Die flüsternde Mauer. Manuela Tietsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manuela Tietsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753195094
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als hätte er sich verbrannt. Er sollte die Gedanken, die aufkamen, ersticken, noch bevor sie gedacht waren! Sie hielt seine Hände fest, wanderte an seinen Armen entlang bis zu seinem Gesicht und berührte es wie er, mit den Fingerspitzen.

      Seine Wangenknochen traten stark hervor, seine Haut wirkte ausgetrocknet und eingefallen. Seine Nase schien gerade und ebenmäßig. Ich wagte nicht seine Lippen zu berühren, die von einem zotteligen Bart umrahmt zu sein schienen. Das Ganze war schon viel zu innig. Wir kannten uns nicht einmal, und dass wir hier in dieser Lage zusammen feststeckten, durfte uns nicht zu Handlungen verleiten, die wir am Ende bereuten. Als hätten wir uns verabredet, rückten wir voneinander fort. Wir schwiegen, aber dieses Mal war die Stille unangenehm und bedrückend. Er räusperte sich.

      „Ich sucht weyter, wenn ihr wollet, könnet ihr gern noch sitzen bleyben.“

      Ich schüttelte den Kopf: „Nein, ich will nicht untätig herumsitzen.“ Ich erhob mich mit ihm.

      Erneut suchten wir jede Handbreite nach irgend einem Zeichen ab. Mir schien, wir suchten Stunden und am liebsten wäre ich einfach nur umgefallen und gestorben. Ich hatte keine Lust mehr. Niemals würden wir eine Möglichkeit finden und das ganze Gerede von Vorsehung war alles Quatsch. Ich stolperte hinter ihm her, ließ zwar meine Hände an der Mauer entlanggleiten, doch mit meinen Gedanken war ich weit fort. So weit fort. Mein Finger blieb an einer Ritze hängen.

      „Verdammt! Aua.“ Ich rieb mir den Finger.

      „Was habet ihr gefunden?“ Aufgeregt trat er zu mir.

      Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich eine Vertiefung gefunden hatte und anstatt meine Hand darauf liegen zu lassen, rieb ich mir blöde den schmerzenden Finger. Wenn wir es nun nicht wiederfanden?

      „Hier etwa, dort war ein Spalt, dem in der Wand ähnlich, in der die Falltür war.“ Vielleicht passte der Schlüssel auch hier herein?

      Er suchte meine Hand und ließ sich von mir die ungefähre Stelle zeigen.

      „Hier, ich hätt es gefunden.“

      Mein Herz klopfte schnell. Hatten wir einen Ausgang gefunden?

      „Es fehlet der Schlüssel!“

      Nein, der war da. Ich kramte ihn aus meiner Tasche. „Hier ist er.“

      Er nahm ihn mir aus der Hand und schluckte.

      Das, was sie ihm in die Hand gegeben hatte, war der eingefasste Zauberstein der Zauberin von Feuerberg. Wie kam sie daran? Hatte sie womöglich mit der Zauberin zu tun? War sie es am Ende selber, nur in Verkleidung? Nein, dann hätte sie ihm die Scheibe, die sie so unbedingt wiederhaben wollte, nicht gegeben! Diese Frau hatte nichts mit der von Feuerberg zu tun. Er spürte den Stein und die Holzeinfassung heiß in seiner hohlen Hand. Doch er wollte nicht weiter darauf achten. Dies war der Weg in die Freiheit. Die von Feuerberg musste diese Räume eigens erbaut, nein, erzaubert haben, sonst hätte der Scheibenschlüssel nicht gepasst oder hatte sie ihn einst gestohlen und war deshalb so verrückt hinter ihm her? Er wandte sich, seine innere Unruhe und Angst überwindend, der Wand zu.

      Ich hörte, wie er die Wand weiter absuchte und drückte oder zog. Plötzlich gab es ein klickendes Geräusch. Und es geschah nichts. Ich hörte das Geräusch erneut. Dann knirschte es in der Wand. Ein Schaben wurde laut und lauter und vor unseren Augen schob sich die Wand zuerst nach innen und dann zur Seite.

      Unauffindbar

      Luisa trank einen Schluck Fruchtwein. Sie fühlte sich schlecht. Leo legte seinen Arm um sie und tauschte einen Blick mit Mattes.

      „Morgen früh rufen wir die Polizei an, wenn sie bis dahin noch nicht zurück ist“, sagte Leo leise. Luisa war bedrückt. Sie kannte Alanis besser als er, und wenn sie der Meinung war, dass diese niemals einfach so verschwinden würde, dann wollte er es ihr auch glauben.Sie verstand auch nicht, weshalb sie nicht an ihr Telefon ging.

