Die flüsternde Mauer. Manuela Tietsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manuela Tietsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753195094
Скачать книгу
sein könnte, machte er sich darüber her. Er begann mit dem Wasser. Jeder Schluck lief durch seine Kehle und schmeckte köstlich, wie der beste Wein, den er jemals getrunken hatte. Dort lagen auch Brot, seltsame Früchte und Gemüse. Bedächtig aß er ein Stück von diesem und eines von dem anderen, bis er glaubte platzen zu müssen, dabei hatte er noch nicht viel zu sich genommen. Doch durch die erzwungene Fastenzeit musste er vorsichtig mit seinem Magen umgehen. Würde er seiner Gier, seinem Hungergefühl nachgeben, er würde hinterher die größten Schmerzen bekommen, also beherrschte er sich.

      Schließlich widmete er sich erneut der Kleidung. Sie hatte ihm ein Untergewand aus feinem Leinen, eine seltsame Leinenhose und ein edles Obergewand, das von einem teuren Zierband umsäumt war, hingelegt. Die Kleidung war nicht, wie er sie gewohnt war, doch auch nicht völlig fremd. Er zog mit steifen Fingern sein eigenes Gewand aus und kleidete sich neu ein. Mit den Händen strich er den Leinenstoff aus. Seine Kleidung lag halb in Fetzen zerrissen auf dem Boden. Er nahm seinen eigenen Gürtel und seinen Dolch, gürtete sich und strich sich durch den zotteligen Bart. Er musste aussehen wie ein Wilder! Dass sie ihn so fraglos mitgenommen hatte und sich seiner annahm, musste er ihr hoch anrechnen. Absichtlich schob er die aufkommenden Ängste und Gedanken an die seltsame Welt dort draußen zur Seite. Er hatte keinerlei Ahnung, was geschehen war. Nachdem die Dame von Feuerberg ihn eingemauert hatte, war er, als die Angst besiegt und der erste Schreck verflogen waren, in einen seltsamen Schlaf gefallen. Dieser Schlaf hatte ihn die Umwelt wahrnehmen lassen, ohne jedoch in irgendeiner Form Verbindung mit einem Menschen aufnehmen zu können, der ihm hätte helfen können. Er war gefangen in seinem Körper und in einem engen Mauerzwischenraum hinter dicken Steinen. Bis zu dem Tag, als er das tiefe Mitgefühl spürte, als ein Mensch vor der Wand gestanden und an ihn gedacht hatte. Mittlerweile vermutete er, dass es sich bei diesem Menschen um Alanis gehandelt haben musste. Er wusste noch, ganz versteckt in den Tiefen seines Gedächtnisses, dass er um Hilfe gerufen hatte. Er hatte seine um Hilfe suchenden Gedanken in die Welt hinausgeschickt, durch die dicken Steine der Mauer hindurch. War sie deshalb durch die Falltür gefallen? Er war aller klaren Sinne beraubt worden. Wie lange war er dort in der Gruft eingesperrt gewesen? Er hatte keine Ahnung, ob es sich um Wochen, Monate oder gar Jahre gehandelt hatte. Doch Alanis Einwand, er wäre dann längst gestorben, war nicht von der Hand zu weisen. Er zog seinen Dolch aus der Scheide. Die Klinge hatte arg unter dem Mörtel gelitten, doch vielleicht schaffte er es seinen Bart zu stutzen? Mühselig versuchte er die Barthaare zuerst zu kürzen und dann den Rest zu stutzen. Doch die Klinge war zu stumpf, der Bart zu verfilzt und er viel zu dünn und knochig. Er war versucht den Dolch in die Ecke zu schmeißen. Er straffte die Schultern, schob den Dolch zurück in die Scheide und machte sich auf den Weg zum Zelteingang. Würde er Alanis finden?

      Erneut mussten sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnen, ehe er einen Blick rundherum wagte. Ein Lager aus Zelten und allerlei Leuten bot sich ihm dar. Unter einigen Zeltvordächern saßen Frauen, Männer und Kinder und aßen. Andere liefen schwatzend und scheinbar ziellos über den Platz. Wo war sie? Er suchte mit den Augen die Menschengruppen ab, doch er konnte sie nicht entdecken. Sollte er wirklich die vermeintliche Sicherheit des Zeltes verlassen und nach ihr suchen? Würde er im Notfall dieses Zelt wiederfinden? Womöglich hatte sie ihn ja auch in der Absicht zurückgelassen, niemals zu ihm zurückzukehren? Der Gedanke ängstigte ihn. Besser, er versuchte sich den Weg zu merken und sie zu finden.

      Er folgte dem breiten Weg, auf dem die meisten Menschen zielstrebig in eine Richtung gingen. Unter seinen verzottelten Haaren versteckte er seine beobachtenden Blicke. Wahrscheinlich träumte er die ganze Zeit nur wieder einen seiner grausamen Träume, die ihm die Zauberin von Feuerberg geschickt hatte. Ein Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gab. Er lief hinter den anderen Menschen her, bis er zur Schranke kam. Der Torwächter winkte ihn durch, er brauchte sonderbarerweise keinen Wegezoll zu verrichten, so wie all die anderen Menschen, die durch die Absperrung wollten. Als er den Wächter fragend anblickte, sagte dieser:

