Bevor ich von meiner Schule geworfen wurde, wusste ich nicht, wie furchtbar lang und öde ein Tag sein kann. Mir ist das schon zu Hause aufgefallen, aber hier in Portobello empfinde ich diesen Montag, an dem alle anderen Kinder in der Schule sind, als unendlich. Nach dem Frühstück schaue ich zwei Folgen ‚Vampire Diaries‘, aber so richtig Lust habe ich nicht dazu. Ich sehe meine Sachen durch, ob ich vielleicht irgendwas total Wichtiges daheim vergessen habe, was mir Mum dann bringen muss. Es wäre mir eine Genugtuung, wenn sie wegen einer Kleinigkeit hundertfünfzig Meilen fahren müsste. Da mir spontan aber nichts einfällt (ich war beim Packen wirklich sehr gründlich), beginne ich durch das Haus zu wandern und die Räume zu inspizieren.
Die Küche und das Wohnzimmer mit der Essecke kenne ich hinreichend, deswegen bleibe ich gleich im ersten Stock, wo es außer dem Bad und meinem Zimmer noch Laurens Schlafzimmer und so etwas wie ihr Büro gibt. Das Schlafzimmer ist der einzige Raum, der nicht einen gewissen Retro-Charme versprüht (wobei das Wort ‚Retro‘ in dem Fall viel zu schmeichelhaft klingt, das Haus ist eher ein buntes Sammelsurium uralter Möbel und gemusterter Tapeten aus längst vergangener Zeit).
Das Schlafzimmer aber ist in einem dezenten Grau gestrichen, ein weißes Boxspringbett nimmt einen großen Teil des Raumes ein und an den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotografien verschiedener Bauwerke, wobei ich nicht sagen kann, um welche Stadt es sich dabei handelt. Womöglich sind es auch verschiedene Städte. Auf den beiden Nachttischen stehen silberne Lampen, von deren Gestell Kristalle dicht aneinandergereiht herabhängen. Auf einem Nachttisch entdecke ich eine Fotografie von Lauren, Arm in Arm mit einer weißhaarigen, alten Dame. Sie sieht gelöst und glücklich aus, anders, als ich sie kenne. Die ältere Frau hat eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr.
An einer Wand steht noch ein weißer Schrank mit Schiebetüren. Ich bin versucht hineinzuschauen, aber ich scheue davor zurück, zu sehr in Laurens Privatsphäre einzudringen. Dieser Raum ist mit viel Liebe renoviert worden, im Gegensatz zu dem Rest des Hauses, das wirkt, als würde es jeden Moment auseinanderfallen.
Ganz anders als der Neubau, in dem wir wohnen und den Mum immer so sauber hält, als wäre er Dads Zahnarztpraxis, wo alles steril sein muss. Ich wünschte mir manchmal, Mum wäre ein wenig nachlässiger mit ihrer ewigen Putzerei. Sie geht mir damit ganz schön auf die Nerven. Aber ich muss gestehen, dass mir diese altmodischen, muffigen Möbel, die Lauren überall hat, und die verblichenen Tapeten, überhaupt nicht gefallen und ich mir unsere moderne Einrichtung herbeisehne.
Als nächstes schlendere ich in Laurens Arbeitszimmer. Es ist ein wenig, als würde man eine Zeitreise machen und fast erwarte ich, auf ihrem Schreibtisch eine Schreibmaschine vorzufinden, wie sie mein Dad im Keller zwischen vielem alten Krimskrams hat, den er seit dem Tod von Grandpa Bothwell bei uns hortet. Laurens Tisch sieht massiv aus und ist aus einem sehr dunklen Holz. In derselben Farbe gibt es außerdem noch ein paar Regale in dem winzigen Raum mit den hellgrünen Tapeten, auf denen riesige braune Kreise sind. Wenn ich sie länger anstarre, dreht sich alles um mich herum. Ich trete ans Fenster, von dem aus ich gestern Lauren und Kieran beobachtet habe.
Auf dem Schreibtisch liegen ein paar Papiere, einige Worte sind mit rotem Stift angestrichen oder ganze Passagen umrandet. Neugierig beuge ich mich darüber, in der Erwartung, einen Aufsatz vorzufinden, den Lauren noch nicht fertig korrigiert hat.
Seine Hand griff automatisch nach der ihren, als sie sein Kopfkissen aufschütteln wollte.
„Ich kann das selbst“, knurrte er unwirsch, fühlte ihre zarte Haut an seinen schwieligen Händen.
„Das gehört zu meinem Job“, antwortete sie ihm freundlich, aber bestimmt. „Und nun gehen Sie beiseite, Lieutenant Frakes.“
Er ließ ihre Hand nur widerwillig los und trat einen Schritt zurück, um sie ihre Arbeit tun zu lassen.
„Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand meine Kissen aufschüttelt“, bekannte Will. „Bei der Royal Navy gibt es niemanden, der das für mich macht.“
Danach ist ein ganzer Absatz durchgestrichen und ich lese nicht weiter. Mir ist klar, dass ich keinen Aufsatz über die Vor- und Nachteile des britischen Gesundheitssystems vor mir habe, aber was genau ich gelesen habe, weiß ich nicht. Ich habe so ein unangenehmes Gefühl, als würde ich meine Nase in Dinge stecken, die mich nichts angehen, also verlasse ich das Arbeitszimmer schnell wieder. Ich schnüffele nicht gerne in den Sachen anderer herum, denn man findet viel zu leicht etwas, was man nie finden wollte, wie ich sehr wohl weiß.
Weil das blöde Gefühl, etwas entdeckt zu haben, das nicht für mich bestimmt war, nicht weggeht, will ich jetzt nur noch hier raus, deswegen renne ich fast die Treppen hinunter und schlüpfe in meine Sneakers. Dann schnappe ich mir den Schlüssel, den mir Lauren gegeben habe und verlasse das Haus so eilig, als wäre ein Vampir hinter mir her. Nur leider nicht Stefan Salvatore, sondern sein böser Bruder Damon.
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