Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim R. Steudel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738074062
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Shi­ge­na­ga einen Ver­tre­ter der hol­län­di­schen De­le­ga­ti­on, die kurz nach uns in Edo ein­ge­trof­fen war, auf­su­chen und ihm wich­ti­ge Mit­tei­lun­gen des Fürs­ten über­brin­gen. Die An­we­sen­heit von Eu­ro­pä­ern in un­mit­tel­ba­rer Nähe weck­te mein In­ter­es­se, und Shi­ge­na­ga war ger­ne be­reit, mich bei die­sem Bo­ten­gang mit­zu­neh­men.

      Durch die ja­pa­ni­sche Klei­dung, die ich seit der An­kunft in Edo trug, fiel ich nicht mehr gar so sehr auf, und um mei­ne frem­den Ge­sichts­zü­ge ein we­nig zu ver­ber­gen, be­kam ich einen großen Reiss­troh­hut. Da ich nicht dem Sa­mu­rai­stand an­ge­hör­te, soll­te ich seit­lich hin­ter Shi­ge­na­ga lau­fen. Es sah so aus, als wäre ich sein Die­ner. Auf­merk­sam folg­te ich sei­nen mir zu­ge­raun­ten An­wei­sun­gen. Nach­dem der Ka­pi­tän des Schif­fes un­ter­rich­tet war, woll­ten wir den Ha­fen ver­las­sen, um die Hol­län­der auf­zu­su­chen. In dem Mo­ment lief uns der Vor­ste­her der hol­län­di­schen Fak­to­rei von Hi­ra­do, den mein Be­glei­ter schon mehr­fach ge­trof­fen hat­te, über den Weg.

      Nach ei­ner knap­pen Be­grü­ßung, die von hol­län­di­scher Sei­te de­mü­ti­ger aus­fiel, als ich er­war­tet hat­te, stell­te mich Shi­ge­na­ga als einen in Chi­na ge­stran­de­ten Eu­ro­pä­er vor. Mich ge­nau mus­ternd, er­kun­dig­te sich der Fak­to­rei­vor­ste­her nach mei­ner Na­tio­na­li­tät. Ich teil­te ihm mit, dass ich aus Thü­rin­gen stamm­te, und so­fort ver­such­te er es mit Hol­län­disch, Fran­zö­sisch und ei­nem Kau­der­welsch, das nach Deutsch klang. Ver­le­gen schüt­tel­te ich den Kopf und ver­such­te es mit mei­nem Deutsch. Da­bei hat­te ich aber nicht be­dacht, dass es die­se Art von Deutsch zu je­ner Zeit noch gar nicht gab, wes­we­gen er mich ver­ständ­nis­los an­sah. Da­bei war es mir nicht leicht ge­fal­len, die rich­ti­gen Wör­ter zu fin­den, denn mitt­ler­wei­le dach­te ich in Chi­ne­sisch. Glück­li­cher­wei­se er­in­ner­te er sich in die­sem Mo­ment dar­an, dass Shi­ge­na­ga mit mir chi­ne­sisch ge­spro­chen hat­te. Er wech­sel­te in die­se Spra­che, die er ganz pas­sa­bel be­herrsch­te, und stell­te sich als Cor­ne­lis van Neyen­ro­de vor.

      Da wir uns nun recht gut ver­stän­di­gen konn­ten, be­gann ein re­ges Hin und Her.

      Als Ers­tes woll­te er wis­sen, in was für einen selt­sa­men Dia­lekt ich geant­wor­tet hat­te. Ich ver­such­te mich da­mit he­r­aus­zu­re­den, dass es eine re­gio­nal be­grenz­te Sprach­va­ri­an­te aus dem Thü­rin­ger Wald sei, die ich je­doch durch mei­nen lan­gen Auf­ent­halt in Chi­na nicht mehr rich­tig be­herr­schen wür­de. Das ak­zep­tier­te er, er­kun­dig­te sich aber gleich nach den Um­stän­den und der Län­ge mei­nes Chi­na-Auf­ent­hal­tes. Wie schon bei mei­nen ja­pa­ni­schen Freun­den muss­te ich wie­der zu ei­ner Not­lü­ge grei­fen, die mir gar nicht ge­fiel. Auch ihm er­zähl­te ich, dass ich über die Mar­co-Polo-Rou­te Chi­na er­reicht hät­te und schließ­lich in Shao­lin ge­stran­det wäre. Van Neyen­ro­de lausch­te ge­spannt und frag­te dann:

      ›Und Sie ha­ben wirk­lich die letz­ten Jah­re nur in die­sem Klos­ter ge­lebt?‹

      ›Ja, was ist dar­an so er­staun­lich?‹

      ›Nun, zum einen, dass Sie sich dort so ein­ge­lebt ha­ben und an­schei­nend gar nicht mehr den Wunsch heg­ten, in Ihre Hei­mat zu­rück­zu­keh­ren. Und zum an­de­ren, dass Sie an­schei­nend gar kei­ne Vor­stel­lung da­von ha­ben, was in Ih­rer Hei­mat los ist.‹

      ›Nein, hab ich wirk­lich nicht. Ich weiß ja nicht ein­mal ge­nau, wel­ches Jahr wir ha­ben. Durch das Le­ben im Shao­lin-Klos­ter habe ich ir­gend­wie den Fa­den ver­lo­ren.‹

      Cor­ne­lis lach­te kurz auf.

