Blut zu Blut. Janaina Geismar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Janaina Geismar
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847611301
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andere Sorgen zu haben, als sich mit Ryu zu beschäftigen, denn vor ihr saß eine junge Frau, die ebenfalls eine schwarze gespaltene Schlangenzunge besaß. Die beiden Frauen mochten sich offensichtlich nicht, sie zischten sich permanent an, als wollten sie sich gegenseitig vertreiben.

      Schließlich artete das Gezänk der beiden so aus, dass es selbst dem Philosophielehrer nicht verborgen blieb. Unter trockenem Husten schlurfte er zu ihnen, wobei die Motten aufstoben und um die beiden jungen Frauen flatterten. Sie fingen mit ihren gespaltenen langen Zungen etliche der Motten und verspeisten sie mit großem Appetit, was Herrn Malinellus ziemlich erboste.

      „Wie heißt ihr beide?“, fragte er und wurde von einem seiner heftigen Hustenanfälle durchgeschüttelt.

      „Serpenta Montana“, erwiderte die Schlangenfrau, die Ryu im Zelt bedroht hatte.

      „Und ich bin Mia Mogala“, sagte die andere.

      Dann zischten die beiden sich wieder an und ihre Köpfe bewegten sich in blitzschnellen Pendelbewegungen.

      „In meinem Unterricht werden keine Rangkämpfe ausgetragen“, hüstelte der Philosophielehrer und ließ aus den Staubwolken seines Mantels wieder große Mengen Motten auf die beiden jungen Frauen regnen. „Wenn ihr nicht sofort damit aufhört, werden euch die Motten auffressen!“

      Diese Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht, Serpenta und Mia hörten auf sich anzuzischen und starrten sich nur noch an. Der Kampf mit Blicken schien den Lehrer nicht zu stören.

      Dann begann er mit seinem Unterricht. Kaum jemand verstand auch nur einen einzigen Satz von dem, was er sagte, denn der Lehrer unterbrach sich ständig selbst mit seinen gewaltigen Hustenanfällen. Manchmal waren sie so heftig, dass es ihn von den Beinen riss und er sich in Schwärmen von Motten unter dem Lehrerpult wälzte.

      Einen dieser Hustenanfälle nutzte Kronos , stupste Ryu in die Seite und beugte sich zu ihr. „Hey“, flüsterte er. „Lass uns schon heute Nacht abhauen, ich werde sonst hier noch verrückt! Wir treffen uns um ein Uhr am Osttor. Geht das in Ordnung?“

      „Okay, ich bin dabei“, erwiderte Ryu und freute sich schon auf die Nacht.

      Der Unterricht zog sich quälend in die Länge. Die Stimme des Lehrers wurde immer leiser, die Beleuchtung immer schwächer, die Luft hier unten immer stickiger. Alle Schüler hatten gegen eine anwachsende Müdigkeit zu kämpfen, aber immer, wenn ihnen die Augen zufielen, schwirrten Schwärme von Motten herbei, krabbelten in Augen und Nasenlöcher, so dass die Schüler niesen mussten und aus ihrem Halbschlaf hoch schreckten.

      Nur eine Schülerin blieb hellwach und ließ ihre Blicke aufmerksam durch die Bankreihen wandern, wobei sie sich ständig die Lippen leckte und nervös auf ihrem Stuhl rutschte. Es war die kleine Larea. Ryu wunderte sich nicht, dass ausgerechnet Larea nicht müde wurde, sie hatte ja schließlich den ganzen Tag geschlafen.

      Als Ryu auf die staubige Uhr an der Stirnseite der Klasse blickte, musste sie zu ihrem Erschrecken feststellen, dass erst zwanzig Minuten von dem dreistündigen Unterricht vergangen waren. Mittlerweile hing der alte Lehrer halb über dem Pult, Kopf und Arme baumelten herunter, seine Stimme war so schwach, dass man kein einziges Wort verstand. Um nicht einzuschlafen, ließ Ryu ihre Blicke durch die Klasse wandern.

      Einer der Schüler kaute intensiv an seinem Bleistift, bis er zerbrach. Galo, der Megalodon und Gestaltenwandler, fraß seine Stifte sogar auf, und als er keine mehr hatte, bediente er sich an den Stiften seines Banknachbarn. Serpenta führte immer noch ihren Blickkrieg mit Mia.

      Jetzt hatte es der Lehrer vom Pult bis zur Tafel geschafft, doch ihm fehlte die Kraft, etwas darauf zu schreiben. Er klammerte sich mit beiden Händen an ihr fest, seine Stimme war nur noch ein feines Raunen.

      Ryu beobachtete, wie der Junge, unter dessen Füßen das Feuer ausgebrochen war, einen Stift in die Nase steckte und damit seinen Kopf auf der Tischplatte abstützte, damit er unauffällig schlafen konnte. Die junge Frau, die in der nächsten Bank links von ihr saß, hieb sich ständig, damit sie nicht einschlief, mit der Handkante gegen den Kehlkopf. Schräg vor ihr bemerkte sie eine Schülerin, die gegen den Schlaf ankämpfte, indem sie sich mit der Nadelspitze ihres Zirkels blutige Rillen in die Stirn ritzte.

