Die flüsternde Mauer. Manuela Tietsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manuela Tietsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753195094
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wo sie suchen sollten. Schließlich war ich wie vom Erdboden geschluckt. Vermutlich glaubten sie, ich wäre zum Lager zurückgekehrt? Ich schloss die Lider, meine Beule pochte. Wenigstens war es keine Platzwunde. Ich war doch nicht zum ersten Mal hier in der Burg zu Besuch, ich war zu neugierig. Dieses Wispern hatte mich verrückt gemacht. Jedes Mal, wenn ich vor der Wand in dem Gang gestanden hatte, hörte ich es, wie ein Raunen. Selbst wenn ich zu Hause war, ließ mich das Flüstern nicht los, ich musste immerzu daran denken. Und warum nur zog mich diese Burg so stark an? Und warum diese Wand? Hätte nicht jemand anderes den Schlüssel finden können? Einer, der ihn brav zum Burgführer getragen hätte!

      Es gab viel schönere Burgen, weshalb wollte ich immer nur wieder hier her? Ich rieb meine Oberarme, wenn es nur nicht so kalt wäre. Mein Magen knurrte und ich hatte Durst. Wie lange musste ich wohl hier ausharren? Wann würden sie auf den Gedanken kommen, mich hier zu suchen? Mir blieb anscheinend viel Zeit zum Nachdenken! Würden sie womöglich niemals darauf kommen?

      Es war mir ein Leichtes im Geiste den Weg durch die Burg zu gehen. Ich lächelte, während mir die Tränen in die Augenwinkel schossen. Nie wieder würde ich mit meinen Eltern oder meinem Bruder diese Burg besuchen und auch keine andere mehr. Ich vermisste sie so sehr! Beinahe konnte ich die warme Hand meiner Mutter spüren oder die starken Arme meines Vaters.

      Ich hatte ihnen niemals von dem Ritter auf dem Bild erzählt oder von der flüsternden Mauer oder der merkwürdigen Holzscheibe, die sich als Schlüssel entpuppt hatte. Hätte ich es bloß getan, nun war es zu spät! Und trotzdem, jedes Mal, wenn ich hier herkam, führte mein Weg zuerst zum Bild des jungen Ritters ohne Namen und noch immer schien er mir etwas sagen zu wollen.

      Wahrscheinlich hatte ich mich schon im ersten Augenblick in ihn verliebt. So lächerlich das auch war, sich in das Bildnis eines Mann zu verlieben, der dazu noch in eigentümlicher mittelalterlicher Art gemalt war. Er war schon seit Jahrhunderten tot. Hatte vermutlich niemals wirklich gelebt. Ich war ein verträumtes, sehr junges Mädchen mit verklärten Vorstellungen gewesen. „Ritter ohne Namen“ war der Titel unter dem Bild. Seltsam, ich konnte mir dieses Bild so genau ins Gedächtnis rufen, als stünde ich vor ihm. Der Ritter ohne Namen hatte dunkelrotbraune Haare und grüne Augen. So grün, wie ich niemals zuvor Augen gesehen hatte. Sicher hatte sich der Maler daran ausgetobt, niemand konnte in Wahrheit so grüne Augen haben. Der Ausdruck des Ritters war das schlimmste an dem Bild. Er sah so traurig aus, als trüge er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern. Und jedes Mal, wenn ich von dem Bild fortging, hatte ich das schreckliche Gefühl, ihn, den Ritter ohne Namen, zu verraten! Lächerlich, ich kannte ihn nicht einmal und er hatte sicher zu einer Zeit gelebt, von der ich nur träumte.

      Inzwischen war ich nicht mehr verträumt, sondern abgeklärt und trotzdem lief es mir heiß den Rücken hinunter und Schmetterlinge tanzten in meinem Bauch, wenn ich in die gemalten Augen des Ritters blickte. Wie gut, dass ich den geheimen Gang nicht schon damals entdeckte, hatte wahrscheinlich wäre ich gleich gestorben vor Angst.

      Ich war müde, nicht müde genug allerdings, um schlafen zu können. Und mit meinen Gedanken trieb ich die Angst vor dem Eingesperrtsein nicht davon, ich drängte sie nur zur Seite. Mir fiel ein, die Mitte des Raumes hatte ich noch nicht erkundet. Vielleicht war ja keine zwei Meter von mir entfernt eine Treppe oder ein Aufgang? Vorsichtig schob ich mich von der Wand weg, immer die Hände suchend und den Boden abtastend nach vorn gestreckt. Es dauerte nicht lange, bis ich auf die Wand gegenüber stieß. Es gab nichts in der Mitte, außer Leere. Ich konnte doch nicht so untätig darauf warten, dass sie mich suchten und hoffentlich fanden! Ich musste etwas unternehmen. Aber was? Ich beschloss, wieder in den anderen Raum zu gehen und auch diesen einmal zu durchkreuzen. Schritt für Schritt ging ich den Gang wieder zurück.

