„Joy ist ein Spaniel! Charlotte ist ein Teenager und im Gegensatz zu Hunden erinnern sich Menschen an ihre Familie. Sie vermissen sie.“
„Denkst du wirklich, dass sie Eltern vermisst, die es fertigbringen sie einfach wegzugeben?“
„Ich habe dir schon hundert Mal erklärt, dass es so nicht gedacht ist. Es ist eine Art Lektion.“
„Pah!“, höhnt Izzy.
„Ja, schon gut. Ich halte auch nicht viel davon, aber…“
„Aber du konntest dich mal wieder nicht gegen deine Mutter durchsetzen. Wann fängst du endlich an, ihr Kontra zu geben?“
„Was hilft mir das jetzt, Izzy? Soll ich sie anrufen und ihr sagen, was für eine beschissene Idee sie und Liz hatten? Ach ja, und dann bitte ich Liz und Brian als nächstes, ihre Tochter wieder abzuholen.“
Wenn ich dachte, Charlotte hätte die Leistung ihrer Lautsprecher bereits ausgeschöpft, habe ich mich getäuscht, denn die Musik wird noch einen Tick lauter.
„Was sagst du? Ich verstehe dich kaum, Lauren. Kannst du die Musik ein bisschen leiser drehen?“ Izzy schreit fast in den Hörer.
„Das ist nicht meine Musik, sondern Charlottes.“ Genervt schmeiße ich die Wohnzimmertür hinter mir zu, damit das Gedröhne ein wenig abgeschwächt wird.
„Oh! Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen. Teenager leben ihre Gefühle über Musik aus. Was hört sie denn?“
„Keine Ahnung.“ Ich zucke die Achseln. „Aber es klingt alles ziemlich depri.“
„Das ist gar nicht gut“, meint Izzy alarmiert. „Sie sollte sich nicht in eine Depression hineinsteigern, was in ihrer Situation gut sein könnte.“
Izzy liest leidenschaftlich gerne Psychologieartikel in allen erdenklichen Frauenzeitschriften und hält sich deswegen für eine Expertin auf diesem Gebiet. Nur schade, dass sie bislang noch keinen Bericht über Ängste gelesen hat und mir damit helfen könnte.
„Und was soll ich tun?“ War das nicht schon meine Ausgangsfrage? Ich habe das Gefühl wir drehen uns im Kreis.
„Geh mit ihr etwas essen, oder zeig ihr den Strand. Ihr könntet an der Promenade ein Eis kaufen.“
„Du weißt aber schon, mit wem du sprichst?“
„Es sind nur 200 Meter bis zum Strand. Das schaffst du schon, Lauren.“
An schlechten Tagen schaffe ich es nicht mal zur Haustür hinaus und heute ist ganz sicher einer davon. Aber ich bin es leid, das Izzy immer wieder sagen zu müssen. Wenn ich nur daran denke, dass ich mit Charlotte vor die Tür gehen und dabei auch noch gute Miene zum bösen Spiel machen soll, dreht sich mir der Magen um. Aber das versteht vermutlich niemand, der dieses Gefühl nicht kennt.
„Mädchen lieben den Sonnenuntergang am Meer, das ist so romantisch. Sie fühlen sich dann in einen ihrer Liebesromane versetzt. Sowas wie Twilight.“
Ich bezweifle, dass Izzy Twilight gelesen hat, denn dann wüsste sie, dass das nicht ganz die rosarote Liebesgeschichte ist, die sie sich vorstellt. Und so überhaupt nichts mit Sonnenuntergängen am Meer zu tun hat, sondern eher mit Vampiren und Werwölfen, diesigen Regengebieten und - ja, gut, zugegeben - auch mit der großen Liebe. Die ist allerdings ein wenig schwülstig dargestellt, weshalb sowas für Charlotte wohl eher nichts ist. Vampirgeschichte ja, Liebesschnulze nein. Ich muss ja nur daran denken, wie sie das rosa Zimmer angeekelt betrachtet hat, als würde sie in einen riesigen Erdbeerkaugummi treten, der am Boden liegt und darauf wartet, dass man hineinstolpert und ihn fortan nicht mehr loswird, damit er bei jedem Schritt seinen künstlich süßen Geruch verströmen kann.
Ich merke schon, Izzy ist keine große Hilfe, was Mädchen in der Pubertät betrifft. Oder sollte ich besser sage, was Charlotte betrifft. Das ist nämlich ein Unterschied, wie ich finde. Ich kenne den Durchschnittsteenager, und Charlotte ist keiner.
„Ich überleg mir was.“, versuche ich das Gespräch lahm zu beenden.
