Die flüsternde Mauer. Manuela Tietsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manuela Tietsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753195094
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zu lange nicht sehen dürfen. Sie war noch nicht sehr alt, um die zwanzig, wie er sie eingeschätzt hatte. Sie trug ein dunkelrotes Leinenkleid, welches ihre schmale Körpermitte zeigte und umschmeichelte. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten. Sie sah ihn ebenso beobachtend an wie er sie. Er musste sich gewaltsam von ihrem Blick lösen. Er sah sich in der Halle um. Nichts war, wie er es kannte. Eigenartiger Hausrat stand darin und neben der Eingangstür stand eine Art Hütte. Er sah sie wieder an.

      „Was sey hier geschehen?“

      „Was meinst du?“

      „Wo seyn die Menschen, die hier lebten, woher kommt dieser seltsame Hausrat?“

      Ich wusste beim besten Willen nicht, was er meinte. Kopfschüttelnd sagte ich: „Hier hat sich nichts verändert, seit Jahren nicht und ich komme schon lange her.“

      „Seyt Jahren?“ Er schien verwirrt. „Aber die Menschen?“

      „Hier wohnt niemand mehr. Am Tage kommt ein Burgführer und führt die Besucher herum und im Kassenhäuschen,“ ich zeigte hin, „sitzt eine Frau und sammelt das Eintrittsgeld ein oder verkauft Fotos und Kram.“

      Er sah mich entgeistert an. Obwohl ich seine Augen nicht deutlich erkennen konnte oder seine Gesichtszüge, erkannte ich doch ein gewisses Entsetzen. Was verwirrte ihn denn so? Ich konnte mir das nicht erklären. „Hier wohnt schon seit mindestens fünfzig Jahren keiner mehr!“, sagte ich noch einmal mit Nachdruck.

      Er erwiderte nichts, sah mich nur eindringlich an, als könnte er trotz des schlechten Lichtes in meinem Gesicht lesen, ob ich die Wahrheit sagte.

      „Lass uns zum Eingang gehen, möglicherweise ist die Tür nicht verschlossen?“ Ich löste meine Hand endlich von seinem Arm, auch wenn ich es nicht gern tat, so schien es mir im Augenblick unangebracht, ihn weiter festzuhalten. „Komm“, forderte ich ihn noch einmal auf und ging vor.

      Er folgte mir wie ein Schlafwandler bis zur Eingangstür. Ich drückte die Klinke herunter, doch die Tür blieb verschlossen. Wir mussten also den Rest der Nacht weiter in der Halle oder einem anderen Raum der Burg verbringen.

      „Wir könnten in den Gang gehen, wo die Bilder hängen.“

      Er schüttelte den Kopf, sah dabei stur nach draußen.

      „Oder wir suchen uns zwei Betten?“

      Er starrte noch immer in Richtung der Fenster.

      „Es gäb hier nur eyn richtiges Bett, und das wär das Hochzeytsbett in der Hochzeytskammer.“

      „Hm.“ Ich hatte es noch nie gesehen. Aber irgendwie wollte ich ihm das nicht sagen, denn ich gewann den Eindruck, es würde ihn noch mehr verwirren.

      Er ging mit weit ausholenden Schritten zu den Fenstern und schaute nach draußen in den Burghof.

      Ich folgte ihm, obwohl ich mich am liebsten geradewegs hier auf den Boden gelegt hätte, um zu schlafen.

      „Ich könnt nichts wiedererkennen. Wie könnt sich eyne Burg so schnell verändern und wo seyn die Bewohner hin?“

      „Ich weiß nicht, ich kann nur sagen, ich habe die Burg noch nie anders gesehen.“

      Er sah mich erneut an und da er so nahe am Fenster, und im Licht des Mondes stand, bekam ich einen Eindruck von der tiefgrünen Farbe seiner Augen. So grüne Augen hatte ich noch niemals bei einem Menschen gesehen. Hingerissen starrte ich ihn unhöflich an. Er schien meinen Blick jedoch gar nicht wahrzunehmen, weil seine Gedanken offensichtlich noch immer um die angebliche Veränderung der Burg kreisten. Ich riss meinen Blick los und sah mich in der Halle um. In einer Ecke standen einige Bänke, die wohl zu Tafeleien gebraucht wurden. Ich berührte ihn leicht am Arm und zeigte zu den Bänken.

