald, den sie durchqueren mussten, nun wirklich Werwölfe gäbe, dann müssten sie aufpassen, dass sie nicht gebissen wurden.

      Dann schlugen die Uhren in den Gängen und Fluren Mitternacht. Zwölf schaurige Glockenschläge hallten noch lange im Schulgebäude wider. Ryu seufzte tief, sie musste sich jetzt fertig machen, wenn sie pünktlich um ein Uhr am Treffpunkt sein wollte.

      Sie nahm den Lageplan zur Hand und studierte ihn aufmerksam. Die Schule besaß vier Tore, Nord-, West-, Süd- und Osttor. Beim Nordtor lag der Sportplatz, dort war sie schon mal gewesen. Sie war sicher, dass sie den Weg zum Osttor finden würde, er war viel einfacher. Ryu warf einen letzten Blick durch das Zimmer. Es gab dort nichts, was ihr wirklich gefallen hatte. Sie hoffte, es niemals wiederzusehen.

      Ryu steckte den Plan ein und schlich aus dem Zimmer. Die Gänge waren dunkel und die Stille ringsumher machte sie nervös. Jeder Schritt, den sie tat, erschien ihr laut wie ein Trommelschlag, und oft glaubte sie, dass sich vor ihr in den Finsternis Gestalten bewegten. Ab und zu huschte eine Maus davon, ihr Trippeln erschien ihr so laut, als trampele ein Elefant durch den Gang. Aus manchen Zimmern schallte lautes Schnarchen, aus anderen wüstes Grunzen und irres Quieken.

      Dann gefror Ryu das Blut in den Adern zu Eis und sie duckte sich unwillkürlich. Grässliche Schreie schallten durch die Gänge. Ihr Echo geisterte noch lange umher. Es waren Schreie einer Frau in höchster Todesnot, qualvoll und herzzerreißend und so voller Angst. Zuerst wollte Ryu in die Richtung rennen, aus der die Schreie kamen, doch dann wurde sie sich ihrer Machtlosigkeit bewusst. Sie war ja bloß ein Mensch, und wen sie dort, woher die Schreie kamen, antreffen würde, waren Monster, die nicht zögern würden, auch sie umzubringen. Weil sie es nicht länger ertragen konnte, steckte sie sich die Finger in die Ohren und hastete weiter, doch die Schreie wurden nicht leiser, sondern immer lauter und bedrängender.

      Ryu bekam fürchterliche Angst, denn egal, in welche Richtung sie lief, sie kam den Schreien immer näher. Ein letzter, unmenschlich hoher Schrei brach ab, dann herrschte wieder Stille ringsumher, Totenstille. Ryu atmete auf und lauschte. In der Ferne knarrte eine Tür, ein hohles Kichern wurde immer leiser. Ryu hielt den Atem an. Die Vorstellung, dass im nächsten Augenblick grässliche Monster aus dem Dunkel dringen und sich auf sie stürzen könnten, ließ sie zittern wie Espenlaub.

      Doch es blieb still, keine Schritte, keine Monster. Sie musste weiter, denn es war schon fast ein Uhr. An jeder Kreuzung blieb sie stehen und versuchte, die Finsternis mit Blicken zu durchdringen. Ihre größte Angst war, dass dieser Stan sich plötzlich vor ihr materialisieren würde und seine schrecklichen Drohungen wahr machte. Genau so schlimm war der Gedanke, Serpenta würde ihr den Weg verlegen, sie in eine Ecke drängen und sie bei lebendigem Leib verschlingen. Und sie könnte nirgendwohin fliehen.

      Am Ende eines Ganges sah sie den fahlen Schimmer von Mondschein, der durch staubiges Glas fiel. Dann erkannte sie ein großes Tor. Jetzt hielt sie nichts mehr. Sie begann zu rennen, und es war ihr egal, wie laut ihre Schritte schallten. Ein einziger Gedanke beseelte sie: Nur weg hier! Weg aus diesen schaurigen Gängen, die nach Blut und Verwesung rochen.

      Als sie das Tor erreichte, prallte sie mit jemandem zusammen. Ihr Herz stockte, doch dann erkannte sie den Federschopf. Es war Kronos. Er hatte Wort gehalten.

      Kronos schien sich genauso schlimm erschreckt zu haben wie sie selbst. Er zitterte am ganzen Leib, seine Hände flatterten, als wollten sie von ihm weg fliegen.

      „Du bist zu spät“, flüsterte er und rieb seine zittrigen Hände. „Ich habe schon befürchtet, du würdest nicht mehr kommen.“

      Er hatte hier alleine auf sie gewartet und die schrecklichen Schreie ebenfalls gehört, das hätte Ryu an seiner Stelle auch ungeduldig gemacht. Sie versuchten das Tor leise zu öffnen, doch es knarrte so unerträglich laut, als sei es vor zweihundert Jahren das letzte Mal geölt worden. Hinter ihnen fiel es mit lautem Krachen ins Schloss.

      Draußen goss der große runde Mond sein rötliches Licht über das Land. Es erschien Ryu wild und abschreckend. Hinter dem Osttor dehnte sich ein riesiges Moor aus. Tümpel schillerten ölig, vermoderte Baumstümpfe reckten ihre abgestorbenen Äste wie die Finger von riesigen Gespenstern in die Höhe. Ab und zu schüttelten knorrige Trauerweiden in Windstößen ihr welkes Laub zu Boden. Aus Pfützen und Morastlöchern stiegen Nebelschwaden.

      „Müssen wir dort wirklich durch?“, fragte Ryu ängstlich.

      „Wir versuchen es“, meinte Kronos. „Pass gut auf, dass du auf den großen Grasbüscheln bleibst und nicht ins Moor trittst.“

      Die beiden wateten langsam durch das Moor, ihre Füße versanken bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln im sumpfigen Untergrund. Wenn sie die Füße daraus hervorzogen, schmatzte das Moor wie ein gieriges Tier. Sie kamen nur langsam voran, manchmal versperrten mehr als mannshohe Inseln aus Schilf ihren Weg, denen sie ausweichen mussten. Je tiefer sie ins Moor eindrangen, desto tiefer sanken ihre Füße im Morast ein. Oft erschraken sie zu Tode, wenn Frösche vor ihnen aufsprangen und mit lautem Platschen in ein Wasserloch sprangen.

      Dann wälzte sich aus den Tiefen