      „Seid gegrüßt. Gewandete kommen umsonst herein, das wisst ihr doch?“

      Er wusste es nicht, aber er war froh von Alanis Kleidung geliehen bekommen zu haben, denn hätte er nackt hier gestanden, wäre er womöglich nicht hereingekommen. Seltsame Sitten gab es hier. Die Gasse, die von der Schranke zur Burg heraufführte, war gesäumt von Zeltständen in denen allerlei Waren feilgeboten wurden. Solch eine große Ansammlung von fahrenden Händlern hatte er noch niemals gesehen und solch bunte und eigenartige Waren ebenfalls nicht. Und noch etwas war höchst merkwürdig; die Händler trugen Kleidung, wie er sie kannte, mehr oder weniger, doch die Käufer trugen völlig andere Kleidung. Die meisten Frauen trugen Beinkleider und teilweise so eng, dass er ihre Körper nicht nur erahnen musste, sondern auf das Deutlichste erkennen konnte. Sie zeigten mehr als sie verhüllten. Sie trugen ihre Haare oft kurz, höchstens bis zur Schulter, die Männer meist kurz geschoren. Zwischen all den eigenartigen Leuten liefen auch immer mal wieder Menschen in vertrauter Kleidung. Er konnte spüren, wie sich sein Körper gegen all das wehrte und schwächelte. Was machte er sich Sorgen, es war ja doch nur ein Traum!

      Vor der Schmiede machte er Halt. Er beobachtete, wie der Schmied ein glühendes Stück Metall verarbeitete. Der aufsteigende Geruch des heißen Eisens und des Rauches stiegen ihm in die Nase. Ihm wurde übel. Wo war denn bloß seine Rettung? Wo war Alanis? Bevor ihm schwarz vor Augen wurde, legte er seine Hand in den Nacken und schloss die Lider. Er ging einige Schritte von der Schmiede weg und atmete tief durch. Schnell wurde es besser. Die Eindrücke überwältigten ihn. Er guckte über den Platz. Zelt an Zelt und Mensch an Mensch waren zu sehen. Er befand sich im äußeren Burghof. Besser weitergehen und sie suchen, nicht nachdenken. Er ließ seine Beine einfach laufen, ohne ein Ziel vorzugeben.

      Schließlich entdeckte er sie. Sie nahm gerade ein blaues Kleid vom Haken eines Zeltes, in dem sie stand. Sie gab es einer anderen Dame, die damit nach hinten ins Zelt ging. Alanis blickte unerwartet in seine Richtung und entdeckte ihn. Lächelnd hob sie den Arm und winkte ihn heran. Nur zu gern nahm er ihr Angebot an. So hatte sie ihn doch nicht zurückgelassen. Warum stand sie hier unter den Händlern und verkaufte Waren? Sie sah doch eher aus wie eine Edeldame. Er näherte sich dem Vordach, versuchte sich durch die Menschenmassen zu drängen. So viele Menschen hatte er bisher nur auf den allergrößten Turnierplätzen erlebt. Gab es hier auch ein Turnier? Er drängte sich weiter, spürte, wie ihn die Kraft verließ und er nun doch drohte ohnmächtig zu werden. Welch eine Schande! Er schaffte die letzten Schritte und konnte in ihren Augen erkennen, dass sie sich Sorgen um ihn machte und ihm ansah, wie er sich fühlte.

      „Du bist ganz blass, komm setz dich hier hin.“ Sie schob ihn unter das Vordach und drückte ihn auf einen Schemel. Dann reichte sie ihm einen Becher mit Wasser, vom Warentisch. „Trink was.“ Sie wandte sich zu einer Frau um, die etwas fragte, sah aber noch einmal kurz zu ihm: „Entschuldige, ich komme gleich wieder.“

      Sie widmete sich der Frau. Er versuchte wieder Herr seiner Sinne und seines Körpers zu werden. In was für einer seltsamen Welt war er gelandet? Entsprang das alles nur seiner Einbildung? Wenn er wirklich und leibhaftig hier herumlief, weshalb traf er dann keinen einzigen Menschen aus seiner Verwandtschaft? Keine Bediener, Knechte oder Mägde? Wie viel Zeit hatte er in seinem Verlies verbracht? Hatte ihn die Zauberin von Feuerberg auf Lebzeiten nicht nur eingemauert, sondern auch seiner klaren Sinne beraubt? Welcher Fluch lastete auf ihm? Er sah seine knochige Hand an, die noch immer den Becher hielt. Wie lange brauchte ein Mensch, bis er so heruntergekommen war wie er jetzt? Er konnte sich nicht erinnern und das machte ihm Angst. Am Anfang hatte er noch versucht die Zeit zu messen, doch irgendwann hatte er die Geräusche nicht mehr wahrgenommen und jegliches Gefühl verloren. Er war vollkommen auf die Hilfe dieser freundlichen Frau angewiesen, das musste er sich eingestehen. In seinem Zustand könnte er nicht einmal einen Kampf ausfechten. Er musste aufhören sich den Kopf zu zermartern, das führte zu keinem Ergebnis, außer, dass in ihm noch mehr Angst aufstieg.

      Um sich abzulenken, beobachtete er Alanis. Sie redete mit ihren Käuferinnen und Käufern und manch ein Gewand schien den Besitzer zu wechseln. Hatte sie diese ganzen Gewänder genäht? Sie sah nicht aus wie eine Handwerkerin, sondern vielmehr wie eine Dame vom hohen Stand. Ab und zu sah sie zu ihm herüber und lächelte ihn an, sehr herzlich, fand er. Er lehnte sich an den Stützpfeiler, der hinter ihm stand und ruhte sich aus. Er kam sich vor wie sein eigener Urgroßvater. Nein, wahrscheinlich fühlte selbst der sich nicht so schlecht