Die Wohnzimmertür schwingt geräuschvoll auf, knallt gegen das Bücherregel und lässt eine alte, zerlesene Ausgabe von ‚Stolz und Vorurteil‘ zu Boden fallen, die ich immer lese, wenn ich nicht einschlafen kann. Jane Austen hat etwas sehr Beruhigendes an sich, vor allem in Kombination mit einem Kamillentee.
„Hast du vielleicht Powerstrips im Haus?“ Charlotte hebt eine ihrer hübschen schwarzen Augenbrauen, die ein wenig zu buschig sind, gerade deshalb aber ihre Augen so ausdrucksstark machen. Sie schreit, denn anders können wir uns nicht verständigen. Ein stampfender Beat und Gitarren treiben ein ansonsten eher ruhiges Lied vorwärts, bis es im Refrain seinen Höhepunkt erreicht.
„Klar, ich gebe sie dir“, rufe ich ihr zu, dann schreie ich in den Hörer: „Ich muss Schluss machen, Izzy. Charlotte braucht mich.“
„Alles klar“, brüllt sie zurück und bevor ich auflege höre ich noch, wie sie mir zuruft: „Hey, das ist ja Shawn Mendes!“
Okay, ich habe eine Sache richtig gemacht. Ich habe ein Poster von einem Star aufgehängt, den Charlotte gerne mag (ja, ich weiß, es war eigentlich Izzy). Deshalb durfte Shawn Mendes wohl auch über ihrem Bett hängenbleiben. Ansonsten erkenne ich mein Gästezimmer nicht wieder. Nur zu sagen, es ist schwarz, würde es nicht ausreichend treffen. Es ist nicht nur alles schwarz, sondern es ist auch düster. Und damit meine ich dunkel. Und ein bisschen deprimierend.
Das Fenster ist mit einem schwarzen Tuch verhangen, das meine Nachbarn vermutlich für einen Trauerflor halten würden. Zum Glück geht es aber zum Garten raus, sodass es niemand sieht. Überhaupt hat Charlotte eine beinahe exzessive Vorliebe für Schwarz. Ihr Bettbezug ist schwarz mit kleinen schnörkeligen silbernen Ornamenten darauf. Überall sind schwarze Kerzen aufgestellt, die Izzys kleines Chiffontüchlein über der Lampe brandtechnisch völlig in den Schatten stellen. Und sogar ein schwarzer Langflorteppich ist auf dem Boden ausgerollt, von dem ich mich frage, aus welchem Koffer sie den hervorgezaubert hat. Auf dem Schreibtisch liegen sämtliche Bücher von ‚Vampire Diaries‘, was meine Vermutung bestätigt, dass Charlotte auf Vampirgeschichten steht. Ich weiß zu wenig darüber, um sagen zu können, ob auch hier eine schwülstige Liebesgeschichte im Vordergrund steht, bezweifle es aber.
„Danke für die Powerstrips.“ Sie nimmt mir die Packung aus der Hand und macht sich daran, ein Poster aufzuhängen.
„Oh, ‚Vampire Diaries‘ wurde wohl auch verfilmt.“, sage ich nur dümmlich, als ich das Poster betrachte. Ich habe wirklich so gar keine Ahnung.
„Natürlich.“ Sie verdreht die Augen. „Das einzige, was man sich auf Netflix anschauen kann.“
„Hm.“ Mehr sage ich nicht. Kann ich auch gar nicht, ich habe nämlich kein Netflix. Eigentlich schaue ich auch sehr selten Fernsehen. Genau genommen, seit mir alles Angst macht. Actionfilme, weil sie oft brutal sind. Liebesfilme, weil man da manchmal weinen muss. Und Komödien, weil ich Angst habe, dass ich beim Lachen ersticke. Und das ist jetzt ganz und gar nicht komisch.
„Du bist doch nicht etwa eine von den altmodischen Tanten, die Fernsehen verbieten?“ Sie betrachtet mich argwöhnisch.
„Nein… Nein! Du kannst gerne Fernsehen so viel du willst, so lange ich nicht mitschauen muss…“
Ihr Gesichtsausdruck sagt mir ganz deutlich, dass sie darauf auch keinen gesteigerten Wert legt. Ich fühle mich unter ihrem Blick extrem unwohl, weshalb ich die Flucht nach vorne starte.
„Wir könnten heute Abend Essen gehen. Ich habe nichts zum Abendessen vorbereitet und es wäre doch ganz nett, um deine neue Heimat kennenzulernen.“
„Okay.“
Enthusiastisch ist etwas anderes, so viel ist klar. Dennoch nehme ich es als gutes Zeichen, dass sie nicht sofort dankend abgelehnt hat.
„Wie