      „Sollten wir uns nicht noch ausruhen? Ich lege mich auf eine der Bänke.“ Ich beachtete ihn nicht weiter und ging zur Bank. Es sah nicht sehr behaglich aus, aber wenigstens lag ich so nicht auf dem kalten Boden. Ich streckte mich darauf aus, behielt ihn aber im Blick. Er stand noch immer am Fenster und schien wie versteinert. Plötzlich kam Leben in ihn. Er kam eilig zu mir.

      „Ich streyfe noch eynmal durch die Burg.“

      Ich nickte. Um mitzugehen, war ich zu müde. Ich hoffte, er würde nicht auch in eine Falltür tappen. Ich musste dem Führer unbedingt davon erzählen, falls noch mal jemand verschwand.

      „Wenn du nicht wiederkommst, sehe ich in dem Raum nach!“, sagte ich halb scherzend. Er lachte nicht mit, sondern machte sich schon auf den Weg. Eine Weile hielt ich die Augen offen und wartete, ob er nicht doch zurückkehrte, doch meine Lider wurden immer schwerer und schließlich gab ich meinem Schlafbedürfnis nach.

      Ein Kitzeln an der Nase weckte mich. Es war die Sonne, die durch die Fenster strahlte, beziehungsweise eigentlich der Staub, der in der Luft herumwirbelte und durch das Sonnenlicht sichtbar wurde. Einen Augenblick wusste ich nicht, wo ich war, doch dann fiel mir alles wieder ein. Ich richtete mich jäh auf und sah mich um. Wo war er?

      Er saß zusammengesunken auf einer der Bänke und hatte den Kopf schwer in seine Hände gestützt. Schlief er? Ich stand auf, streckte mich und ging herüber zu ihm. Einen Augenblick beobachtete ich ihn und begutachtete im Sonnenlicht sein zerschlissenes Gewand und sein ungepflegtes Äußeres. Einige seiner Nägel hatte er sich offensichtlich bei unserer Kratzerei abgebrochen, die anderen waren noch lang und krumm. Ich wagte einen kurzen Blick auf meine eigenen Finger und Nägel. Sie hatten wohl tatsächlich geblutet und die Haut sah zerschunden aus. Ich versuchte den Schmerz, der durch das Hinsehen stärker geworden war, mit Nichtachtung zu strafen und wandte mich wieder an den verzweifelt wirkenden Mann vor mir. Ich legte meine Hand auf seine Schulter.

      „He, bist du wach?“

      Er hob den Kopf und sah mich mit seinen grünen Augen an. Sie waren verquollen, als hätte er lange geweint.

      „Alles in Ordnung? Jetzt kommen wir bald raus.“

      Er schüttelte den Kopf. „Es wär besser gewesen, wenn ihr mich nie gefunden hättet!“

      „Dann wärst du gestorben. Du siehst doch jetzt schon aus wie eine Leiche.“

      „Nichts sey wie es gewesen und niemand sey hier, den ich kenne.“

      „Vermutlich im Dorf?“

      „Ich wollt die Burg nicht verlassen!“

      „Das musst du aber, sei denn du bist der Besitzer.“

      „Das sey ich.“

      „So? Und warum hast du dann keinen Schlüssel?“

      Er schüttelte den Kopf. „Ich gehe zur Nachbarburg herüber und wollt fragen was geschehen sey.“

      Ich schüttelte den Kopf. „Die Burg, die du meinst, steht nicht mehr. Sie ist eine Ruine.“

      „Eyne was?“

      „Es stehen nur noch ein paar Mauern.“

      „Und die Menschen?“

      „Da lebt keiner mehr.“

      „Wer hätt sie denn zerstöret?“

      Ich zuckte die Schultern und sagte leichthin: „Die Zeit und Kriege, keine Ahnung.“ Ich sah ihn an. Er wurde leichenblass.

      „Die Zeyt?“, fragte er wispernd. „Das müsst viel der Zeyt gewesen seyn, seyt ich die Burg das letzte Mal gesehen hätt.“

      „Du meinst, als du das letzte Mal die Nachbarburg gesehen hast, war sie noch heil?“

      Er nickte heftig. „Natürlich.“

      „Natürlich!“, äffte ich nach. „Weißt du, seit wann die Burg eine Ruine ist? Soweit ich weiß, seit mindestens vierhundert Jahren.“ Ich sah ihn strafend an. Er sollte nicht glauben, dass ich völlig bescheuert war.

      Ein Geräusch an der Eingangstür ließ uns aufhorchen. Jemand schloss auf. Endlich. Ich konnte es kaum erwarten hier raus zu kommen und ein schönes Frühstück zu mir