      Als ich gefühlt etwa die Hälfte erreicht hatte, hörte ich es wieder, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Da war es wieder, das Flüstern. Es war ganz deutlich wie bei meinem ersten Besuch in der Burg. Ich zitterte, kroch dennoch näher an die Wand, von wo ich das Flüstern zu hören glaubte. Es hörte sich unglaublich leidend an. Und so unerwartet, wie ich es hörte, war es auf einmal wieder weg. Ich lehnte mich an die Wand. Ich würde durchdrehen, noch bevor ich verhungerte oder verdurstete, soviel war sicher. Ich wandte mich um, der Mauer zu und legte die Hand tastend darauf. Als meine Finger über die kühlen Steine und die Fugen wanderten, spürte ich, wie sich der Mörtel löste. Leise fiel er bröckelig auf den Boden. Mein Herz begann zu rasen. War hier eine lockere Stelle? Ein Ausgang oder wenigstens die Gelegenheit, Hilfe zu rufen? Lose Steine! Das konnte meine Rettung sein. Befand sich auf der anderen Seite der Gang in die Freiheit?

      Ich begann mit den Fingern den feucht krümeligen Mörtel fortzukratzen. Das Gefühl war schaurig und trieb mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Ähnlich einem Fingernagel, der über eine Tafel kratzt. Doch das Geräusch des herunterfallenden Mörtels gab mir andererseits auch Hoffnung. Meine Fingerspitzen taten schon nach kurzer Zeit furchtbar weh. Da erst fiel mir mein Taschenmesser ein, mit ihm würde ich es leichter haben. So kratzte und kratzte ich, bis schließlich der erste Stein so locker war, dass ich ihn herausziehen konnte. Er war schwer und fiel mir beinahe aus den schmerzenden Händen. Ich tastete mich nach vorn an das entstandene Loch im Mauerwerk. Mutig trotzte ich meiner Angst und schob die Hand hinein. Was würde ich auf der anderen Seite finden? Rettung? Einen weiteren Gang?

      Meine Enttäuschung war riesig. Es hatte nichts gebracht. Hinter der Mauer war noch eine. Wie viele Steine musste ich wohl herauskratzen, bevor ich Rettung fand? Es war hoffnungslos. Ich ließ mich an der feuchten Wand heruntergleiten und blieb sitzen. Ich konnte nichts gegen die Tränen tun. Ich war so enttäuscht. Alles umsonst, die Arbeit, die Schmerzen! Na und! Ich spürte den Trotz in mir wachsen. Na und, ich hatte heute nichts Besseres vor, oder? Ich schniefte, während ich aufstand. So schnell würde mich so eine blöde Wand nicht fertigmachen. Ich schabte weiter! Und schabte und kratzte und schabte und hob schwere Steine aus der Wand. Nach dem siebten schien mir das Loch groß genug, um an der Mauer dahinter weiter zu kratzen. Ich tastete mich durch das Loch und befühlte die zweite Mauer. Sie schien frischer, fester als die erste. Womöglich würden mir eher der Schlüssel und die Finger brechen, als dass ich dort auch nur einen einzigen Stein lösen könnte? Es half nichts, ich hatte keine Wahl. Ich war mir sicher, keiner kannte den geheimen Gang, den ich durch meine Neugier und mit Hilfe der Holzscheibe entdeckt hatte. Dass ich es gewesen war, welche diese seltsame Scheibe, diesen Schlüssel, gefunden hatte, nach all den Jahren, die sie dort vermutlich gelegen hatte, grenzte schon an ein Wunder. Ich würde hier verrotten, wenn ich mir nicht selber half.

      Ob meine Finger schon blutig waren? In der Dunkelheit konnte ich das nicht sehen, und das war gut so. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich den ersten Stein soweit gelockert hatte, dass ich ihn ein wenig, eine Winzigkeit bewegen konnte. Gleichwohl bewegte er sich und das gab mir erneut Hoffnung. Die aufkommenden Ängste überging ich tapfer und kratzte immer weiter und weiter. Nach einer Ewigkeit schaffte ich es tatsächlich den Stein herauszuziehen. Ich spürte trotz des Schlüssels meine Finger kaum noch. Müde ließ ich den kleineren Stein fallen und setzte mich gleich daneben. Ich wollte schlafen und zu Hause wieder erwachen. Ein böser Traum hatte Besitz von mir ergriffen und schien sich über mich lustig zu machen. Ich versuchte, mich auszuruhen und Kraft zu tanken und vermied an irgendetwas anderes zu denken, als daran, Steine aus Mauern zu lösen. Ich holte meine Wasserflasche und trank langsam ein paar Schlucke. Wer wusste schon, wann ich wieder an Wasser kam? Ich holte die Brottüte hervor und starrte ins Dunkle, eigentlich auf meine Hände. Hatte ich heute Morgen schon eine Ahnung gehabt oder weshalb hatte ich mir Brote geschmiert? War der Hunger schon so groß oder sollte ich lieber warten. Ich holte umständlich, ohne zu sehen, eine Klappstulle heraus und verstaute die restlichen wieder im Rucksack. Jeden Bissen kaute ich bedächtig. Schließlich fühlte ich mich wieder fähig, weiter zu arbeiten und stand auf. Viel Zeit verging, bis ich einen zweiten – und endlich auch einen dritten Stein hatte heraushebeln können. Ich versuchte nicht daran zu denken, wie viele Steine ich herausholen musste, um mir ein Loch zu schaffen, durch das ich hindurchpassen würde.

      Ich machte mich daran auch den vierten Stein zu bearbeiten, als mich ein schreckliches Gefühl beschlich. Ich war nicht mehr allein im Raum. Jemand oder etwas stand in meiner unmittelbaren Nähe. Und warum war ich darüber nicht glücklich? Schließlich bedeutete dies, dass einer von dem Gang wusste und ich hier herauskam. Doch die Freude darüber wollte sich nicht