      „Ich werde noch einmal um die Burg gehen und den Hang absuchen“, warf Mattes ein. „Vielleicht kommen die anderen wieder mit.“

      „Meinst du nicht, das ist Aufgabe der Polizei oder irgendeiner Bergwacht?“, fragte Leo nach.

      „Viele Augen sehen mehr als wenige.“

      „Sie hat doch sonst niemanden. Ich hab schon überlegt, ob sie womöglich zu ihrer Brieffreundin nach Neuseeland geflogen ist?“

      „Dann musst du morgen mal beim Flughafen fragen.“

      „Hm, das hätte ich heute schon machen sollen.“

      „Und der Betrieb? Das Leben geht weiter.“ Leo glaubte trotz Luisas Versicherung nicht an einen Unfall. Alanis hatte sich einfach abgesetzt. Warum war ihm allerdings schleierhaft.

      „Du glaubst mir immer noch nicht?“ Luisa war gekränkt und enttäuscht von Leo.

      „Ich weiß auch nicht. Wir haben die Burg abgesucht, den Berg drumherum und sogar im Dorf haben wir gesucht.“

      „Und wenn sie irgendein Geisteskranker entführt hat?“

      „Dann bleibt nur die Polizei!“

      Luisa fröstelte. Wenn sie daran dachte, dass sich Alanis womöglich gerade in diesem Augenblick in den Händen eines geisteskranken Menschen befand und gequält wurde, wurde ihr flau im Magen. Aber sie wusste auch nicht, was sie noch unternehmen sollte. Inzwischen waren ein Tag und schon zwei Nächte fast vergangen.

      „Wir helfen ihr nicht, wenn wir morgen unausgeschlafen sind“, sagte Leo nachdrücklich.

      Luisa nickte. Sie erhob sich und ging zu ihrem Lager. Mattes stand zusammen mit Leo auf und tat es Luisa nach. Er fühlte sich wie ein Verräter.

      Nicht von dieser Welt

      Noch immer hüllte Dunkelheit uns ein. Mir schien sie jedoch nicht mehr ganz so finster wie in dem Raum. Ich langte nach seinem Arm. Meine Angst, er könnte mich hier zurücklassen oder aus irgendwelchen Gründen von mir getrennt werden, war zu groß. Befand sich dort hinter dieser Tür auch nur wieder eine Falltür? Ich klammerte mich an seinem Arm fest und spürte durch den löchrig, faserigen Stoff seines Ärmels, wie dünn er war. Er tastete sich weiter durch die Tür und an der Außenwand entlang. Wir gingen etwa zehn gefühlte Meter, als wir erneut auf Widerstand trafen. Ich hörte, wie herumtastete.

      „Eyne Tür“, sagte er erleichtert.

      Ich atmete ebenfalls befreit aus. Er drückte den Türgriff und sie öffnete sich, ganz leicht. Ich folgte ihm auf Schritt und Tritt ohne seinen Arm loszulassen. Wir traten in einen weiteren Gang, doch mit einem Mal konnte ich die Umrisse seines Körpers erkennen. Zu unserer Linken ließen Fenster das fahle Licht des Mondes herein. Es war also Nacht! Er drehte sich zu mir um und sah mich an. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, erst recht nicht seine Augen, doch ich wusste, er wollte sich nur vergewissern, dass er nicht träumte und tatsächlich Licht unsere Gestalten erkennen ließ.

      Am Ende des Ganges befand sich eine weitere Tür. Er wandte sich um und ging mit großen Schritten darauf zu. Auch diese ließ sich öffnen. Auf der anderen Seite erwartete uns die große Halle, durch deren viele Fenster noch mehr gebündeltes Mondlicht schien. So konnte ich mehr von ihm erkennen. Ich sah, dass er klapperdürr war. Seine Kleidung, die teuer und edel gewesen sein musste, schlackerte zerschlissen um seinen Körper. Sie sah aus, als fiele sie beim leisesten Windhauch in sich zusammen, als hätte sie Jahrhunderte in irgendeinem feuchten Keller gelegen. Hatte er Recht, wenn er behauptete, schon seit Wochen dort gefangen gewesen zu sein? Seine Haare hingen ihm wirr bis über die Schultern und sein Bart, den ich bereits gefühlt hatte, war ungepflegt und lang. Seine Haut wirkte so bleich wie die eines Toten und seine Wangenknochen traten stark hervor. Mit ein wenig Einbildungskraft hätte es auch ein Totenkopf sein können.

      Er wandte sich erneut um. Sie befanden sich in der großen Halle, doch alles wirkte fremd