      ›Kaum vor­stell­bar. Doch egal. Wir schrei­ben das Jahr 1624 nach Chris­ti Ge­burt, und es gibt seit sechs Jah­ren Krieg in Eu­ro­pa, in den mitt­ler­wei­le auch Ihre Hei­mat ver­strickt ist.‹

      ›Krieg? Was für einen Krieg?‹

      Hier zeig­te sich wie­der ein­mal, dass ich von der deut­schen Ge­schich­te nicht viel be­hal­ten hat­te.

      ›Nun, die ka­tho­li­sche Liga und die pro­tes­tan­ti­sche Uni­on be­kämp­fen sich we­gen ih­res Glau­bens‹, er schnaub­te ver­ächt­lich durch die Nase. ›Sa­gen sie je­den­falls, doch ei­gent­lich will der Papst sei­nen Ein­fluss nicht ver­lie­ren, und mitt­ler­wei­le hat der dä­ni­sche Kö­nig in den Krieg ein­ge­grif­fen. Doch der will si­cher nur sein Land ver­grö­ßern. Über­all wird ge­raubt und ge­brand­schatzt. Der Han­del kommt zum Er­lie­gen, und die Men­schen lei­den Hun­ger.‹

      Bei ei­nem Blick in sei­ne Au­gen, konn­te ich wirk­li­ches Be­dau­ern be­mer­ken.

      ›Sei­en Sie froh, dass Sie nicht in Ih­rer Hei­mat sind, denn dort wä­ren Sie ent­we­der in ei­nem der Hee­re oder Sie müss­ten viel­leicht hun­gern wie vie­le der Ein­woh­ner Ih­res Lan­des.‹

      1624, was für ein Krieg herrsch­te da­mals? Ich brauch­te eine gan­ze Wei­le, bis mir klar wur­de, dass es nur der Drei­ßig­jäh­ri­ge Krieg sein konn­te. Die­ser Krieg wür­de ja noch mehr als zwan­zig Jah­re dau­ern, und ich konn­te wirk­lich froh sein, dass ich mich hier be­fand.

      Cor­ne­lis deu­te­te mein Schwei­gen an­ders und riss mich aus mei­nen Ge­dan­ken.

      ›Sie ma­chen sich wohl Sor­gen um Ihre An­ge­hö­ri­gen?‹

      ›Oh, nein‹, sag­te ich, ohne nach­zu­den­ken, wor­auf er mich fra­gend mus­ter­te.

      ›Nein, da brau­che ich mir kei­ne Sor­gen zu ma­chen, da ich von kei­nen An­ge­hö­ri­gen weiß, die jetzt dort le­ben.‹

      Er hob die Au­gen­brau­en noch ein we­nig wei­ter, und ich merk­te, dass ihm die­se Er­klä­rung nicht ge­nüg­te.

      ›Nun, ich habe alle, die mir lieb und teu­er wa­ren, durch einen tra­gi­schen Un­fall ver­lo­ren. Aus die­sem Grund kam es auch zu die­ser Rei­se, und es gibt nichts, was mich wie­der in die Hei­mat zieht.‹

      Ich fuhr mir mit der Hand übers Ge­sicht und schob den Stroh­hut ein we­nig ins Ge­nick.

      ›Nach die­sen Nach­rich­ten schon gar nicht. Ich den­ke, dass ich im Mo­ment hier viel bes­ser auf­ge­ho­ben bin.‹

      ›Na, da sind Sie sich mal nicht zu si­cher. Hier ist es für einen Aus­län­der auch nicht leicht. Die Mi­li­tär­re­gie­rung macht seit ei­ni­ger Zeit im­mer mehr Front ge­gen al­les, was nicht ja­pa­nisch ist. Be­son­ders auf die Je­sui­ten­mis­sio­na­re und auf alle, die sich of­fen zum christ­li­chen Glau­ben be­ken­nen, hat es die Re­gie­rung ab­ge­se­hen. Es wur­den auch schon vie­le hin­ge­rich­tet. Ich glau­be, Ihre Hei­mat könn­te sich viel­leicht als we­ni­ger ge­fähr­lich he­r­aus­stel­len, denn es dau­ert im­mer lan­ge, bis neue Nach­rich­ten hier ein­tref­fen. In der Zwi­schen­zeit könn­te der Krieg schon be­en­det sein.‹

      ›Hm, ich weiß nicht. Ich wur­de vom Dai­myo, Date Ma­sa­mu­ne, ein­ge­la­den, und Sie hal­ten sich ja auch hier auf‹, ant­wor­te­te ich und ver­schwieg mein Wis­sen über die lan­ge Kriegs­dau­er in Eu­ro­pa.

      Jetzt misch­te sich Ka­ta­ku­ra wie­der in das Ge­spräch ein.

      ›Ja es stimmt. Mein Herr hat ihn hier­her ein­ge­la­den, und er steht als sein Gast un­ter sei­nem Schutz.‹

      ›Was will der Dai­myo ma­chen, wenn der Sho­gun et­was an­de­res im Sinn hat?‹

      Eine