      Die Motten flogen noch immer gegen die Lampe. Sie schienen Ryu nicht besonders intelligente Wesen zu sein. Genau wie Megalodons, denn Galo hatte mittlerweile auch die Stifte seines Banknachbarn vertilgt, und kaute nun auf seinem Schreibmäppchen herum, dass er schließlich ziemlich frustriert verschluckte. Auch Kronos hatte neben ihr den Kampf gegen die Müdigkeit verloren, bettete den Kopf auf die Tischplatte und begann wie viele andere auch leise zu schnarchen.

      Von alledem bemerkte der uralte Lehrer nichts und flüsterte leise mit der schweigsamen Tafel, die anscheinend die einzige war, die ihm überhaupt noch zuhörte. Ryu nahm an, dass man dem Lehrer mit einem Presslufthammer die Schädeldecke hätte öffnen können, ohne dass er etwas davon mitbekommen hätte.

      Einer der letzten, den die Müdigkeit übermannte, war Kitsune. Den Kopf auf dem Tisch, streichelte er im Halbschlaf noch sein Mäppchen und flüsterte verliebt mit ihm, als könne er nie und unter keinen Umständen zu flirten aufhören. Larea starrte intensiv die Gewölbedecke an, als würde sich dort einen Fernseher verstecken. Ryu fragte sich, wie wohl die Tests in solch einer Klasse ausfallen würden. Wahrscheinlich würde die Klasse nur aus Mitleid hochgestuft werden, damit die Schüler nicht noch als Omas und Opas im Unterricht sitzen müssten.

      Als Ryu wieder zur Uhr schaute, war erst eine Stunde vergangen, obwohl sie das Gefühl hatte, schon eine ganze Nacht in diesem Dämmerlicht verbracht zu haben. Schließlich konnte sie nicht anders und schloss die Augen bis auf schmale Sehschlitze. Doch das hielt die Motten nicht davon ab, sich auf sie zu stürzen und in ihren Nasenlöchern zu kitzeln.

      Kitsune ließ sich von den kleinen Insekten, die mittlerweile schon seinen ganzen Kopf bedeckten, im Schlaf nicht stören. Bei Kronos stellten sich im Schlaf in regelmäßigem Abstand die Kopffedern senkrecht und die Motten flogen von ihm auf, so dass er wenigstens frei atmen konnte.

      Als Ryu erneut auf die Uhr schaute, waren es nur noch zehn Minuten bis Unterrichtsende. Der Philosophielehrer mobilisierte all seine Kräfte, und es gelang ihm, ein großes P an die Tafel zu schreiben. Das hatte ihn so erschöpft, dass er auf seine Knie sank und minutenlang seinen Kopf zu den Seiten pendeln ließ.

      Ryu stupste Kronos in die Seite, doch das zeigte keine Wirkung. Daraufhin rüttelte sie seine Schulter. Kronos schnarchte weiter. Nun wurde Ryu ungeduldig, packte seine Kopffedern und riss aus Leibeskräften an ihnen. Das zeigte endlich Wirkung. Kronos zuckte aus seinem Tiefschlaf in die Höhe und verschluckte vor Schreck eine Handvoll Motten. Ryu zeigte auf die Uhr und flüsterte in sein Ohr: „Los, bleib wach, es ist gleich Schluss!“

      Doch ihre Worte erzielten nicht die erhoffte Wirkung. Kronos klimperte nur ein wenig mit den Wimpern und glotzte Ryu verständnislos an, dann sank sein Kopf zurück auf die Tischplatte. In den verbliebenen Minuten versuchte sich Ryu einen langweiligeren Unterricht als diesen vorzustellen, aber so sehr sie auch ihr Gehirn zermarterte, es gelang ihr nicht.

      In weiser Voraussicht hatte der Hausmeister die Gong-Anlage hier unten so laut eingestellt, dass ihr Dröhnen selbst Tote wieder zum Leben erweckt hätte. Der Gong hallte wie Donner durchs Gewölbe und ließ es so stark erzittern, dass der Putz von den Wänden fiel.

      Die Schüler sprangen aus ihrem Tiefschlaf senkrecht in die Höhe, doch ihr Schreck verwandelte sich sofort in Freude, als sie realisierten, dass der Unterricht zu Ende war. In Windeseile packten sie ihre Schulsachen zusammen und stürmten in wilder Flucht aus dem Klassenzimmer. Alle schienen heilfroh, dieser tödlichen Langeweile entronnen zu sein. Nur die kleine Larea saß noch auf ihrem Platz. Sie starrte gedankenverloren die Decke an und leckte sich die Lippen. Auch der Philosophielehrer hatte den Gong nicht vernommen. Er flüsterte mit der Tafel und schien die Hoffnung nicht aufzugeben, dass sie ihm endlich Antwort gäbe.

      Nach einer Weile betrat der Hausmeister das Gewölbe. Er packte die kleine Larea und warf sie in hohem Bogen aus dem Klassenzimmer. Dann ging er zur Tafel und lud den Philosophielehrer in eine mitgebrachte Schubkarre und schob sie aus dem Gewölbe.

      Währenddessen